Winfried Glatzeder

mit Manuela Runge

Paul und ich

Autobiographie

Aufbau Digital

Impressum

ISBN 978-3-8412-0786-9

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Februar 2014

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2008 bei Aufbau, einer Marke der

Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

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Umschlaggestaltung Gundula Hißmann

unter Verwendung eines Motivs von defd.

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig, www.le-tex.de

www.aufbau-verlag.de

Für Marion, der nach vierzig Jahren noch immer nicht der Geduldsfaden gerissen ist, und für meine Söhne Michael, Robert und Philip.

Inhaltsübersicht

Cover

Impressum

I

Vorspiel im Hinterland

Privilegiert unter roten Fahnen

Es waren zwei Mütter

Kopf im Gasherd – das Schreckensjahr

Holzbein, Päderast und Glasauge – meine potentiellen Väter

Der Kater auf dem heißen Blechdach

Was die Ossis im Westen wollten und die Wessis im Osten

VEB Kühlautomat oder Wie mich die Arbeiterklasse auf die Bühne triebc

II

Flucht ins Abenteuer

Retter in höchster Not

Rosskur Provinz

Über den Mut zur Feigheit

Man nennt mich Belmondo

Die Frau meines Lebens

Freud und Leid eines Hauptdarstellers – »Zeit der Störche«

»Der Mann, der nach der Oma kam«

Vom »Unruhestifter« zum »Liebling« – oder wie die Stasi mein Regisseur zu werden versuchte

III

Steil nach oben – als Flieger Yang Sun an der Volksbühne

Die Legende von Paul und Paula

Der Traum vom Glück

Till, der Anarchist

»Wie es euch gefällt«

Anfang vom Ende

Versuch, ein Experimentiertheater zu gründen

Am seidenen Faden

Es war einmal an der Volksbühne

Neue Heimat DEFA

Die Legende vom Glück hat ein Ende

»Einverstanden! E. H.«

IV

Ost-West-Gefälle

Vom Regen in die Jauche

Einladung nach Hollywood

Ein ungleiches Team

Traumrollen am Düsseldorfer Schauspielhaus

Heimkehr des verlorenen Sohnes

Versuchskaninchen Kommissar Roiter

V

Subversiv mit Knoblauch

»Pension Schöller« – eine wahre Tragödie

Kleine Eheverbrechen

Ein selbstmörderisches Abenteuer

Das Gespensterschiff

Einladung zu meiner vorgezogenen Beerdigung

Anhang

Bühnenverzeichnis

Filmographie

TV (Auswahl)

Bildteil

Bildnachweis

Dank

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

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I

Vorspiel im Hinterland

Ich wurde auf einem kurzen Fronturlaub gezeugt, zwischen zwei Schlachten in einer heißen Julinacht 1944 irgendwo zwischen Danzig und Lemberg. Auf dem knarrenden Eisenbett einer schmuddeligen Pension voller erschöpfter Soldaten und deren hübsch gemachter Frauen sollte hier mit höchstwehrmachtlicher Erlaubnis der Nachwuchs für das siegreiche »Dritte Reich« produziert werden. Wo Ellen, so hieß meine Mutter, diesen kuriosen Bayern namens Franz, den ich nie zu Gesicht bekam, kennengelernt hatte, verschwieg sie mir ein Leben lang. Von meiner Großmutter, die ebenfalls Ellen hieß, erfuhr ich, Franz hätte ein paar Semester Medizin studiert, danach jahrelang einen Grafen um die Welt begleitet, bevor er als Handelsvertreter für Miederwaren kreuz und quer durch Deutschland reiste und sie den aus dem Leim gegangenen Müttern des »Dritten Reiches« auf Märkten und vor Apotheken aufschwatzte. Irgendwann muss er auch in das mondäne Ostseebad Zoppot bei Danzig gekommen sein, wo der Einundvierzigjährige auf meine Mutter Ellen traf.

Ellen, damals zwanzig Jahre alt, war die Tochter des stadtbekannten Bauunternehmers Gustav Adolf Werner und machte eine Lehre als Handweberin. Sie hatte es nicht leicht, da sie wegen ihrer jüdischen Herkunft vorzeitig das Gymnasium verlassen musste und in dem abgedunkelten Hinterraum einer Ladenwohnung ihre im Sterben liegende jüdische Großmutter pflegte, die sich hier vor dem ständig drohenden Abtransport ins KZ versteckt hielt. Und zu Hause hatte sie ihre liebe Not mit einer temperamentvollen Mutter, die viel redete und noch mehr schimpfte, denn die Nazis hatten die Freie und Hansestadt Danzig mittlerweile fest im Griff und damit ihr Leben zerstört – ein Leben voller Abenteuer, in dem sie als Frau eines der Honoratioren der Stadt festliche Empfänge und Hausmusikabende gab und auch einen Hausfreund halten durfte (ihr Mann, mein Großvater Gustav Adolf, hatte schließlich auch immer eine Geliebte). Nun verstaubte die Geige auf dem Schrank, und ihr Hausfreund wagte sich nicht mehr zu ihr, denn die Nazis hielten nicht viel von außerehelichen Eskapaden. Den Frust darüber bekamen meine Mutter Ellen und ihre zwei Brüder ab.

Ich stellte mir oft vor, wie die einen Meter achtzig große Ellen eines Tages vor der Apotheke den charmanten Trikotagenvertreter Franz mit den auffallend abstehenden Ohren erblickt, der sich die Seele aus dem Leibe redet, um so viel wie möglich von seinen fleischfarbenen Waren loszuwerden; der, wie ein Zauberer das Kaninchen aus dem Zylinder, aus dem Musterkoffer die Korsetts, Bandagen und Stützbänder hervorzieht und wieder verschwinden lässt. Wie er kurz innehält, weil sein Blick auf meine Mutter fällt, die eigentlich Medikamente für ihre Großmutter besorgen soll, wie er seine Vorführung schnell zu Ende bringt und sie sofort auf ein Eis einlädt.

Mein späterer Vater hatte Erfahrung im Umgang mit jungen Mädchen. Als er erfuhr, dass meine Mutter zudem eine gute Partie war, fackelte er nicht lange und hielt um ihre Hand an. Vermutlich ahnte er, dass seine Gene in den bevorstehenden Schlachten verlorengehen könnten, denn kurz darauf wurde sein »unabkömmlich« annulliert, und er musste an die Ostfront. In der Familie lobte man seine Geschäftstüchtigkeit, denn bei seinen wenigen Heimaturlauben brachte er mal eine lebendige fette Weihnachtsgans, ein andermal einen kostbaren russischen Pelzmantel mit.

Trotz des erbitterten Widerstandes ihrer Eltern wollte Ellen ihre erste und einzige Liebe unbedingt heiraten und setzte sich, starrköpfig wie sie war und ihr Leben lang bleiben sollte, auch durch. Im Kriegsjahr 1942 fand die Hochzeit statt. Die Mutter meines Vaters, die als Kellnerin in einem Münchner Biergarten arbeitete und deren zwei uneheliche Söhne verschiedene Väter hatten, wurde zur Hochzeit nicht eingeladen – die immer näher rückende Front und der weite Weg von Bayern nach Westpreußen waren eine gute Ausrede.

Die Nacht meiner Zeugung war zugleich die letzte Begegnung meiner Eltern. Kurz nach dem Treffen wurde mein Vater von den Russen gefangen genommen und in einem langen Marsch gen Osten von einem Lager ins andere deportiert. Dabei gelang ihm zwar die Flucht, doch er kam unglücklicherweise nur bis zur polnischen Grenze. Dort schnappten ihn die Russen erneut und steckten ihn zur Strafe in einen Keller, wo er 1944 jämmerlich erfror. Das Weihnachtsgeschenk des Roten Kreuzes an meine Mutter, deren Bauch sich bereits mächtig wölbte, als sie die Todesnachricht erhielt, war eine halbe Blechmarke – das Einzige, was von meinem Vater blieb. Keinem anderen Mann (außer mir) gelang es später auch nur annähernd, einen Platz in ihrem Herzen zu erobern, der dem meines Vaters vergleichbar gewesen wäre. Und so blieb ihre Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe bis zu ihrem Tod unerfüllt. Franz war und blieb der ideale Gatte für sie. Wenn auch vielleicht nur, weil sie nie Zeit gehabt hatten, sich richtig kennenzulernen.

Als meine hochschwangere Mutter im März 1945 den Platz ihrer kurz zuvor gestorbenen Großmutter in ihrem Ladenversteck einnahm, um nicht den sexuell ausgehungerten Russen zum Opfer zu fallen, hielt sie die halbe Blechmarke meines Vaters an die Brust gedrückt und betete so viele Vaterunser wie wohl nie mehr danach in ihrem Leben. Sie blieb verschont, und am 26. April, in einer feuchtwarmen Gewitternacht in Oliva bei Zoppot, presste die rücklings auf dem Bauch meiner Mutter sitzende Hebamme ein unansehnliches Bündel auf das weiße Laken.

Von da an schrie ich – drei Monate lang. Denn kaum hatte man mich aus meiner Mutter gezogen, verlor sie den Verstand, und mir ging das Wichtigste in meinem wenige Wochen alten Leben verloren, ihre Liebe, ihre Nähe, ihre Brust. Ein Trauma, wird mir jeder Analytiker bestätigen. Vielleicht erzähle ich deshalb diese Geschichte. Denn in Wasser aufgelöstes Milchpulver aus einer Flasche mit einem grauenvoll schmeckenden Gummistöpsel war ebensowenig ein Ersatz wie das Schütteln des Leiterwagens, in dem mich meine Großeltern bald darauf in Richtung Berlin zogen. Zum Glück hatten meine Großeltern und meine schwangere Mutter im Januar 1945 nicht wie so viele andere aus Angst vor den anrückenden Russen die » Wilhelm Gustloff« bestiegen. Denn auf ihr wäre ich todsicher schon vor meiner Geburt ein Opfer des U-Boot-Kommandanten Alexander Marinesko geworden, der den größten »Kraftdurchfreude«-Dampfer aller Zeiten mit neuntausend Flüchtlingen an Bord kurzerhand versenkte.

Die Angst meiner Großeltern vor den Russen hielt sich in Grenzen. Mein Großvater war sich als ehemaliger Sozialdemokrat sicher, dass die Russen ihn in Ruhe lassen würden. Doch die waren bekanntlich keine Meister ideologischer Differenzierungen. Sozi hin oder her, im März 1945 wurde mein Großvater dennoch interniert und marschierte zusammen mit dreitausend anderen Männern in die hundert Kilometer südlich von Danzig gelegene Festung Graudenz. Dass er nicht in einem sibirischen Arbeitslager verschwand, verdankte er seinen polnischen Arbeitern. Sie legten bei dem russischen Kommandanten von Danzig ein gutes Wort für ihn ein. Und so kam er kurz nach meiner Geburt frei.

Lange konnte er sich nicht darüber freuen. Schon Anfang September, nachdem die Siegermächte in gemütlicher Runde im Potsdamer Schloss Cecilienhof die deutschen, polnischen und russischen Grenzen neu ausgehandelt hatten, musste er wie Millionen andere erneut seine Sachen packen. Die prächtige Sechszimmerwohnung meiner Großeltern mit all den hanseatischen Barockmöbeln und kostbaren Ölgemälden an den Wänden wurde in Gegenwart eines Notars inventarisiert und die Haustür verschlossen. Alles, was meinen Großeltern blieb, war ein Leiterwagen: hoch bepackt mit Töpfen und Daunenbetten, Windeln, Danziger »Goldwasser«, Lapizlazulischmuck sowie den für meine Großmutter unverzichtbaren Flakons des französischen Parfums »Shalimar«. Und ganz obendrauf lag ich – ein schreiendes Bündel mit dem Familiensilberbesteck in den stinkenden Windeln. Meine Mutter hatten wir im Irrenhaus zurückgelassen, wo sie, vollgestopft mit Psychopharmaka, zu allem Überfluss auch noch an Tuberkulose erkrankt war. Und da es damals noch keine geeigneten Medikamente dagegen gab, lag sie in den nächsten fünf Jahren auf Kosten der vermögenden Verwandtschaft in Decken gewickelt auf den Galerien wechselnder Lungensanatorien, überwiegend mit Schneeblick.

Zwei Wochen lang liefen oder fuhren meine Großeltern mit mir durch das zerbombte, ehemals großdeutsche Reich Richtung Westen. Zum Glück war es noch nicht Winter, was meine Überlebenschancen erhöhte. Der Schleim aus Wasser, Milchpulver und Haferflocken, den meine Großmutter am Wegesrand oder auf Bahnhöfen auf dem Spirituskocher zubereitete, hielt mich notdürftig am Leben. Unser unfreiwilliger Umzug endete an einem kühlen Septemberabend des Jahres null im französischen Sektor Berlins. In der Hermsdorfer Olafstraße, wo mein Großvater als Teilhaber einen Baubetrieb übernehmen sollte, bezogen wir die Dienstbotenwohnung einer Gründerzeitvilla. Ich hatte das erste Abenteuer meines Lebens bestanden.

Privilegiert unter roten Fahnen

Bereits im Sommer 1951 saß ich wieder in einem Leiterwagen. Ich hatte einen Unfall gehabt. Den eingegipsten Arm weit von mir gestreckt, war ich in eine Haltung gezwungen, die man wenige Jahre zuvor noch den »Deutschen Gruß« genannt hatte. »Die Deutsche Demokratische Republik grüßt die Jugend der Welt«, dröhnte eine Lautsprecherstimme über die Stalinallee. »Vorwärts und nicht vergessen«, grölte es zurück aus hunderttausend Kehlen der im Gleichschritt marschierenden Jugendlichen, die zu den Weltfestspielen nach Berlin gekommen waren. Mein Großvater Gustav Adolf Werner war vor den Gläubigern seines inzwischen in Konkurs gegangenen Bauunternehmens in den Ostsektor der Stadt geflohen und zum Bürgermeister von Berlin-Lichtenberg und Friedrichshain ernannt worden. Auf dem Dachboden unserer neuen Behausung, einer ehemaligen Fabrikantenvilla in unmittelbarer Nähe der Irrenanstalt Herzberge, die ihm bei Amtsantritt zugeteilt worden war, hatte er gleich zwanzig enthusiastische FDJler aus Leipzig auf Strohsäcken untergebracht. Die banden mir ein blaues Tuch um den Hals, überschütteten mich mit Süßigkeiten aus ihren prall gefüllten Verpflegungsbeuteln und zogen mich unter riesigen Fahnen und Hunderten von Papp-Stalins und -Piecks von einer Demonstration zur nächsten. Trotz meines Handikaps genoss ich dieses Jahrmarktstreiben.

Vierzig Jahre später wiederholte sich die Szene in Herwig Kippings Kinofilm »Das Land hinter dem Regenbogen«, einem der letzten DEFA-Filme, in dem ich einen verstockten Großbauern, der sich der Kollektivierung widersetzt, spiele. Da zieht mich mein zehnjähriger Filmsohn über den Stahnsdorfer Friedhof zu einem ewig besoffenen Arzt (Rolf Ludwig), der seine Praxis in einer mondänen Familiengruft untergebracht hat.

Dank meinem gesellschaftlich engagierten Großvater gehörte ich Anfang der fünfziger Jahre zu den Privilegierten. Das hatte zwar den Vorteil, dass wir in dieser großzügigen Fabrikantenvilla inmitten einer wunderschönen Parkanlage wohnen durften, die meine Großmutter mit Hilfe einiger Insassen der Irrenanstalt in einen landwirtschaftlichen Nutzgarten verwandelte – mit riesigen Komposthaufen, Mistbeeten und kleinen Kartoffel- und Maisfeldern. Aber wenn mein Großvater zusammen mit meiner Großmutter Vortragsreisen durch die DDR unternahm, um von den Errungenschaften des Sowjetvolkes zu berichten, von Hochhäusern an baumbestandenen Straßen, von Rinderoffenställen oder Mitschurins angeblich frostresistenten Obstsorten, kam ich ins Heim. Da half kein Schreien und kein Türenschlagen. Mein Köfferchen wurde gepackt, und ab ging es nach Friedrichsfelde, wo sich gegenüber dem heutigen Tierpark das Tor des Kinderheims mit einem unbarmherzigen Knall hinter mir schloss. Ich wurde an ein Bett geführt, das neben neunundzwanzig anderen in einer endlosen Reihe stand, und eine fettleibige Erzieherin packte meine Sachen in den danebenstehenden kahlen Blechspind. Von Stund an war ich den Schikanen lauter bösartiger Bestien ausgesetzt. Denn ich sah natürlich partout nicht ein, warum ich mit anderen Kindern Bett und Tisch und wer weiß was noch teilen sollte, wo ich doch zu Hause ein Zimmer für mich allein besaß und fast jede Nacht ins Bett pinkeln durfte, ohne dass mich irgendjemand deshalb ausschimpfte. Nun aber schrie mein Bettnachbar morgens, wenn ich fröhlich aus meinem feuchtwarmen Laken stieg, entsetzt: »Iih, der stinkt ja!!« Und sofort bildetet sich eine höhnisch kreischende Meute um mich. »Bettnässer, Bettnässer!«, skandierte sie, was mich so wütend machte, dass ich in den folgenden Nächten nur umso leidenschaftlicher ins Bett pinkelte. Ich hoffte, die Erzieherinnen damit so zu nerven, dass sie mich schleunigst wieder loswerden wollten. Doch es nutzte nichts. Wer holt schon wegen eines verstockten Bettnässers verdiente Funktionäre von ihren Agitationsreisen zurück? Wenn es um die Sache des Sozialismus ging, musste ein renitenter Fünfjähriger Geduld haben. Da hatte mein Großvater kein schlechtes Gewissen. Und meine Mutter wurde nicht gefragt, denn sie kurte nach wie vor in verschiedenen Lungensanatorien, aus denen sie gelegentlich für einige Tage nach Hause beurlaubt wurde. Dann sah ich sie, fortwährend hüstelnd, im Garten unter der Rotbuche in ihrem Liegestuhl liegen und hin und wieder wie ein Hubschrauberpilot die Arm- und Rückenlehnen an zwei metallenen Steuerknüppeln hoch- und runterschieben. Um diesen Stuhl beneidete ich sie, kam ihr aber nur ungern näher. Ich kannte sie ja eigentlich kaum.

Die erste Begegnung mit meiner Mutter war ein Schock für mich. Als ich fünf Jahre alt war, hatte mich mein Großvater eines Tages in seinen Dienstwagen gepackt und gesagt: »Wir fahren jetzt ins Sanatorium. Deine Mutter will dich endlich wiedersehen.« Ich verspürte keinerlei Sehnsucht nach einer Frau, mit der mich lediglich der Geschmack des malzigsüßlichen »Ovomaltine«-Instantpulvers verband, das sie mir ständig aus der Schweiz zur Stärkung meiner schwachen Konstitution schickte. Aber es half nichts, ich musste mit. Als ich im Gegenlicht der Nachmittagssonne ein mit ausgebreiteten Armen auf mich zueilendes Schattengespenst sah, erstarrte ich vor Schreck. Dass ich diese Erscheinung, die angeblich meine Mutter war, nun zu lieben hatte, blieb mir unbegreiflich. Im Grunde ein Leben lang. Als sie fünf Jahre später, mehr oder weniger geheilt, nach Hause entlassen wurde, hatte ich zwei Mütter, die obendrein beide Ellen hießen und mich abgöttisch liebten, jede auf ihre kuriose Weise.

Es waren zwei Mütter

Vom leidenschaftlichen Bettnässer entwickelte ich mich bald zum leidenschaftlichen Hypochonder. Noch heute sage ich angekündigten Besuchern ab, wenn ich eine auch nur ansatzweise verschnupfte Stimme am Telefon höre. Menschen mit Krankheiten entzünden in meiner Phantasie sofort Horrorszenarien. Ich leide unter einem regelrechten Verfolgungswahn vor ihnen, so wie meine Großmutter und Mutter erst vor den Faschisten und der Stasi, später vor dem Bundesnachrichtendienst und Einbrechern. Bereits beim Anblick eines Kranken habe ich mein eigenes Ableben vor Augen. Eine Bronchitis wird zur Lungenentzündung, möglicherweise zur Lungentuberkulose, und bohrender Kopfschmerz nach einer durchzechten Nacht kann nur das sichere Anzeichen für einen Hirntumor sein. Dabei genieße ich Krankheiten – so paradox das klingen mag. Nichts ist mir lieber, als krank zu sein. Ich schätze es, wenn sich alle um mich sorgen und für kurze Zeit vergessen, was für ein schrecklich egozentrischer Mensch ich bin. Ich werde geliebt, gepflegt, gehegt und bin aller anstehenden Aufgaben enthoben. Das mochte ich schon als Kind. Ich habe von Natur aus einen gesunden Hang zur Faulheit.

Ein immer wiederkehrender Alptraum für mich ist bis heute, dass ich die Tür eines Raumes öffne, aus dem Milliarden von Erbsen auf mich zustürzen, und meine Aufgabe ist es, sie zu zählen. Aus diesem Alptraum erwache ich schweißgebadet. Das hat natürlich einen Grund. Als Kind musste ich täglich nach der Schule endlose Aufgabenlisten abarbeiten. Diese mit viel Sorgfalt verfassten Zettel fand ich jeden Morgen nach dem Aufstehen auf dem Tisch und musste mit noch nüchternem Magen lesen: »Lieber Winni, der Milchreis ist im Bett. Pass auf, dass Du ihn nicht verschüttest. Nimm Topflappen und iss bitte nicht das ganze Glas Apfelmus auf. Wir haben erst Montag. Bring den Mülleimer runter und hol Kohlen hoch. Geh zum Zahnarzt, lerne Deine Russischvokabeln und bereite den Hausaufsatz vor. Und wechsle Deine Strümpfe. Sie stinken schon. Gruß und Kuss. Deine Mutter.« Nachdem man ihr einen halben Lungenflügel entfernt hatte, war meine Mutter für geheilt erklärt worden – ich glaube, pünktlich zu meinem Schulbeginn. Seither schüttete sie all ihre bis dahin angestaute Liebe über mir aus. Sie kannte kein Maß, vor allem aber keine Form. Sie konnte nicht wissen, wie sie mich lieben, wie sie mich anfassen sollte, schließlich hatte man es ihr jahrelang verboten, denn Tuberkulose ist eine hochansteckende Krankheit. »Fass das Kind nicht an und halt dir die Hand vor den Mund!«, hatte mein Großvater immer geschimpft, wenn sie mich umarmen wollte. Küssen durfte sie sowieso niemanden, und ständig musste sie sich die Hände mit Kaliumpermanganatlösung desinfizieren.

Wenn meine Mutter abends von ihrer Dienststelle, wo sie als Fürsorgerin arbeitete, erschöpft und mit vollbeladenen Einkaufsnetzen nach Hause kam und irgendetwas nicht zu ihrer Zufriedenheit ausgeführt war, bekam ihre Stimme den Klang einer Feuersirene und alarmierte damit auch gleich meine Großmutter nebenan, welch ein hinterlistiges Miststück aus jenem süßen Knaben geworden war, den sie einst von ihrer Brust weg der zweifelhaften Erziehung der Großmutter hatte überlassen müssen.

Ich war tatsächlich ein ziemlich bösartiges Kind. Mit neun steckte ich einmal beim Räuber- und Gendarm-Spiel einen kleinwüchsigen Jungen in einen Gulli. Ich fand, das wäre das ideale Versteck für ihn. Als plötzlich ein Gewitter losbrach, rannte ich wie die anderen nach Hause und vergaß ihn schlicht und einfach. Am späten Abend fanden ihn seine armen Eltern schließlich. Er hatte so lange um Hilfe gerufen, dass er keinen Laut mehr von sich geben konnte. Glücklicherweise. Denn sonst hätte er mich gleich verpetzen können, und der Ausklopfer hinter der Küchentür wäre mir sicher gewesen. So blieb mir eine Gnadenfrist von einer Nacht, in der ich wieder einmal Milliarden von Erbsen auszählen musste.

Als es am nächsten Morgen Sturm klingelte und die Nachbarin mit ihrem kleinwüchsigen Jungen vor der Tür stand – der leider wieder sprechen konnte –, hatte ich vierzig Grad Fieber. In diesem Zustand konnte meine Mutter mich unmöglich verprügeln. Ich war zu einem günstigen Zeitpunkt an Scharlach erkrankt, der eine Hirnhautentzündung zur Folge hatte. Als ich nach drei einsamen Wochen Quarantäne aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war alles vergessen. Meine alleinerziehende Mutter hatte ihren Jahresurlaub genommen, saß stundenlang an meinem Bett, kochte meine Lieblingsspeisen, verwöhnte mich und las mir die wunderbaren Schauergeschichten von Edgar Allan Poe vor.

In solchen Momenten ertrug ich die Nähe meiner Mutter, vor der ich mich sonst eher fürchtete, gern. Dennoch blieb mir die große, ungelenke, scheue Frau mein Leben lang zutiefst fremd. Dabei war ich die größte Liebe ihres Lebens – nach Jesus Christus, den sie oft um Hilfe bat, wenn sie meinetwegen nicht mehr ein noch aus wusste. Doch gerade diese aufopferungsvolle Liebe warf ich ihr später häufig vor. Sie schnürte mir die Luft ab. Oft lauschte ich am Schlüsselloch weinend auf ihr Stöhnen, wenn sie nach einer Strafaktion, vor Anstrengung blau im Gesicht, mit dem Teppichklopfer im Nebenzimmer auf dem Bett keuchend nach Luft rang. Ich hatte furchtbare Angst, dass sie sterben könnte und dass ich wieder ins Heim müsste.

Ich war ein Scheusal, zugegeben, aber was sollte ich machen? Selbst den Geruch meiner Mutter mochte ich nicht. Sie war beständig von einem Dunst aus Kernseife und Desinfektionsmitteln umgeben, der in krassem Gegensatz zu dem betörenden Duft meiner Großmutter nach »Shalimar« stand, der schon als kleinem Jungen in mir wollüstige Phantasien geweckt hatte.

Meine Großmutter machte nie einen Hehl aus ihrer großbürgerlichen Herkunft, hatte aber auch nichts gegen den Aufbau des Sozialismus, und das nicht nur, weil er Großvater vor seinen Gläubigern gerettet hatte. Sie schrieb seine Reden und begleitete ihn gern auf seinen Vortragsreisen. Meine Großmutter konnte sich grundsätzlich für alles Neue und Abenteuerliche begeistern. Das entsprach ihrer unkonventionellen, freigeistigen Natur. Mittelmaß und Einförmigkeit stießen sie ab, womit sie in ihrem Ostberliner Bekanntenkreis oft auf Unverständnis stieß.

Als wir aus jener Fabrikantenvilla in eine siebzig Quadratmeter große Zweizimmerwohnung nach Lichtenberg umziehen mussten, einem Lückenneubau mit Bad und Balkon, bedeutete dies für meine Großmutter einen sozialen Abstieg, den sie jedoch mit Gelassenheit ertrug. Notwendig geworden war dieser Umzug nach dem abrupten Ende der Bürgermeisterkarriere meines Großvaters, der sich weigerte, in die SED einzutreten. Für meine Mutter organisierte er die Nachbarwohnung und ließ beide Wohnungen durch einen Mauerdurchbruch verbinden. Diese unmittelbare Nähe sollte sich noch als problematisch erweisen.

Meine Großmutter empfing hier ihre lautstarken jüdischen Freundinnen, die von ihrer Jugend schwärmten, über den sozialistischen Alltag schimpften und anstößige Witze erzählten, was meine Mutter sehr befremdete. Zu diesem amüsanten und trinkfreudigen Freundinnenkreis gehörte auch die Schauspielerin Anneliese Reppel. Sie war die Tochter der berühmten Max-Reinhardt-Schauspielerin Hermine Körner und spielte in der »Dreigroschenoper« am Berliner Ensemble die Mutter Peachum. Als sie mit ihrer knarrenden, tiefen Stimme, mit der sie in russischen Märchenfilmen die Hexen synchronisierte, einmal sagte: »Ich brauche nur einmal ins Mikrophon zu rülpsen, und schon habe ich hundert Mark verdient«, hinterließ dies einen nachhaltigen Eindruck bei mir. Mein Taschengeld betrug damals zwanzig Pfennige pro Woche, und ich bekam eine Ahnung davon, dass die Schauspielerei ein gut bezahltes Vergnügen sein könnte. Obendrein steht man immer im Mittelpunkt.

In gewisser Weise konkurrierten meine dominante Großmutter, die schauspielerisch begabt und eine energiegeladene, impulsive Geschichtenerzählerin war, und Anneliese Reppel miteinander, was den Unterhaltungswert ihrer Treffen enorm steigerte. Meine Großmutter überließ anderen nur ungern das Wort. Hatte jemand ihrer Meinung nach zu lange geredet, sprang sie unvermittelt auf und schrie zornig: »Dann kann ich ja gehen!« Ihr Publikum fand sie überall, es konnte passieren, dass sie auf einer Parkbank wildfremde Leute in intimste Gespräche verwickelte. Meine Mutter vermied es deshalb möglichst, sie irgendwohin zu begleiten. Ließ es sich doch einmal nicht vermeiden, konnte es durchaus sein, dass meine Großmutter quer über die Straße rief: »Hallo Frau Lehmann, haben Sie schon gesehen? Meine Tochter ist wieder gesund. Hat zwar nur noch eine halbe Lunge, aber sie wird schon wieder einen Mann finden.«

Nie werde ich vergessen, wie sie einmal einer Nachbarin mit meiner in eine hellbraune Papiertüte gewickelten Unterhose zuwinkte und laut über die Straße schrie: »Der Winne hat Dünnschiss. Schönen Tag noch!« Ich hatte auf dem Heimweg von der mir zutiefst verhassten orthopädischen Turnstunde, die mir zur Stärkung meiner zu schnell wachsenden Knochen verschrieben worden war, plötzlich Durchfall bekommen, mich gerade noch in ein Gebüsch gerettet und die stinkende Unterhose unter einem Busch im Laub verscharrt. Als meine Großmutter am Abend meine Unterhose vermisste – ich besaß nur drei –, schleppte sie mich zeternd zurück zum Gebüsch, wo ich das fehlende Stück unter den Sträuchern wieder hervorziehen und es in die mitgebrachte Konsumtüte stopfen musste. »Die wird gewaschen, und morgen ziehst du sie wieder an!«

Kopf im Gasherd – das Schreckensjahr 1956

Ich liege vor der Schule auf der Straße, merkwürdig verrenkt, ein Mann in dunkelblauer Arbeitsmontur springt aus seinem Transporter, rennt auf mich zu und beugt sich über mich. Vielleicht weil er ein so entsetztes Gesicht macht, kehre ich zurück in meinen Körper, in dieses viel zu lange, dürre, schlaksige Etwas, das ich eigentlich ganz gern verlassen oder getauscht hätte, zum Beispiel gegen den wohlproportionierten Körper meines Kumpels Jürgen. Ich lasse die Augen noch geschlossen, während der Mann mich aufhebt und ins Lehrerzimmer trägt. Soll er doch denken, ich sei tot. Strafe muss sein.

Nach diesem Unfall konnte ich mehrere Wochen das Bett nicht verlassen, wurde gepflegt, umsorgt und geliebt. Allerdings mit der unangenehmen Folge, dass ich die fünfte Klasse wiederholen musste. Daran war vor allem die Sprache unseres großen Bruders schuld, und das trotz größter Bemühungen meiner Mutter, die, um mir zu helfen, sogar selbst noch nach ihrer Arbeit in der Volkshochschule einen Russischkurs absolvierte. Aber auch die Tortur unseres gemeinsamen Vokabelpaukens half nichts, obwohl sie sogar ihren kurzen zwölftägigen Jahresurlaub meinem Fortkommen opferte. Jedes Jahr, Anfang September, fuhren wir gemeinsam an die Ostsee. Eigentlich hatte zu dieser Zeit schon die Schule begonnen, aber meine Mutter ließ mich freistellen, denn die FDGB-Reisen waren in der Nachsaison billiger. Und was hatte ich davon? Statt in der Sonne zu braten und mich zu freuen, dass meine Schulkameraden jetzt büffelten, musste ich meine Schulbücher und -hefte mit an den Strand schleppen, wo meine Mutter mir Nachhilfeunterricht gab. Es nutzte nichts, ich blieb sitzen.

Damit das Sitzenbleiben nicht zum Spießrutenlauf wurde, suchte meine Mutter eine neue Schule für mich. Aber auch das half nicht viel. Schule war und blieb ein Horror für mich. Das änderte sich erst, als alle anderen Jungen meiner Klasse nach dem achten Schuljahr eine Lehre begannen und ich mich zu Beginn der neunten Klasse dreiundzwanzig Mädchen gegenübersah. Ich war das einzige männliche Wesen unter all diesen Schönheiten mit ihren knospenden Brüsten. Von da an ging es steil bergauf. Und mit ein bisschen Beschiss beendete ich die Oberschule sogar mit »Sehr gut«.

Doch noch befinden wir uns im Schreckensjahr 1956 – als nicht nur in Ungarn die Arbeiter auf die Barrikaden stiegen, sondern auch der Kopf meiner Großmutter eines Tages plötzlich im Gasherd steckte, und das kam so: Zwei Jahre zuvor hatte mein Großvater seinen Bürgermeisterposten im Rathaus verlassen müssen. Nachdem er eine Weile zu Hause im Sessel gesessen und aus dem Fenster gestarrt hatte, während ich ihm zu Füßen sitzend eine Pfeife nach der anderen stopfte, erinnerte er sich an sein einstiges Unternehmertum und machte sich so seine Gedanken über den Straßenbau im Sozialismus, denn an den glaubte er nach wie vor. Straßen brauchen Pflastersteine, und die waren damals rar: Flugasche, die bei der Verkokung von Braunkohle übrigbleibt, gab es in den Heizkraftwerken jedoch massenhaft. Mein Großvater erfand ein Verfahren, mit dem die Flugasche zu Pflastersteinen gepresst werden konnte. Zwei Jahre ging er täglich in sein Büro, dann bekam er Darmkrebs. Kurz nach der Operation starb er. Er hatte im Bewusstsein seines unvermeidbaren nahen Todes jegliche Nahrungsaufnahme verweigert.

Kaum war er tot, mauerte meine Großmutter die Wand zwischen unseren beiden benachbarten Wohnungen, die mein Großvater einst niedergerissen hatte, wieder zu. Der Mauerbau hat in meiner Familie demnach fünf Jahre früher stattgefunden. Meine Großmutter wollte endlich ihre Ruhe haben, vor allem vor meiner Mutter. Doch stattdessen brach in der Scheffelstraße der Kalte Krieg aus, denn keine der beiden Ellens konnte es der anderen mehr recht machen. Ein Vierteljahr später zerrten meine Mutter und ich den leblosen Körper meiner Großmutter, dessen Kopf schlaff wie der einer frisch geschlachteten Weihnachtsgans im Gasherd hing, aus ihrer Küche. Hätten wir geklingelt, wäre uns ein gemeinsames Familiengrab sicher gewesen. Aber soweit kam es glücklicherweise nicht, meine Mutter und ich rissen alle Fenster auf und pressten rhythmisch so lange den Brustkorb meiner Großmutter, bis uns der Arzt ablöste und sie mit ins Krankenhaus nahm. Sie überlebte, wiederholte allerdings dieses für alle etwas aufreibende Spektakel noch einmal. Dann entschloss sie sich endgültig weiterzuleben, allerdings war sie so aggressiv und streitsüchtig geworden, dass sich einige Zeit darauf meine Mutter ihrerseits ins Jenseits befördern wollte.

Hauptstreitpunkte waren ich und das plötzlich ausschweifende Leben meiner Großmutter, die sich ein Segelboot kaufte und ein Wassergrundstück pachtete und das Geld nach Meinung meiner Mutter nur so zum Fenster hinauswarf. Obendrein empfing sie immer häufiger Herrenbesuch. Meine Großmutter wiederum fand das freudlos-spießige Fürsorgerinnenleben meiner Mutter unerträglich, die die Wohnung um sechs Uhr dreißig morgens verließ und gegen achtzehn Uhr abends nach Hause kam und an den Sonn- und Feiertagen Wäsche wusch und die Wohnung schrubbte. Am liebsten aber stritten sie sich um meine Erziehung, und ich schürte ihre verzweifelten Kämpfe mit sadistischer Freude. Immerhin war ich jetzt Herr im Haus. Wenn sie gar nicht mehr weiter wussten, waren sie sich lediglich darin einig, zur Züchtigung meines renitenten Charakters einen ehemaligen Redakteur des Parteiorgans »Neues Deutschland«, der über uns wohnte, als Verstärkung zu holen. Vermutlich verinnerlichte dieser Mann damals seine erzieherische Rolle so sehr, dass er mich auch später, als ich längst studierte, im Auge behielt. Seine Berichte an die Staatssicherheit der DDR las ich viele Jahre später.

Irgendwann hörten meine beiden Mütter auf, miteinander zu reden. Ratschläge, Anweisungen und gegenseitige Beschimpfungen wurden nur noch schriftlich übermittelt. Ich sehe noch meine Mutter vor mir, wie sie zusammenzuckte und die Augen rollte, wenn wieder einmal der Türschlitzdeckel klapperte und ein Zettel meiner Großmutter auf den Boden des Korridors segelte. Ich weiß nicht, welche Bösartigkeit eines Tages in einem dieser Briefe stand. Jedenfalls lief meine Mutter, nachdem sie ihn gelesen hatte, schreiend aus dem Haus und wollte sich von der Eldenaer S-Bahn-Brücke stürzen. Was blieb mir anderes übrig, als hinterherzurennen und mich an ihre Beine zu hängen. Ich war stärker, und so gab sie schließlich auf.

Holzbein, Päderast und Glasauge – meine potentiellen Väter

Ich wuchs und wuchs, war spindeldürr und hatte ständig Hunger. Aus finanziellen Gründen wurde ich sehr gesund ernährt. Meine Mutter verdiente als Fürsorgerin gerade einmal vierhundert Mark im Monat, deshalb gab es vor allem Quark, Butterstullen mit Tomatenmark, in Scheiben geschnittenen sauren Gurken, Petersilie und Schnittlauch sowie unendlich viel gedünstetes Gemüse und Sauerkohl. Fleisch und Wurst kam erst ausreichend auf den Tisch, als meine Großmutter eine Freundin hatte, die einer Konsumfleischerei vorstand. Einmal im Monat wurden wir zu ihr zum Essen eingeladen. Rindersteak, Schweinebraten mit Kruste, Leber mit gebratenen Apfel- und Zwiebelringen oder paniertes Schnitzel! Ich wartete den ganzen Monat auf diesen Tag der Köstlichkeiten und stürzte mich dann wie ein Raubtier darauf, sehr zur Beschämung meiner beiden Mütter. »Junge, iss nicht so schnell!«, ermahnten sie mich immer vorher. Aber ich schlang natürlich trotzdem, als sei ich dem Hungertod nahe, bestärkt durch den etwas süffisanten Zuspruch der Gastgeberin: »Iss doch, Kindchen! Hast ja nichts auf den Rippen.« Den meine Mutter wiederum beleidigt zu kontern pflegte: »Machen Sie sich mal keine Sorgen, der bekommt schon, was er braucht!« Leider hatte nach zwei Jahren die Freundin meiner Großmutter die Lust verloren, uns zu beköstigen. Wir fraßen einfach zu viel. Und so musste ich wieder durch eine vegetarische Durststrecke. Dass diese irgendwann endete, verdankte ich einem meiner potentiellen Väter.

Wurschtpaketehans war eigentlich Hochspannungsmonteur, der die ganze DDR verdrahtete und auf der Durchreise gelegentlich bei meiner Mutter vorbeischaute, bevor er zu seiner eigenen Familie zurückkehrte. Die Fresspakete, die er meiner Mutter als Gegenleistung für ihr erotisches Entgegenkommen auf den Tisch legte, waren riesig. Sie entschädigten mich für die nächtlichen Lustschreie, die mich stundenlang wach hielten.

Eines Tages hatten meine Mutter und ich wieder einmal heftigen Streit miteinander. Ich hatte den Taubenschlag des Hausmeisters auf dem Dachboden unserer Schule geöffnet, die Vögel verscheucht und ihre Eier in den Schulhof geworfen. Am Abend stand der Hausmeister vor unserer Wohnungstür. Kaum war er wieder gegangen, rannte meine Mutter, den Ausklopfer wild schwingend, hinter mir her um den Wohnzimmertisch, während ich mit meinen langen Beinen zusehen musste, dass ich sie nicht überholte. Irgendwann wurde mir das Wettrennen zu dumm. Immerhin war ich schon dreizehn. Ich hielt abrupt an, hob den Tisch hoch, als wollte ich ihn durchs Zimmer schleudern und schrie wie ein Berserker. Worauf meine Mutter zitternd den Ausklopfer fallen ließ und im selben Moment beschloss, ihr Witwendasein endgültig zu beenden. »Das Kind braucht einen Vater. Ich schaff es nicht mehr«, sagte sie zu unserer Nachbarin, um diese auf die nun häufiger wechselnden männlichen Besucher vorzubereiten. Und wer weiß, ob es nicht auch eine gewisse Wirkung auf meine Mutter hatte, dass auf manchen der durch den Briefschlitz flatternden Zettel meiner Großmutter stand: »Bitte nicht klingeln, Heinz oder Max oder Otto ist da.«

Kurz nach unserem Tischrundlauf gab meine Mutter in mehreren Tageszeitungen also folgende Annonce auf: »Alleinstehende Mutter, Ende dreißig, mit halbwüchsigem Sohn, sucht zwecks näherer Bekanntschaft älteren Herrn, möglichst Akademiker, gemeinsame kulturelle Unternehmungen und Reisen angenehm.«

Was sich in den nächsten Jahren an Invaliden durch unsere Wohnung schleppte, glich einem Kuriositätenkabinett. Der erste meiner potentiellen Väter hatte ein Glasauge. Wenn er bei uns übernachtete, ließ er die gläserne Halbschale auf ein sauber gefaltetes Taschentuch fallen und legte sie im Bad auf die marmorne Waschkommode neben das Zahnputzglas, so dass ich mich beim Pinkeln immer irgendwie beobachtet fühlte. Eines Sonntagmorgens ließ ich das Glasauge im Besteckkasten verschwinden, bevor ich mit einem Freund nach draußen zum Räuber- und Gendarmspielen ging. Ich weiß nicht, wie lange die beiden gesucht haben. Jedenfalls kam »Glasauge« nie wieder, und meine Mutter, die ahnte, was geschehen war, sprach mehrere Tage nicht mehr mit mir.

Anschließend versuchte sie es mit einem Chirurgen. Doch der heiratete schließlich seine OP-Schwester. Am liebsten wäre meiner Mutter ein verwitweter Literaturprofessor gewesen, einer, der immer am Schreibtisch gesessen und mit ihr bei einem Glas Wein über Gott und die Welt philosophiert hätte. Sie hätte alle seine klugen Gedanken stenographiert und später auf der Maschine zu Papier gebracht und wäre dafür sicher auch noch mit einer persönlichen Widmung in seinen Büchern belohnt worden.