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Über das Buch

Keiner träumt wie Henriette. Jeden Morgen erinnert sie sich klar und deutlich an die Abenteuer der vergangenen Nacht – sogar herbeiwünschen kann sie ihre Träume. Doch eines Tages ist alles anders. Jede Spur an den letzten Traum ist wie ausradiert. Ein Traumdieb hat zugeschlagen! Entgegen aller Warnungen beschließt Henriette, den Dieb zu suchen und zur Rede zu stellen. Ihr Weg führt sie durch schöne und böse Träume, in die heiße Wüste, in den finsteren Wald der Alben und zu einer Tür, hinter der etwas Schreckliches lauert …

INHALT

Ein gestohlener Traum

Bei der schwarzen Tante

Konradin Anobiums Bücher

Von Traumdieben und Alben

Henriettes Traumkabinett

In Badras Zelt

Die erste Lektion

Traumglanz

Betörende Beeren

Im Herzen des Nachtschattenwalds

Das Haus der Hexe

Die dunkle Tür

Eine schwere Entscheidung

Die unlösbare Aufgabe

Die Armee der Träumerin

Der Traum hinter der Tür

Nur ein Weg

Ein unerwarteter Name

Der König der Alben

Das richtige Ende

EIN GESTOHLENER TRAUM

Die Aufregung war groß in dem kleinen Haus am Ende der Straße. Herr Punktatum, einer der beiden Besitzer der Buchhandlung Anobium & Punktatum, war tot. Sein Tod war ganz plötzlich gekommen. Und ebenso plötzlich war es laut geworden. Fremde Menschen liefen polternd durchs Treppenhaus. Tiefe Stimmen hallten darin umher. Echos gesprochener Worte jagten einander die steinernen Wände entlang und die hölzernen Treppenstufen ächzten mitleiderregend unter schweren Schritten.

Im ersten Stock drückten sich zwei Kinder die Nasen am Wohnzimmerfenster platt, um zu beobachten, was sich unten auf der Straße abspielte. Henriette Ende hatte einen besseren Platz ergattert als ihr Bruder Nick und einen guten Blick auf die nasse Straße. Zwei Männer schlossen gerade die Flügeltüren eines dunklen Wagens, der unter einer Kastanie parkte. Der Baum hatte längst alle Blätter verloren. Der Winter stand vor der Tür und es war nur eine Frage von Tagen, ehe aus dem Regen, der unermüdlich vom Himmel fiel, Schnee werden würde. Dicke Tropfen schlängelten sich an der Fensterscheibe entlang wie kleine Flüsse. Der Himmel war grau. Es war einer dieser typischen, verregneten Novembertage, die nasse Socken und die Aussicht auf eine Erkältung mit sich brachten.

Henriette konnte es noch immer kaum glauben, dass der alte Buchhändler vergangene Nacht im Schlaf gestorben war. Erst gestern Abend hatte sie ihn noch gesehen. Gerade als sie und ihr Zwillingsbruder in das Haus der Großmutter gestürmt waren, die sie wie jedes Jahr kurz vor Weihnachten besuchten. Herr Punktatum hatte ihnen die Tür aufgehalten und hinterhergerufen, sie sollten vorsichtig sein und sich auf den alten Treppenstufen nicht den Hals brechen. Und nun war er selbst tot. Woran mochte er wohl gestorben sein?

Henriette fragte ihren Bruder Nick, der jedoch nicht antwortete. Die beiden Männer stiegen soeben in das Auto und Nick bemühte sich vergebens, den Kopf so zu drehen, dass er in das Innere des dunklen Wagens spähen konnte. Als Henriette die Frage wiederholte, gab er es auf und sah sie nachdenklich an.

»Tja, wer weiß?«, überlegte er. »Vielleicht ein Herzinfarkt. Ich meine, er war uralt. Oder vielleicht war ein Einbrecher schuld, der es auf seinen Schmuck abgesehen hatte? Womöglich ist er erschossen worden.«

»Was für ein Unsinn!«, meinte Henriette entschieden und sah ihren Bruder missbilligend an. Sie hatte eigentlich damit rechnen müssen, dass Nick hinter dem Tod von Herrn Punktatum ein Verbrechen vermutete. Für ihn konnte das Leben gar nicht abenteuerlich genug sein. Ein Einbrecher! Typisch Nick! »Überhaupt hat Herr Punktatum wohl kaum Schmuck besessen«, ergänzte sie und strich sich energisch eine ihrer dunkelblonden Locken aus dem Gesicht. »Er hat doch alleine gelebt.«

»Na ja, stimmt«, gab Nick widerwillig zu. »Ich habe ihn auch nie mit Kette und Ohrringen gesehen.«

Er kicherte und Henriette schüttelte den Kopf. Wie konnten sie und Nick eigentlich Zwillinge sein? Es gab Momente, und dies war so einer, in denen sie sich fragte, ob er nicht im Krankenhaus vertauscht worden war. Bis auf die blonden Haare, die bei Nick allerdings völlig glatt waren, sahen sie sich nicht einmal besonders ähnlich, vom Verhalten einmal ganz zu schweigen. Nun, Henriette war immerhin auch einen Tag älter. Sie war in der Nacht des 14. August geboren, ihr Bruder kurz nach Mitternacht am folgenden Tag.

Ehe Nick weiterüberlegen konnte, kam ihre Großmutter in das Zimmer und scheuchte sie von der Fensterbank. »Runter da! Ein Toter ist nun wirklich nichts für Kinder«, rief sie und schickte die beiden kurzerhand in ihre Zimmer zum Auspacken der Koffer. Noch immer lagen diese dort geöffnet auf dem Boden, gefüllt mit dicken Pullovern, warmen Socken und tausend anderen Dingen. Gestern Abend hatten sie keine Lust gehabt, ihre Sachen einzuräumen. Und heute waren sie den ganzen Tag über mit ihrer Oma, Mathilda Ende, unterwegs gewesen, bis der Regen eingesetzt hatte. Erst bei ihrer Rückkehr hatten sie erfahren, was dem alten Buchhändler widerfahren war.

»Es ist entsetzlich«, meinte Oma Mathilda, während sie Henriette beim Auspacken half. »Ich habe ihm gestern Vormittag noch das Paket gebracht, das ich angenommen hatte«, erzählte sie, während sie Henriettes Hosen in eine große Kommode legte. »Und da war er wie immer. Freundlich und höflich. Sicher war in dem Paket eines dieser alten Kochbücher, die er so liebte. Es ist ihm immer so schwergefallen, sie wieder zu verkaufen. Ich höre noch seine sanfte Stimme, wie er sagt: ›Kein Büchernarr sollte Buchhändler werden.‹«

»Und dann?«, fragte Nick, der seinen Kopf zur Tür hereinsteckte.

Oma Mathilda sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und dann hat er es noch im Hausflur geöffnet und hineingesehen. Bestimmt war es ein wertvolles Buch. Vor lauter Aufregung konnte er kein Wort mehr sagen. Das war das letzte Mal, dass ich Herrn Punktatum gesehen habe. Tja«, seufzte sie, »irgendwann muss man eben damit beginnen, sich für jeden Tag zu bedanken.«

Immer wieder kehrten Henriettes Gedanken zu Herrn Punktatum zurück. Und kaum hatte sie all ihre Sachen in der großen Kommode verstaut, gab es für sie kein Halten mehr. Sie beschloss, dem kleinen Buchladen im Erdgeschoss einen Besuch abzustatten.

Der Laden war ganz sicher kein Geschäft für Kinder. Zumindest keines, in dem es Wände voller bunter Bilderbücher gab. Solche mit Einbänden, von denen Piraten zähnefletschend herabfunkelten. In diesem Buchgeschäft fand man auch keine Detektivgeschichten, in denen Kinder Kriminalfälle lösten, an denen selbst erfahrene Polizisten verzweifelten. Und es gab erst recht keine Bücher über Prinzessinnen in rosa Kleidern. Allenfalls eine alte Ausgabe von Grimms »Kinder- und Hausmärchen«. Ohne Bilder, versteht sich. Henriette aber störte das wenig.

Der kleine Buchladen war etwas Besonderes. Schon alleine sein Duft war zauberhaft. Dort roch es nach altem Papier, verstaubt und von der Sonne verblichen, und nach dicken Ledereinbänden, die die Geschichten in ihrem Inneren vor der Zeit schützten wie eine Rüstung einen Ritter. Der Fußboden bestand aus alten Holzdielen, die bei jedem Schritt knarrten, als wollten sie den Besuchern zuflüstern, in welchem Teil des Ladens sie das richtige Buch finden würden. Am Eingang stand ein Tresen mit einer altmodischen, messingfarbenen Registrierkasse, die laut klingelte, wenn die Schublade geöffnet wurde. Die Bücher waren ausnahmslos alt und ihr seit heute einziger Verkäufer war es auch. Er war auch der Grund, warum Henriette unbedingt in den Buchladen wollte. Sein Name war Konradin Anobium.

Mit Herrn Anobium konnte Henriette sprechen. Richtig sprechen. Er hatte gewissermaßen die richtige Stimme dazu. Keine, die nur vernünftige Dinge sagte. Herr Anobium steckte so voller Unvernunft, dass er begriff, was Henriette fühlte und beschäftigte. Manchmal sogar, bevor sie es selbst richtig wusste. Und im Gegensatz zu Nick machte er sich nie über etwas lustig.

Henriette fühlte sich noch immer ganz durcheinander. Wie es Herrn Anobium da wohl erst gehen musste? Sie konnte sich nicht ausmalen, was der Tod seines besten Freundes für ihn bedeutete. Aber auch sie war eine Freundin von Herrn Anobium und es war die Pflicht von Freunden, füreinander da zu sein. Henriette schlich leise die Stufen herunter.

Durch die hohen Fenster, die auf jeder Zwischenetage hinaus zum Hof blickten, drang graues und müdes Abendlicht hinein. Der Regen trommelte mit nassen Fingern gegen die Scheiben.

Unten angekommen lief Henriette hinüber zu der Tür, die vom Treppenhaus in den Buchladen führte. Abgeschlossen. Das machte nichts. Herr Anobium blieb immer lange im Geschäft und sichtete neue alte Bücher oder las in denen, die bereits seit Jahren in den Regalen geduldig auf neue Besitzer warteten. Sie klopfte. Das Geräusch hing für einen Moment flüchtig in der Luft. Doch die Tür blieb verschlossen.

Sie klopfte noch einmal.

»Hallo, Herr Anobium? Ich bin es, Henriette.«

Nichts geschah.

Henriette runzelte die Stirn. Es gab noch eine Tür, an der sie es versuchen konnte. Henriette ging hinaus und starrte missmutig in den Regen. Es schien, als wollte er die Welt fortspülen. Am Himmel zuckte ein Blitz und wenige Sekunden später donnerte es. Unwillkürlich musste sie an Jules Vernes Buch »20 000 Meilen unter dem Meer« denken. Als einmal keine Kunden im Laden gewesen waren, hatte Herr Anobium den Roman aus einem Regal gezogen.

»Warst du schon einmal in einem Unterseeboot und hast die Wunder gesehen, die unter dem Meeresspiegel auf neugierige Augen warten?«, hatte er sie damals gefragt und angefangen, ihr vorzulesen. Es war ein ganz ähnlicher Tag wie heute gewesen. Grau und regnerisch. Und die Stimme von Herrn Anobium hatte Henriette in die Tiefen des Meeres hinabgezogen, sie aus dem Buchgeschäft fortgeführt und in eine andere Welt gelockt. Henriettes Augen waren zwar offen gewesen, doch sie sahen nur noch, was Anobiums Worte ihr zeigten. Immer tiefer ging es hinab unter die Meeresoberfläche. Dorthin tauchte das Unterseeboot Nautilus einfach vor einem Gewitter ab.

Nun, sie konnte dem Unwetter ähnlich leicht entkommen. Henriette drückte die Klinke der Eingangstür des Buchladens hinunter. Aber enttäuscht stellte sie fest, dass auch sie sich nicht öffnen ließ. Henriette spähte durch das große Fenster. Alles dunkel. Kein Lichtschein. Henriette seufzte wieder. Vom Regen völlig durchnässt machte sie auf dem Absatz kehrt und ging wieder nach oben. Sie musste also den Rest des Abends mit ihrem Bruder verbringen. Konnte es noch schlimmer werden?

Ja, viel schlimmer sogar. Doch davon ahnte Henriette nichts, denn zunächst gab es einen kleinen Lichtblick. Nach dem Essen kochte ihre Oma Kakao. Keinen aus Pulver, der so fad war, dass er sich nur mit Mühe an den Geschmack von Schokolade erinnern konnte, sondern echten Kakao. Das Rezept hatte Herr Punktatum ihr aus einem seiner Kochbücher gegeben. Schokolade, Honig und Zimt. Er schmeckte wunderbar und er ließ Henriette sogar die abenteuerlichen Gedankenspiele ihres Bruders ertragen, der unermüdlich mutmaßte, was hinter dem Tod von Herrn Punktatum stecken mochte. Mittlerweile gab es für Nick nur noch eine Antwort: Mord.

»Natürlich ging es um dieses seltsame Paket«, sagte er. »Doch wer war der Mörder? Vielleicht steckte in dem Paket ein besonders wertvolles Buch? Was, wenn die Bücher-Mafia hinter ihm her war?« Eine ganze Weile rätselte er so vor sich hin, bis Oma Mathilda die beiden Kinder ins Bett scheuchte. Es gab für jeden einen Kuss, (den Nick mit dem empörten Hinweis kommentierte, er sei doch schon dreizehn!), und dann wurde das Licht gelöscht.

Von einem Augenblick zum anderen füllte Dunkelheit Henriettes Zimmer.

Die Dunkelheit brachte Müdigkeit und Träume mit sich. In ihr war alles anders als in der Tageswelt. Nachts hörte man neue Geräusche, roch andere Düfte und selbst Vertrautes sah mit einem Mal fremd und wundersam aus. Es gab Menschen, die Angst vor der Dunkelheit in ihren Herzen trugen. Die ihre Bettdecken über die Gesichter zogen, weil sie sich davor fürchteten, dass ihre Augen nur noch zu sehen vermochten, was ihnen die eigene Fantasie in den Kopf malte. Nicht so Henriette. Sie fürchtete sich nicht vor der Nacht. Im Gegenteil. Sie freute sich auf sie. Und das aus einem guten Grund.

Henriette verfügte über ein besonderes Talent. Etwas, das sie überragend gut konnte. Besser als jeder andere Mensch, den sie kannte. Henriette konnte träumen.

Das hört sich zunächst einmal nicht sehr außergewöhnlich an. Aber Henriettes Träume waren anders als die Träume anderer Menschen. Oder besser: Sie war anders als andere Träumer. Die meisten Menschen können sich nur an wenige Bruchstücke ihrer Träume erinnern. Kaum mehr als verschwommene und unscharfe Bilder bleiben bei ihnen hängen. Als seien ihre Köpfe Netze und die Erinnerungen an ihre Träume kleine Fische, die ohne Mühe durch die Maschen schlüpfen konnten. Henriette aber vermochte sich immer und zu jeder Zeit an ihre Träume zu erinnern. Die Bilder in ihrem Kopf waren stets klar und lebendig. Ein- oder zweimal hatte Henriette sogar das Gefühl gehabt, sich an Träume anderer Menschen zu erinnern. Doch das war etwas, das sie für sich behielt.

Von ihren eigenen Träumen aber erzählte Henriette jeden Morgen ihren Eltern und Nick. Obwohl sie an ihren Gesichtern genau erkennen konnte, dass diese ihr nicht glaubten. Als würde sie sich die Abenteuer der Nacht nur ausdenken. Aber das stimmte nicht. Es gab einige Traumfiguren, die es sich in Henriettes Kopf gemütlich gemacht hatten und regelmäßig in ihren Träumen erschienen. Wie zum Beispiel Hauptmann Prolapsus, der nie auf einem Pferd ritt, sondern sein Reittier selbst auf dem Rücken trug. Oder der doppelte Ritter, den es gleich zweimal gab. Besonders stolz war Henriette aber auf ihren ältesten Traum. In diesem war sie noch kein Jahr alt. Wer bitte außer ihr besaß so einen alten Traum?

Nur einer hielt die Geschichten von Henriettes Träumen nicht für ausgedacht: Herr Anobium. Aus seinen Augen stachen nie Zweifel hervor, wenn ihm Henriette von ihren nächtlichen Abenteuern erzählte. Nein, er fragte nach und rätselte mit Henriette, was genau ihre Träume wohl bedeuten könnten. Henriettes wilde Träume, so nannte er sie.

Und das waren sie auch: wild.

Nun lag Henriette erwartungsvoll da und kuschelte sich unter ihr Federbett, während sich die schlaftrunkene Schwärze wie eine zweite Decke über ihr ausbreitete. Henriette wartete auf den Moment, an dem sie auf die andere Seite glitt.

Die Nacht ist wie ein Netz von Straßen, auf denen man im Traum entlanggehen kann. Einige, aufregend und schön, muss man unbedingt erkunden. Andere aber stecken voller Gefahren. Und in der Nacht, die nun anbrach, verirrte sich Henriette auf eine dieser gefährlichen Straßen.

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Als sie am nächsten Morgen aufwachte und sich erschrocken im Bett aufsetzte, wusste sie, dass etwas Schreckliches geschehen war. Etwas unvorstellbar Gemeines und Hinterhältiges.

Ein Verbrechen.

Jemand hatte ihren Traum gestohlen.

BEI DER SCHWARZEN TANTE

»Gestohlen?« Nick sah seine Schwester zweifelnd an, während sie nebeneinander am Frühstückstisch saßen. Aus der Küche war Oma Mathilda zu hören, die wie jeden Morgen leise vor sich hin sang. »Wie kann man denn einen Traum stehlen?«

Henriette antwortete nicht. Sie ärgerte sich. Wie hatte sie auch nur einen Moment lang glauben können, Nick würde verstehen, wovon sie sprach?

»Ich weiß oft nicht mehr, was ich geträumt habe. Eigentlich«, er sah nachdenklich auf das Salamibrot in seiner Hand, »weiß ich es fast nie. Du hast ihn bloß vergessen. Wie jeder andere auch.« Er biss in sein Brot und kaute.

»Ich habe ihn nicht vergessen«, fuhr ihn Henriette gereizt an. »Ich weiß, dass er gestohlen wurde. Weil ich morgens immer weiß, was ich nachts geträumt habe. Es kommt nie vor, dass ich einen Traum vergesse. Direkt nach dem Aufstehen sind die Bilder noch so klar, dass ich manchmal glaube, dass sie Wirklichkeit sind.«

»Na ja«, sagte Nick, schob sich den letzten Bissen in den Mund und stand auf, »muss ja ziemlich durcheinander sein, dein Kopf, wenn du nicht unterscheiden kannst, was Wirklichkeit und was Traum ist. Ich weiß das immer. Und deshalb weiß ich auch, dass wir jetzt losmüssen.« Er sah seine Schwester auffordernd an, die jedoch keine Anstalten machte, aufzustehen. »Falls du nämlich geträumt hast, dass wir heute nicht Tante Annabel besuchen, dann muss ich dir leider sagen, dass das nicht die Wirklichkeit war.«

Der jährliche Besuch bei Tante Annabel kam jedes Mal mit einer Gewissheit, die beide Kinder schaudern ließ. Tante Annabel war die große Schwester ihrer Oma und (dies war einer der wenigen Punkte, in dem Henriette und Nick ein und dieselbe Meinung vertraten) der unausstehlichste Mensch der Welt. Jedes Mal, wenn die Kinder das Haus betraten, in dem Tante Annabel mit ihrer Haushälterin lebte, war es, als würden sie in ein dunkles Schloss gehen, aus dem sie erst nach vielen, mit bleischwerer Langeweile gefüllten Stunden entrinnen konnten. Die schwarze Tante. So nannten Nick und Henriette sie, denn Tante Annabel trug stets Schwarz, seit sie vor über zwanzig Jahren zur Witwe geworden war. Selbst die Süßigkeiten, die sie auftischte, waren ungenießbar. Einmal war es Nick gelungen, eines der Bonbons eine halbe Minute zu lutschen, ehe er es angewidert ausspuckte. Selbst eine Zitrone, sagte er später, hätte nicht saurer sein können.

Bei Tante Annabel saß man stets ewig im schiefen Haus – das war auch eine Namensgebung der Zwillinge. Denn die alten Möbel von Tante Annabel, verzogen von der Last der Jahre, schienen allesamt keinen rechten Winkel mehr zu besitzen.

Sie klopften. Das Klacken von Rollstuhlrädern drang unter dem Schlitz der Haustür hindurch.

»Mathilda, Henriette, Nikolaus?«, klang es dumpf hinter der Tür.

Nick zuckte beim Klang seines vollständigen Namens zusammen.

»Seid ihr es? Dann kommt doch endlich herein.«

Die Tür öffnete sich. Die Haushälterin der schwarzen Tante nickte ihnen zu, als begrüßte sie neue Mitgefangene. Der unverwechselbare Duft des schiefen Hauses, eine Mischung aus Mottenkugeln, staubigen Polstermöbeln und uralten Erinnerungen, drang ihnen in die Nase.

Die Zwillinge sahen sich an und seufzten. Dann betraten sie das Reich der schwarzen Tante.

Die Stunden vergingen quälend langsam. Wenn eine Pause entstand, weil keiner mehr etwas zu sagen wusste, wurde es entsetzlich still. Das Ticken der alten Standuhr dröhnte so laut, als wäre es der Takt, in dem sich die ganze Welt zu drehen hätte. Die Zwillinge saßen auf ungemütlichen Stühlen. Ihre Rücken waren kerzengerade durchgedrückt. »Sitzt ordentlich. Das schont die gestickten Muster auf den Rückenlehnen«, hatte Tante Annabel ihnen eingeschärft.

Schon nach den ersten Worten, die Tante Annabel und Oma Mathilda miteinander wechselten, schweiften Henriettes Gedanken ab. Wo war ihr Traum nur hin? Sie versuchte sich krampfhaft zu erinnern. Wenigstens an irgendetwas. Ein Gefühl, ein Bild, ein paar Worte. Doch die vergangene Nacht hatte nur Schwärze und Leere hinterlassen. Und unter der Decke aus pechschwarzer, nachtmüder Dunkelheit spürte Henriette die Lücke. Sie hatte nicht nichts geträumt. Sie hatte auch nicht vergessen, was sie geträumt hatte. Nein, das Bild der vergangenen Nacht war ihr gewaltsam entrissen worden. Gestohlen.

Mit angespannter Miene verfolgte sie den Minutenzeiger der Uhr, der sich quälend langsam drehte, wie eine in die Jahre gekommene Schnecke. Henriette seufzte und sah aus dem Fenster. Wie immer, wenn die Zeit nicht vergehen wollte, schickte sie ihre Gedanken auf Reisen. Es war ganz einfach. Sie brauchte nur einen ersten Gedanken, irgendeinen Anfang, und ihr Kopf begann, die Geschichte von alleine weiterzuerzählen. Ein Tagtraum legte sich um sie wie das Netz einer Spinne. Es war nicht das erste Mal, dass sie diesen Traum rief. Jedes Mal in den langen Stunden bei der schwarzen Tante flüchtete sie sich in ihn hinein. In den Traum vom entführten Bruder.

Henriette blinzelte und die Welt um sie herum wandelte sich. Dunkelheit kam und brachte einen Wald, in dem weder Sonne noch Mond je schienen. Lange, dornenbesetzte Triebe krochen über den Holzboden von Tante Annabels Wohnzimmer und kletterten die schiefen Möbel empor, bis sie ein Teil des Waldes waren. Henriette stand von ihrem Stuhl auf, an dessen Lehne leuchtend-braune Beeren hingen, und sah sich um. Nick war fort, doch Henriette ahnte, wo er war. Weit entfernt von hier, im Herzen des Waldes, gab es ein Haus, das innen größer war als außen. Ein Haus, dessen Mauern in leuchtenden Farben gestrichen waren und das so fröhlich schien, als könnte man in ihm nur schöne Tage erleben. Doch in seinem Inneren lebte eine schauerhafte Gestalt. Und dort war auch Nick.

»Sie hat es wieder getan?« Henriette sah ihre Oma alleine an einem Kaffeetisch sitzen, mitten unter den Bäumen. Ein leerer Rollstuhl stand vergessen neben ihr.

»Ja«, sagte Henriette. »Sie hat ihn zu sich gelockt.«

Oma Mathilda schüttelte grimmig den Kopf. »So ein törichter Junge. Er sollte doch wissen, dass man von Fremden keine Süßigkeiten annehmen darf. Und diese werden ihm erst recht nicht schmecken.«

Ja, er hätte es wissen sollen, dachte Henriette. Das war die Quittung dafür, dass Nick immer so gierig war.

»Aber wir können ihn nicht alleinelassen«, sagte Oma Mathilda, als habe sie ihr die Gedanken von der Stirn gelesen.

Henriette nickte. »Komm«, sagte sie und ging voraus.

Etwas raschelte. Kleine Füße liefen über die Decke aus alten Blättern, die sich auf den Waldboden gelegt hatte.

»Was war das?«, fragte Henriette und sah sich unbehaglich um.

»Alben«, antwortete Oma Mathilda, während sie dem Weg folgten. Es gab nur einen Weg in diesem verfluchten Wald. »Lass sie dich nicht berühren, sonst verpassen sie dir einen Traum, der dir die Knochen zu Staub zerfallen lässt.«

Der Weg wand sich immer tiefer in den Wald hinein. Bald schon erreichten sie das bunte Haus. Es wirkte so einladend, dass Henriette nur mit Mühe dem Drang widerstehen konnte, die Tür aufzureißen und hineinzulaufen. Wer hier lebte, wusste, wie man Kinder anlockte. Eine Hexe mit kohlschwarzem Herz.

»Das Fenster«, wisperte Oma Mathilda und Henriette machte sich an die Arbeit. Ihre kleinen Finger schoben sich gerade in den Spalt zwischen Rahmen und Fensterbrett, als sie das Fauchen hörte. Sie wirbelte auf der Stelle herum und der Schrei, der in ihr aufsteigen wollte, blieb ihr in der Kehle stecken.

Ein Alb war aus dem Wald gekommen. Glühende Augen in einem kleinen pelzigen Körper starrten sie an. Der Alb schnüffelte, als würde er Henriettes Furcht wittern, und verzog das Gesicht zu einem schrecklichen Lächeln. Henriette wollte ihre Oma warnen, doch die war verschwunden. Mit einem Mal fühlte sich Henriette wie der einsamste Mensch auf der Welt.

Der Alb kam auf sie zu. Er fletschte die Zähne. Mit seiner Klaue griff er nach ihr, doch in diesem Moment trat plötzlich eine Gestalt von der Seite an ihn heran und rammte ihm einen Ast gegen den Kopf. Der Alb keuchte überrascht auf, dann sank er in sich zusammen.

»Danke«, flüsterte Henriette.

Oma Mathilda nickte ihr kurz zu und betrachtete mit grimmiger Genugtuung den bewusstlosen Alb. »Das wird ihm und seinen pelzigen kleinen Freunden eine Lehre sein. Und jetzt kümmern wir uns um Nick.«

»Wir müssen sie töten«, meinte Henriette, nachdem sie durch das Fenster geklettert waren.

»Nur wenn es sein muss«, antwortete Oma Mathilda. »Vielleicht kann sie erlöst werden.«

Erlöst! Henriette schüttelte den Kopf. Man darf Hexen nicht trauen. Sie müssen getötet werden. Immer.

Aufmerksam sah Henriette sich um. Wenn man es erst einmal betreten hatte, war das Haus viel größer, als es von außen den Anschein hatte. Verlassene Korridore warteten im Dämmerlicht darauf, unachtsame Besucher in die Irre zu führen. Wie jedes Mal, wenn Henriette in diesem Tagtraum hier ankam, hatte sie das Gefühl, von neugierigen Augen beobachtet zu werden. Zuletzt kamen sie an eine Tür, die in hellem Rot gestrichen war. Rot wie Blut, dachte Henriette. Sie stieß die Tür auf und betrat einen riesigen Raum. An dessen Ende erkannte sie die schwarze Hexe. Sie saß auf einem dunklen Thron, die langen Finger ineinander verschlungen, und lachte, als sie die beiden sah.

So hässlich die Hexe mit ihrer langen Nase und den Warzen über dem Mund auch war, Henriette wandte den Blick nicht von ihr ab.

»Wo ist er?«, rief Oma Mathilda ihr zu und ging, von Henriette gefolgt, auf den Thron zu.

»Der Lockvogel sitzt im Käfig«, sagte die Hexe schrill und deutete mit einem ihrer langen Finger an die Decke. Ein rostiger Vogelkäfig hing dort und in ihm saß Nick.

»Bitte!«, rief er zu ihnen herunter. Die Panik ließ seine Stimme ungewohnt hoch klingen.

Die dummen Sprüche sind dir wohl ausgegangen, dachte Henriette. Ein wenig Angst hatte Nick sicher verdient. Doch wegnehmen lassen würde sie sich ihren Bruder nicht.

Henriette sah zu ihrer Oma hinüber. Sie wusste, dass sie versuchen würde, die Hexe zu bekehren. Wie immer.

»Gib es auf«, sagte Oma Mathilda. »Wir sind vom selben Blut.«

»Blut ist gut«, zischte die Hexe. Ihre tief in den Höhlen liegenden Augen zuckten wild von einem zum anderen. »Und eures wird mir besonders schmecken.«

»Komm mit uns!«, beharrte Oma Mathilda. »Erinnere dich daran, wie es war, ehe du das hier geworden bist.«

Die Hexe zögerte und ihr Blick glitt in die Ferne. »Ich war glücklich«, flüsterte sie.

»Ja. Und das kannst du wieder sein.«

»Wirklich?«, fragte die Hexe. »Hilfst du mir?«

»Ja«, sagte Oma Mathilda und ging auf die Hexe zu.

»Nein!«, schrie Henriette, doch es war schon zu spät. Die Hexe schlug Oma Mathilda die spitzen Fingernägel in den Arm und lachte triumphierend.

»Lass sie los!«, rief Henriette. Verdammt, dachte sie. Man darf Hexen einfach nicht trauen. Sie müssen getötet werden. Wirklich immer.

»Ach, und warum?«, säuselte die Hexe mit widerwärtiger Fröhlichkeit. »Hier befehle ich.«

»Du wirst mir gehorchen«, sagte Henriette mit fester Stimme.

»Mach dich nicht lächerlich«, zischte die Hexe böse. »Sei ein nettes Mädchen und ich schenke dir einen schnellen Tod. Du besitzt nichts, was mich dazu bringen könnte, dir zu gehorchen.«

»Doch«, sagte Henriette. Sie straffte sich innerlich. Dies war ihr Moment. Sie besiegte die Hexe und rettete ihre Oma und ihren Bruder. »Ich kenne deinen Namen.«

»Den kennt niemand«, kreischte die Hexe.

Jetzt, dachte Henriette. »Ist das wirklich so, Annabel

Die Hexe würde nun sterben. Ihr Name war das Einzige, was sie fürchtete. Ihr dunkelstes Geheimnis, das ihr nachtschwarzes Herz in alle Ewigkeit schlagen ließ.

Doch die Hexe saß nur dort und rührte sich nicht mehr. Henriette runzelte verwundert die Stirn. Wieso starb die Hexe nicht, wie sonst auch immer?

»Was ist?«, fragte Nick von der Decke herab. »Ist es nicht vorbei?«

Nein, dachte Henriette. Etwas war anders. Verwirrt sah sie sich um. Es war, als habe etwas den Traum verändert. Und dann trat aus dem dunklen Flur, aus dem auch Henriette und Oma Mathilda wenige Augenblicke zuvor gekommen waren, eine Gestalt auf sie zu. Das war neu. Viele Male war Henriette schon hier gewesen und hatte im Angesicht der schwarzen Hexe um ihr Leben gefürchtet. Doch nie war diese Gestalt aufgetaucht. Es schien ein Mann zu sein. Henriette konnte ihn nicht genau erkennen, denn er hatte sein Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben.

»Es tut mir leid«, flüsterte die Gestalt Henriette zu. Henriette kannte diese Stimme! Doch woher? Sie kam nicht darauf. Henriette schauderte, als die Gestalt auf sie zukam.

Henriette schrie.

Und fiel vom Stuhl.

»Was ist denn nur mit dem Kind los?«, fragte Tante Annabel vorwurfsvoll. »Ihr dürft nicht auf meinen Stühlen herumturnen. Sie sind sehr empfindlich.«

Ein wenig verwirrt setzte sich Henriette wieder. Sie war aus ihrem Tagtraum zurück und ihr Herz schlug wie verrückt.

»Ach, Annabel«, hörte sie ihre Oma sagen. »Kinder brauchen Bewegung, sonst wird ihnen langweilig. Weißt du noch, wie du mit Nick und Henriette früher immer dieses Spiel gespielt hast?«

Tante Annabel warf ihrer Schwester einen kühlen Blick zu. »Ja«, sagte sie nach einer kurzen Pause freudlos, »das war ein großer Spaß.«

Henriette erinnerte sich schaudernd, wie sie auf dem knochenharten Knie ihrer Großtante gesessen hatte.

wenn sie fällt, dann schreit sie.

Und wie sie geschrien hatte. Das Bild selbst war verschwommen, aber das Gefühl war noch ganz klar. Eine Mischung aus der Angst, hinunterzufallen, und dem Widerwillen, Tante Annabel nahe sein zu müssen. Henriette schüttelte sich, was ihr einen tadelnden Blick ihrer Großtante einbrachte.

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Der letzte Teil des Besuchs bestand aus einer schier endlosen Verabschiedung. Nie konnte man ganz sicher sein, wann sich die beiden alten Schwestern endgültig voneinander trennen würden. Halb von ihren Stühlen erhoben, begannen sie stets noch das ein oder andere Gespräch und ließen sich dann wieder auf die Sitzflächen fallen. Henriette schielte zur Tür, hinter der die Freiheit lag. Mit fast unerträglicher Langsamkeit näherten sie sich ihr. Und dann, nur einen Moment bevor Henriette hätte schreien können, öffnete die Haushälterin schließlich den Ausgang und die Freiheit hatte sie wieder.

Nick und Oma Mathilda hatten Schwierigkeiten, mit Henriette Schritt zu halten, so schnell trieb sie die beiden die Straße entlang und in den Bus, der sie endlich nach Hause bringen würde. Sie wusste, mit wem sie dringend sprechen musste.

»Er ist seltsam«, sagte Nick während der Fahrt. Hatte er so leicht erraten können, an wen sie dachte?

»Er ist schlau, nicht seltsam«, berichtigte Henriette ihren Bruder.

»Er ist verrückt. Glaub mir. Wer den ganzen Tag mit Büchern verbringt, hört sie irgendwann reden.«

»Bestimmt sagen sie klügere Dinge als du«, erwiderte Henriette kühl.

Als sie an ihrer Station angekommen waren und den letzten Rest des Weges nach Hause gingen, schien Nick nur mit Mühe einen seiner üblichen bissigen Kommentare unterdrücken zu können. Denn das kleine Buchgeschäft am Ende der Straße war dunkel und verlassen. Schon wieder. Fassungslos stand Henriette vor dem Eingang und musste sich bemühen, ihre Tränen zurückzuhalten. Nein, das konnte nicht sein. Sie suchte nach einem Schild an der Tür. Nach irgendeinem Hinweis, der ihr verriet, wann das Geschäft wieder geöffnet sein würde. Doch da war nichts. Niedergeschlagen machte Henriette auf dem Absatz kehrt und ging ins Haus.

In ihrem Zimmer nahm Henriette eines der Bücher, die dort aufbewahrt wurden, und begann zu lesen. Oma Mathilda war eine der treuesten Kunden von Anobium & Punktatum und das zeigte sich auch in ihrer Wohnung. In fast jedem Zimmer standen Bücher oder stapelten sich auf dem Boden.

Henriette hatte früh begriffen, dass zwischen zwei Buchdeckeln ganze Welten eingeschlossen sein konnten. Für Henriette waren es greifbare Träume. Die Worte der Geschichte konnten sie mitnehmen. Fort von den düsteren Gedanken um gestohlene Träume. Und als Henriette müde ins Bett ging, war sie fast gewillt zu glauben, dass ihr Traum vielleicht doch nicht gestohlen worden war und sie sich möglicherweise alles nur eingebildet hatte. Das wäre doch eine schöne Vorstellung, oder? Dass alles nur eingebildet gewesen war. Fast wie ein schlechter Traum.

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Am nächsten Morgen war das Gefühl, bestohlen worden zu sein, noch schlimmer als beim ersten Mal. Wieder kam es ihr vor, als sei eine Lücke zurückgeblieben. Und zwar genau dort, wo die Erinnerung an ihren Traum in ihrem Kopf hätte eingebrannt sein sollen.

Es war klar, dass Nick ihr auch diesmal nicht glaubte. Doch nach einem Blick auf seine niedergeschlagene Schwester verkniff er sich eine Bemerkung. Schließlich murmelte er etwas wie »Das wird schon alles wieder« und ließ Henriette den Rest des Tages in Ruhe.

Am Abend – Herr Anobium hatte sich entgegen aller Hoffnung den ganzen Tag nicht in seinem Geschäft blicken lassen – war Henriette so verzweifelt, dass sie sich den mit Abstand fantasielosesten Menschen anvertraute, die es auf der Welt gab. Ihren Eltern. Am Telefon. Natürlich konnten auch sie nicht verstehen, was geschehen war.

»Jetzt übertreib nicht, Henriette«, sagte ihre Mutter. »Träume werden nicht gestohlen, sie werden bloß vergessen.« Ihre Mutter verstand einfach gar nichts. Dennoch fühlte sich Henriette nach dem Telefonat ein wenig besser. Alleine schon einem anderen Menschen zu erzählen, was geschehen war, hatte gutgetan.

Als sie wenig später im Bett lag, wirbelten düstere Fragen durch ihren Kopf. Ob es nur ihr so ging? Oder wurden auch die Träume anderer Menschen gestohlen und in Wirklichkeit gar nicht vergessen? Wer stahl überhaupt Träume? Vielleicht ein Alb, eines dieser Wesen, die schlechte Träume brachten. Es konnte doch sein, dass ein Alb Gefallen an schönen Träumen fand. Dass er für jeden schlimmen Traum, den er brachte, einen schönen mit sich nahm.

Je mehr Henriette darüber nachdachte, desto schläfriger wurde sie. Es dauerte nicht lange und sie überschritt die Schwelle in die Traumwelt. Ihr Atem ging ruhig.

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Einen Raum weiter schlief auch Nick ein. Draußen fing es wieder an zu regnen. Obwohl Weihnachten nicht mehr fern war, wollte es einfach nicht schneien. Stattdessen tobte ein Gewitter über die Stadt. Der Junge war unruhig. Doch es lag nicht an den Blitzen, die den Nachthimmel aufleuchten ließen, und auch nicht an dem Donner, der dröhnend über das Land zog, als würden dort zwischen den Wolken Riesen wohnen und eine ferne Schlacht schlagen. Es lag an Nicks Träumen.

Heute Nacht war er dort nicht allein.

Man könnte sagen, jemand hatte sich in der Tür geirrt.

Als Nick nach kurzer Zeit erschrocken erwachte, dachte er für einen Moment, das Gewitter hätte ihn geweckt. Verwirrt tastete er um sich. Da war die Decke, dort sein Kissen. Alles schien in Ordnung zu sein. Einige Augenblicke saß er aufrecht in seinem Bett. Sein Herz schlug rasend schnell, als wollte es vor Furcht aus seiner Brust entkommen. Sein Atem ging hastig. Verwirrt bemerkte er, dass seine Finger wehtaten.

Die Erinnerung kam zurück. Etwas hatte ihn geängstigt. Doch es war nicht das Gewitter. Nick hatte etwas gesehen. Eine dunkle Gestalt. Schemenhaft war sie in seinem Traum vorgekommen. Wovon hatte er noch einmal geträumt? Ach ja, von einem Geschäft. Er hatte etwas kaufen wollen. Und immer wieder war er an dieser Gestalt vorbeigegangen. Nick hatte das Gesicht unter der Kapuze nicht genau erkennen können. Diese Gestalt war wirklich seltsam gewesen. Irgendetwas stimmte nicht an ihr. Sie hatte nicht die richtige Farbe und nicht die richtige Größe. Sie bewegte sich falsch. Sie war ganz einfach vollkommen fehl am Platz.

Und dann hatte sich mitten in dem Geschäft eine Tür geöffnet. Es war eine besondere Tür. Ganz und gar golden. Sie strahlte. Die Gestalt hatte etwas gezischt. Sie war ärgerlich gewesen. Dann war sie durch die Tür gegangen. Was dahinter war, hatte Nick nicht erkennen können. Helles Licht war plötzlich durch den Türrahmen geflutet. Die Tür wäre zugefallen, aber im letzten Moment hatte Nick die Hand ausgestreckt, um sie aufzuhalten. Dabei hatte er seine Finger in der Tür eingeklemmt. Es hatte so wehgetan, dass er aufgewacht war.

Nick sah auf seine Finger hinab, die natürlich völlig unverletzt waren. Dann rollte er sich in seine Decke ein und war bald wieder eingeschlafen.

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Nick träumte. Nun ging er eine Straße entlang. Viele Menschen kamen ihm entgegen und er musste aufpassen, dass sie ihn nicht anstießen. »Hey!«, rief er, als er einem Mann in letzter Sekunde ausweichen musste. Der Mann schien ihn gar nicht zu bemerken und ging einfach weiter. Nun kamen Nick immer mehr Menschen entgegen. Sie drängten auf ihn zu, als würden sie vor etwas flüchten. Keiner nahm von ihm Notiz. Er wich den Leuten aus, so gut er konnte, doch mit jeder Sekunde wurde die Straße voller. Da bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Treppe, die hinabführte. Vielleicht der Einstieg zur U-Bahn? Die Menschen um ihn herum schienen die Treppe zu meiden. Der Platz davor war ganz frei.

Ohne zu überlegen, kämpfte sich Nick bis zu ihr vor und blieb dann auf der obersten Stufe stehen. Die Menge zog achtlos an ihm vorbei. Eine der Vorüberkommenden aber warf ihm einen kritischen Blick zu. »Nicht da lang«, zischte die Frau und blieb stehen. Sie musterte ihn wütend.

Nick runzelte die Stirn. Warum nicht hier lang?, dachte er. Als die Frau auf ihn zuging, trat Nick eine Stufe herab.

Die Frau zögerte. »Nicht da lang«, sagte sie noch einmal. »Da unten stimmt etwas nicht.« Dann wurde sie von der Menge mitgerissen.

Nick sah ihr verwundert nach. Er ließ sich grundsätzlich nicht gerne etwas sagen. Die Treppe verschwand nach wenigen Metern im Dunkeln. Ohne weiter darüber nachzudenken, stieg er hinab. Die Geräusche der trampelnden Schritte verhallten bald. Dann war es ganz still um ihn herum. Tiefer und tiefer ging es hinab. Seltsamerweise hatte Nick keine Angst. Etwas Vertrautes wartete auf ihn. Er fühlte es. Die Treppe führte ihn um eine Kurve und …

Nick kniff die Augen zu, so hell wurde es mit einem Mal. Er sah eine goldene Tür. Sie strahlte blendend hell in der Dunkelheit. Was machte denn diese Tür hier? Sie kam ihm bekannt vor. Nachdenklich ging Nick einen Schritt auf sie zu. Sie war bloß angelehnt und klapperte im Wind, der fauchend die Treppe entlangzog. Er öffnete die Tür ganz. Dahinter war es so hell, dass er seinen Blick abwenden musste.

Nick zögerte. Sollte er es wagen? Sollte er hindurchgehen? Er erinnerte sich an eine schemenhafte Gestalt, die in einem anderen Traum an einem anderen Ort hindurchgegangen war. Warum sollte er es nicht auch tun?

Nick atmete tief ein.

Und dann trat er durch die Tür.

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»Henriette, Henriette, wach endlich auf!«

Nick rüttelte an seiner Schwester, die in ihrem Bett lag und leise schnarchte. Das Gewitter tobte noch immer, als wollte es die Welt und jeden, der auf ihr lebte, zu Tode ängstigen. Henriette machte keine Anstalten aufzuwachen. Schließlich wusste Nick sich nicht mehr anders zu helfen: Er hielt Henriette die Nase zu.

Erschrocken fuhr seine Schwester hoch und sah Nick verwirrt an. Sie brauchte einen Moment, bis sie ganz wach war. »Was soll das?«, rief sie ärgerlich und stieß seine Hand von ihrem Gesicht weg.

Nick lauschte in den Flur. Niemand regte sich. Er legte einen Finger an die Lippen. »Nicht so laut.« Er atmete tief durch. Was er Henriette sagen wollte, war ganz unfassbar. Für einen Moment glaubte er, dass das, was er gerade erlebt hatte, nur ein Traum gewesen war. Aber genau das war es ja auch, dachte er bei sich. Ein Traum. Wie sollte er das seiner Schwester erklären?

Henriette merkte, dass etwas nicht stimmte. Dies war kein Streich, den Nick ihr spielen wollte. So benahm er sich nicht, wenn er sich über sie lustig machte. Sie runzelte die Stirn und rückte an die Bettkante, bis ihr Gesicht ganz nah an dem ihres Bruders war. Ihre Nasen berührten sich fast.

»Was ist los?« Sie sprach leise, aber jede Silbe drängte Nick dazu, ihr alles zu erzählen.

Er schluckte.

»Ich glaube, ich weiß, was mit deinen Träumen geschehen ist.«

KONRADIN ANOBIUMS BÜCHER

»Du weißt was?« Henriettes Stimme war wieder lauter geworden. Nick zuckte zusammen. Er schlich zur Zimmertür und schloss sie vorsichtig. Dann ging er zurück zu Henriettes Bett. Wieder donnerte es.

»Es ist ein bisschen kalt«, sagte Nick und sah auf seine nackten Füße hinab.

Widerstrebend schlug Henriette ihre Decke hoch und bedeutete ihrem Bruder, sich neben sie zu setzen. »Und jetzt erzähl mir alles.«

Nick setzte sich neben sie und einen Moment lang suchte er nach dem richtigen Wort, mit dem er beginnen konnte. Seine Gedanken waren noch ganz durcheinander. Sie wirbelten in seinem Kopf hin und her, als wären sie ein Schwarm aufgescheuchter Bienen. »Ich war in deinem Traum«, begann er schließlich. »Verstehst du? Nein? Habe ich mir gedacht. Hm, also anders. Ich habe von dieser Tür geträumt. Aus Gold. Ein Typ ist hindurchgegangen. Er hat nicht in meinen Traum gehört. Also ich meine, er war schon irgendwie da, aber dann ist er hinausgegangen. Hindurch, meine ich. Durch die Tür. Dann bin ich die Treppe runter und auch hindurchgegangen. Und dann war ich in deinem Traum.«

Henriette sah ihn verwirrt an.

Nick seufzte. »Eigentlich ist es egal, wo die Tür genau war. Sie war in jedem Fall in meinem Traum. Und ein Mann ist hindurchgegangen. Ich glaube wenigstens, dass es ein Mann war. Und dann bin auch ich durch die Tür gegangen. Auf der anderen Seite, da war … da war dein Traum. Es muss dein Traum gewesen sein.«

»Mein Traum?« Henriettes Blick war starr auf Nick gerichtet. In ihrem Kopf fühlte sie eine Lücke. Sie spürte sie ganz deutlich. Wieder ein Traum gestohlen. Sie presste die Lippen aufeinander und lauschte gebannt Nicks Worten.

»Es war unser Wohnzimmer«, fuhr Nick fort. »Früher. Ich habe Mama und Papa gesehen. Sie sahen anders aus als jetzt. Auf dem Boden lag eine bunte Decke. Und darauf ein kleines Kind. Es war irgendwie verschwommen. Ich habe es nicht erkennen können. Mama hat es hochgenommen und etwas zu ihm gesagt. Dann habe ich ein anderes Kind schreien hören. ›Diesmal bist du mit Trösten dran‹, hat Mama gesagt. Und Papa ist rausgegangen. Durch eine der vielen Türen, die da waren. Eine war besonders seltsam. Sie war von dunklen Blättern umschlossen. Als würde sie in einen Wald führen.«

Henriette sah ihren Bruder mit großen Augen an. »Wenn das ein Scherz sein soll, dann …«

»Nein«, fiel Nick ihr hastig ins Wort. »Es ist kein Scherz. Es ist doch dieser Traum von dir. Dein ältester Traum.«

Henriette wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Bruder hatte ihr wirklich gerade ihren ältesten Traum beschrieben. »Aber was ist«, begann sie zögerlich, »wenn du meinen Traum einfach nachgeträumt hast?«

»Wie soll das denn gehen?«

»Ich habe dir doch schon so oft von ihm erzählt. Was ist, wenn du ihn einfach selbst geträumt hast? Als hättest du ein Bild gemalt, das ich dir vorher beschrieben habe.«

Nick schüttelte entschieden den Kopf, aber Henriette fand, dass sich ihre Theorie ganz klug anhörte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Nick in einen ihrer Träume gestolpert war. Das war völlig ausgeschlossen. Nein, es musste so gewesen sein, wie sie es gerade gesagt hatte.

Sie lächelte matt. »Ich hätte mich wirklich gefreut, wenn du mir hättest sagen können, was mit meinen Träumen geschehen ist, aber …«

»Warte«, unterbrach Nick sie. Er überlegte einen Moment. »Ich bin noch nicht fertig.« Er stockte.

»Was?«

»Als Papa rausgegangen war, kam ein anderer hinein. Ein Mann, ganz in Schwarz gekleidet. Der, der vor mir durch die Tür gegangen ist. Und nun war er hier. Also dort. In deinem Traum. Er kam einfach rein und hat sich umgesehen. Ich glaube, er hat gar nicht gemerkt, dass ich da war.«

Unwillkürlich musste Henriette an den Tagtraum im schiefen Haus denken. Für einen Moment hatte auch sie dort etwas gesehen. Eine Gestalt, ganz dunkel. Und plötzlich kam ihr der verrückte Gedanke, dass ihr Bruder vielleicht doch keinen Unsinn erzählte.

»Und dann«, fuhr Nick fort, »ist er zu dem Kind gegangen, das auf dem Boden lag, und hat es angesehen.«

»Angesehen? Das hört sich nicht besonders schlimm an.«

»Aber als er das tat, löste sich alles auf. Ich meine, einfach alles. Wirklich alles. Der ganze Traum ist in eine Art Kugel gezogen worden, die der Mann in der Hand hatte. Dann hat er eine Tür mitten in diesem verblassenden Zimmer geöffnet und ist hindurchgegangen. Und dann war ich alleine.« Nicks Hände zitterten und Henriette spürte, dass er wirklich Angst gehabt haben musste. Sie nahm seine Hände in ihre. Nick war so durcheinander, dass er sich nicht dagegen wehrte. »Im letzten Moment, ehe alles weg war, habe ich meine Tür wiedergefunden. Die goldene.«

»Du meinst die Tür, durch die du in das Zimmer gekommen bist?«

»Genau«, sagte Nick. »Die mich in deinen Traum geführt hat.«

Henriette schwieg verblüfft.

»Eines war wirklich seltsam«, sagte Nick in die Stille hinein. »Dieser Mann hat etwas geflüstert. Irgendwie kam mir die Stimme bekannt vor.«

Henriette starrte Nick an. Sie wusste nicht, ob sie sich fürchten oder freuen sollte. Dann musste sie lächeln. »Ja«, sagte sie und fühlte sich mit einem Mal erleichtert. »Das ist merkwürdig. Wunderbar merkwürdig.« Henriette konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihren ältesten Traum geträumt hatte. Sie war wieder bestohlen worden. Diesmal aber war sie nicht niedergeschlagen oder den Tränen nahe. Das, was ihr Bruder ihr berichtet hatte, war so unglaublich, dass es kaum in ihren Kopf ging. Vor allem aber war es ein Beweis dafür, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte.

»Was ist eigentlich geschehen, als du durch diese goldene Tür gegangen bist?«, fragte sie.

»Ich bin einfach aufgewacht. Glaubst du mir?«, fragte Nick ein wenig unsicher.

Henriette nickte. Es gab für das, was Nick behauptete, keine Erklärung. Es war eigentlich ausgeschlossen.

»So etwas könntest du dir nicht ausdenken«, sagte sie und Nick fragte sich, ob sie ihn damit beleidigt hatte oder nicht.

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Später, als Henriette am Frühstückstisch saß, fühlte sie sich müde, aber auch erleichtert. Natürlich begriff sie noch immer nicht, wie Nick in ihren Traum gekommen war. Und ehrlich gesagt, empfand sie die Vorstellung, dass ihr Bruder einen Blick in ihren Traum geworfen hatte, als ziemlich unangenehm. Aber das war nichts im Vergleich dazu, dass sie nun wusste, was mit ihr geschehen war.

Sie hatte kein Auge mehr zumachen können, nachdem Nick ihr Zimmer verlassen hatte. Wie spät mochte das gewesen sein? Vier oder fünf Uhr? Henriette hatte sich ein Buch genommen und zu lesen versucht, doch ihre Gedanken waren immer wieder von den Buchstaben vor ihr auf einen anderen Weg gelenkt worden.

Wer stahl ihre Träume? Und warum?

Und was vielleicht noch wichtiger war: Was konnte sie dagegen tun?

Henriette warf Oma Mathilda über den Frühstückstisch hinweg einen nachdenklichen Blick zu. Nein, sie würde ihr nicht helfen können. Der Diebstahl von Träumen war bestimmt nichts, mit dem sich ihre Großmutter auskannte.

Sie sah zu Nick hinüber. Ihr Bruder gähnte herzhaft. Er war sicher nicht die beste Hilfe, die sie bekommen konnte. Ihr Bruder war immer irgendwie lästig gewesen, doch in dieser Nacht hatte sich etwas zwischen ihnen verändert. Nick hatte die Gestalt gesehen, die ihren Traum gestohlen hatte. Er glaubte ihr. Sie hatte keinen anderen, der ihr helfen konnte.

Noch nicht.

Nach dem Frühstück bedeutete sie ihrem Bruder mitzukommen, während ihre Großmutter leise singend den Abwasch erledigte. Sie folgten den knarrenden Treppenstufen hinunter vor die Tür, die in den Buchladen führte. Henriette hielt einen Moment den Atem an. Bitte sei da!, dachte sie.

Und tatsächlich. Aus dem Buchgeschäft kam ein warmer, heller Glanz, der die Schatten der vergangenen Nacht vertrieb. Henriette spürte, wie ihr mit einem Mal leichter ums Herz wurde. Ein Lächeln breitete sich wie von selbst auf ihrem Gesicht aus. Doch Nicks verzog sich, als habe man ihm eines von Tante Annabels Bonbons in den Mund geschoben. Sie hatten absolut unterschiedliche Meinungen über den Mann, der auf der anderen Seite der Tür Bücher verkaufte.

Konradin Anobium war ein netter, älterer Herr. So zumindest hätte ihn Henriette beschrieben. Sie fand, dass er wie eine schlanke Ausführung des Nikolaus aussah. Er hatte einen weißen Bart und in seinem Habichtgesicht, unter einem Dach aus dunklen Brauen, lagen blaue Augen, die einen stets aufmerksam und wach ansahen.

Nick hingegen mochte Herrn Anobium nicht besonders. Henriettes Bruder hatte noch nie viel mit Büchern anfangen können und daher hatte er von vorneherein wenig Interesse an einem Buchhändler. Noch dazu an einem, der Bücher verkaufte, von denen Nick noch nie etwas gehört hatte und die es sonst nirgendwo zu kaufen gab. Der wichtigste Grund für Nicks Abneigung war jedoch ein Zwischenfall, der sich in dem Buchladen Anobium & Punktatum ereignet hatte und dessen Folgen selbst heute, Jahre später, noch sichtbar waren: Oma Mathilda hatte in dem Geschäft nach einem Geschenk für eine Freundin gesucht. Weder Nick noch seine Schwester konnten damals lesen. Henriette vertrieb sich an jenem Tag die Zeit damit, die Rücken der Bücher zu betrachten. Die verschlungenen Buchstaben, die für sie fremdartige Worte auf die Einbände malten, schienen ihr etwas in einer Sprache zuzuflüstern, die sie noch nicht verstehen konnte. Schon da hatte sie etwas für Bücher übriggehabt.

Nick aber langweilte sich. Er langweilte sich wie noch nie in seinem Leben. Und so fing er an, seine Schwester zu ärgern. Am Ende des unvermeidlichen Streits hatte Nick ein Buch geworfen und Henriette am Kopf getroffen. Die Narbe konnte man noch heute erkennen. Auf das geworfene Buch