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CHLOE ARIDJIS

BUCH DER WOLKEN

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT
VON KLAUS BONN

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Die Originalausgabe des vorliegenden Buches

Edition Nautilus GmbH

Für meine Eltern und Eva

Inhalt

11. August 1986, Berlin

Danksagung

11. August 1986, Berlin

Ich sah Hitler zu einer Zeit, da der Reichstag wenig mehr war als ein schattenhaftes Gerippe seines früheren Selbst und das Brandenburger Tor den Durchgang versperrte, anstatt ihn zu gewähren. Es war ein Abend, an dem die moralischen Überreste der Stadt auftauchten und wie Treibgut dahinglitten, bevor sie wieder auf den Meeresboden herabsanken, um weiter zu zerfallen und zu verrotten.

Berlin war die letzte Station auf unserer Europa-Reise – wir hatten uns aus Spanien durch Frankreich, Belgien und die Niederlande hochgearbeitet –, bald würden wir nach Hause fliegen, zurück über den Atlantik, um mit dem neuen Schuljahr zu beginnen. Meine beiden Brüder, die noch immer vor Energie strotzten, beschwerten sich wegen des bevorstehenden Abschieds. In jeder kleinen und größeren Stadt hatten sie die Nacht durchgemacht und waren bis zum Frühstück nicht zurückgekehrt. Wann immer jemand einen Kommentar darüber abgab, dass das Geld für Hotelzimmer für sie eine Verschwendung war, antworteten sie in launischer Einsilbigkeit zwischen zwei Schlucken Kaffee. Meine zwei Schwestern dagegen, die von Geschichten und Souvenirs schier erdrückt wurden, wollten dringend Ballast abwerfen. Auch meine Eltern fühlten sich erschöpft und waren bereit für die Heimreise. Nicht zu vergessen, dass sechzig Prozent des Geldes, das wir gerade von meinem Großvater geerbt hatten, aufgebraucht war, und die übrigen vierzig waren angeblich auf die Seite geschafft worden für unseren stetig wachsenden Feinkostladen.

An unserem allerletzten Abend kündigten unsere Eltern nach einem frühen Abendessen an, dass sie uns zu einer Protestdemonstration gegen die Berliner Mauer, die fünfundzwanzigjährige »Ikone des Kalten Krieges«, mitnehmen würden. Wo auch immer man in Berlin hinging, stieß man früher oder später darauf, selbst an dem Tag, als wir die Hansa Studios besuchten, wo Nick Cave und Depeche Mode Platten aufnahmen, oder den Secondhandladen, wo Kleider kiloweise verkauft wurden. Ganz egal wohin man ging, ob Osten, Westen, Norden, Süden, früher oder später traf man auf den störrischen Zement-Vorhang, und es ging nicht weiter. Das war jedenfalls unser Eindruck, und so stellten wir uns vor, dass auch wir gegen dieses scheinbar endlose Gebilde protestieren könnten, das selbst unsere Bewegung einschränkte, auch wenn wir lediglich sieben Touristen waren, die die Stadt zum ersten Mal besuchten.

Als wir die Demonstration erreichten, hatten sich bereits Tausende Leute westlich des Brandenburger Tors versammelt, junge Paare, alte Paare, herumhüpfende Kinder, Punks mit Hunden, Gruftis, Frauen mit Stoppelfrisuren, Männer in blauer Arbeitskleidung – im Rückblick ein Querschnitt dessen, was West-Berlin in jenen Tagen ausmachte. Die meisten Leute blieben stehen, aber es gab auch große Gruppen, die sich auf den Gehwegen ausbreiteten, sangen, Sprechchöre anstimmten und Bierflaschen kreisen ließen. Wir hatten gehört, dass sich in der vorletzten Nacht eine Menschenkette entlang der Mauer gebildet hatte mit dem Ziel, die ganzen 155 Kilometer zu umfassen.

Indes marschierten auf der östlichen Seite Männer in grauen Uniformen und mit Stahlhelmen die Karl-Marx-Allee auf und ab. Ich malte mir ein drastisches Aufeinandertreffen von Metall und Fleisch aus, von Ordnung und Chaos, von Gleichförmigkeit und Vielfalt, doch wusste ich, dass diese Aufeinandertreffen im realen Leben weit abstrakter waren. Meine Eltern hatten uns über die Grenze mitnehmen wollen, um uns »ein wahres Porträt des Kommunismus« vor Augen zu führen, aber es hatte ein unerklärliches Problem mit unseren Visa gegeben, sodass wir die ganze Woche über im Westen geblieben waren und uns so gut wir konnten ausmalen mussten, wie das Leben auf der anderen Seite wohl aussähe, zunehmend fasziniert von den Begriffen »diesseits« und »jenseits«.

Immer noch kamen Leute. Das Singen und Skandieren wurde lauter. Ich konnte kaum hören, wenn jemand aus meiner Familie sich vorbeugte, um etwas zu sagen, als ob unsere Sprache in jener Nacht ausgesetzt worden und das Deutsche das einzige Kommunikationsmittel wäre. Doch es gab andere Wege, seine Stimme zu erheben, und binnen kurzem hatten wir uns der Kette angeschlossen, die sich an der Mauer in die Länge zog. Ich umklammerte die Hand eines Mannes mit Pferdeschwanz und schwarzer Lederjacke, bis einer meiner Brüder darauf bestand, den Platz mit mir zu tauschen. Ich versuchte, mir die Tausenden von Menschen quer durch West-Berlin vorzustellen, mit denen wir durch diese Geste der Solidarität verbunden wären, aber der Gedanke war schwindelerregend, sodass ich stattdessen mein Augenmerk auf die Punks richtete, die in der Nähe mit ihren Hunden spielten, indem sie etwas warfen, das aussah wie zerrupfte Tennisschuhe, wonach die Hunde rannten, um es wieder zurückzubringen. Dann warfen die Punks den Köder in eine andere Richtung. Hin und wieder ging ein Wurf fehl und traf jemanden am Kopf oder an der Schulter, ein Anblick, der lautes Gelächter auslöste.

Die Dämmerung brach herein. Manche der Organisatoren bahnten sich einen Weg durch die Menge und verteilten weiße Kerzen. Viele Leute lehnten ab und machten stattdessen ihre Feuerzeuge an. Angesichts des Lichtermeeres wirkte der Reichstag noch bedrückender, noch verlassener, und das Brandenburger Tor mit seiner Siegesgöttin und seinen zwölf dorischen Säulen sah aus, als sei es durch die Abenddämmerung doppelt zum Schweigen gebracht. Nicht weit von uns sprang ein alter Punk mit einer Taschenlampe auf die Mauer und schrie ein paar Worte in den Osten hinüber, wütende Worte, obgleich wir nicht verstehen konnten, was er sagte. Auf der anderen Seite, erzählte uns meine Mutter, würden unsichtbare Augen jede einzelne seiner Bewegungen verfolgen. Niemand schien sich drüben in den Wachtürmen zu befinden, und doch stellten wir uns Männer mit Rundmützen und katzenhaften Augen vor, die das ganze Spektakel überwachten, jederzeit bereit zuzuschlagen, sollte jemand von uns auch nur einen Zoll weit auf ihr Gebiet vordringen.

Wir blieben auf der Demonstration, bis die Kerzen heruntergebrannt waren, das Benzin in den Feuerzeugen ausging und alle Stimmen heiser wurden, bis unsere Armbanduhren Mitternacht anzeigten, die Leute ihr Zeug zusammenpackten und sich auf den Weg machten. Wir folgten unseren Eltern die Straße hinunter, und viele weitere Straßen hinunter, in die Richtung, die scheinbar jeder einschlug. Es war unmöglich, ein Taxi zu finden. Wir würden die U-Bahn nehmen müssen, und so stiegen wir zusammen mit Horden von anderen an der Station Gleisdreieck hinab wie ein kreischendes achthundertköpfiges Monster.

Die ungestüme Menge machte es unmöglich, in Reichweite der Fahrkartenautomaten zu gelangen, daher stiegen wir bei der Einfahrt des nächsten Zuges ein, ohne bezahlt zu haben. Wir spürten, dass in dieser Nacht alles erlaubt war. Der Waggon war vollgestopft mit Hunderten von Menschen. Sich auch nur umzudrehen war unmöglich, und durch die Hitze fühlte sich mein Pulli allmählich an wie eine Zwangsjacke. Es gab aber kaum genug Platz, ihn auszuziehen. Nachdem ich am Reißverschluss gezogen und erfolgreich einen Arm befreit hatte, bemerkte ich, dass meine Familie am anderen Ende des Wagens stand; in dem Trubel mussten wir durch verschiedene Türen eingestiegen sein, und jetzt waren Dutzende von Leibern zwischen uns, das war allerdings nicht so schlimm, da ich wusste, wo ich aussteigen musste. Wie in einer bizarren kubistischen Anordnung sah ich nur Kanten und Bruchstücke ihrer eckigen Gesichter, die Lippen meiner Mutter, die Nase meines Vaters, das Haar meiner Schwester. Ich erinnere mich noch, wie ich damals dachte, dass dieses Amalgam, ein aus beliebigen Teilen jedes Einzelnen zusammengewürfeltes Mischwesen, um ein Vielfaches attraktiver gewesen wäre als jenes komplizierte Sechs-Personen-Paket, an das ich mein Leben lang gebunden war.

Der Zug setzte seine Fahrt fort, und ich fing an, die in der Nähe sitzenden und stehenden Passagiere in Augenschein zu nehmen. Es herrschte allgemeine Heiterkeit im Waggon, und allmählich hatte ich das Gefühl, mich in einer Art Vogelhaus zu befinden, wenngleich es mit weniger exotischen Spezies bevölkert war als die, die wir zu Hause hatten. Gruppen großer schwarzer und grauer Vögel mit blonden Büscheln lachten und erzählten Witze, während schmuddelige braune Vögel mit gesträubtem Gefieder mit Bierflaschen herumfuchtelten. Ernste Vögel lasen die Abendzeitung, andere krächzten über Kreuzworträtseln, und die kleinsten Vögel, von denen es nur wenige gab, piepsten gelegentlich, als ob sie sich der Hierarchie zwar bewusst, aber unsicher wären, wie sie daran teilhaben sollten. Dann bemerkte ich einen Vogel, einen mit ungewöhnlichem Gefieder, der, anders als die anderen, scheinbar nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Direkt vor mir saß eine sehr alte Frau, fast ein Jahrhundert alt, würde ich sagen. Sie trug ein Kopftuch, das eine breite Stirn umrahmte, die einem wütenden Planeten gleich hervorlugte. Sie hatte tief liegende dunkle Augen und ein viereckiges Gesicht mit Hängebacken, das auffallend männlich wirkte. Steif und stramm saß die alte Frau auf ihrem Platz, umklammerte ihre Handtasche und starrte geradeaus.

Das Gesicht mit den Hängebacken, die ausladende Stirn, die tief liegenden, wie Kohle glühenden Augen, alles schien auf so schreckliche Weise vertraut, und ich fühlte, dass ich dieses Gesicht schon vorher gesehen hatte, jedoch in Schwarz-Weiß. Da ich direkt vor ihr stand, war mein Blickwinkel bestens dazu geeignet, es genau zu studieren, und je mehr ich hinstarrte, desto mehr wurde es mir zur Gewissheit … ja, dass es Hitler war, Hitler als eine alte Frau, auf der Fahrt gen Westen. Das ist Hitler, sagte ich zu mir selber, es besteht kein Zweifel daran, dass das Hitler ist. Die alte Frau hatte dieselbe Gesichtsform, dieselben schwarzen Augen und die hohe Stirn, und jetzt, als ich wieder hinschaute, war da sogar ein schattiges Rechteck, wo sonst der Schnurrbart gewesen wäre. Ich starrte und starrte noch länger, versteinert, entsetzt, verblüfft von dem, was ich sah. Dann ruckelte der Zug auf einmal in eine Kurve. Die Frau, aus ihrer starren Haltung aufgeschreckt und in die Gegenwart zurückgeworfen, hob schließlich den Kopf und schaute sich um – und erwischte mich dabei, wie ich sie anstarrte. Ich konnte es nicht fassen: Ich hatte Blickkontakt mit Hitler. Hitler hatte Blickkontakt mit mir. Wenigstens für ein paar Sekunden. Die Frau runzelte die Stirn und wandte sich ab, dann wieder mir zu, mit einem fast unmerklichen Lächeln, bei dem ihre Lippen sich kaum bewegten, womöglich um freundlicher zu wirken, da mein Stieren sie aus der Fassung gebracht haben musste.

Mein Herz pochte. Dieser Anblick, zusammen mit der stickigen Hitze im Waggon, war genug, um jemanden zu Tode zu erschrecken, selbst mich Vierzehnjährige, und doch war ein Herzinfarkt im Alter von vierzehn Jahren immer noch wahrscheinlicher, als Hitler als alte Frau verkleidet in der U-Bahn zu sehen. Wie konnte es sein, fragte ich mich, dass ich mich vierzig Jahre nach dem Krieg Auge in Auge mit dem Teufel persönlich wiederfand, dem Teufel, dessen Name allein einen Schatten auf fast jeden Bereich meines jungen Lebens warf? Ich winkte meinem Bruder Gabriel zu, der zufällig in meine Richtung blickte, und signalisierte ihm durch eine Geste der Dringlichkeit, zu mir zu kommen, selbst wenn er sich durch die Menge durchboxen müsste, aber er warf nur einen Blick auf die großen Deutschen, die zwischen uns standen, und zuckte mit den Schultern. Sodann deutete ich auf meine Eltern und zeigte ihm an, er solle ihre Aufmerksamkeit wecken, doch der Blödmann zuckte nur nochmal mit den Schultern und wandte sich ab. Meine Mutter, ihre Nase tief in einem Reiseführer, war ein hoffnungsloser Fall, genauso wie mein Vater, der mit dem Versuch beschäftigt war, die Zeichen an den Zugwänden zu entziffern. Meine zwei Schwestern waren genauso unnütz; sie hatten sich zu einer Besprechung im Flüsterton aneinandergeschmiegt und alles außer sich selbst vergessen, und meinen anderen Bruder, der mindestens von zehn Leibern verdeckt war, konnte ich nicht einmal sehen.

Meine ganze Familie stand festgewurzelt da, wie die Metallstangen der U-Bahn, während ich nur einen Fuß von Hitler entfernt stand, ohne einen Zeugen in Sicht. Zu meiner großen Überraschung schien niemand die Frau mit dem Kopftuch zu bemerken. All diese Vögel waren mit dem Sträuben ihres Gefieders und geselligem Gekreische zu sehr beschäftigt, als dass sie ihren Mitreisenden viel Aufmerksamkeit hätten schenken können, schon gar nicht denen, die unter Augenhöhe auf einer anderen Stange hockten. Aber wie konnte kein anderer diese Stirn und diese Augen und die schattige Stelle zwischen Nase und Mund bemerken, da doch die Kombination dieser Merkmale auf so grelle, so obszöne Weise real, tatsächlich und gegenwärtig schien?

Wir rasten weiter westwärts. Der Zug hielt am Wittenbergplatz und dann am Zoologischen Garten. Dutzende Menschen stiegen aus und schufen einen erheblichen Freiraum, aber meine Familie verharrte auf ihrem Platz. Jetzt, da die Menge sich ausgedünnt hatte, auch wenn immer noch einige Leute zwischen uns standen, fielen mir kräftige Kerle auf, die an jeder der vier Türen des Waggons postiert waren, vier Bussarde in ihren Sechzigern oder Siebzigern, allesamt in die gleichen dicken grauen Mäntel gehüllt. Es bestand keine Notwendigkeit für solche Mäntel im August, Mäntel, die aus einem so dicken Stoff geschneidert waren, dass er kaum Falten warf. Ich fragte mich unwillkürlich, ob sie etwa Waffen darunter versteckt hielten.

Ihre Augen waren auf die alte Frau fixiert. Hin und wieder drehte sich dann einer um, um die Fahrgäste um sie herum zu betrachten, mit verengten Augen ihre Bewegungen zu beobachten, aber die meiste Zeit über sahen sie die Frau an. Das sind frühere SS-Männer, schoss es mir durch den Kopf, die hier sind, um das unerkannte alte Weib zu schützen, alternde Geheimagenten, die den Krieg überlebt und die letzten vierzig Jahre mit ihrem Führer im Verborgenen gelebt haben. Die alte Frau hob einen Arm, um ihr Kopftuch zu richten. Zwei Wärter spannten ihre Schultern, da sie die flüchtige Geste als einen Befehl missdeuteten. Ich konnte es nicht länger ertragen und versuchte erneut, meine Eltern herüberzuwinken, aber meine Mutter klebte an ihrem Reiseführer, mein Vater an den Anzeigeschildern, meine Schwestern an ihrem Geschwätz und meine Brüder wer weiß woran.

Am Sophie-Charlotte-Platz erhob sich die alte Frau von ihrem Sitz und hastete an mir vorbei. Ihre Schulter stieß meine ein wenig heftiger an als nötig. Ich wich zur Seite. Sekundenschnell verließen alle vier Männer ihre Positionen an den Türen und näherten sich, um einen engen Kreis um sie herum zu bilden. Der Zug kam zum Stehen. Zwei der Bussarde stiegen aus, dann die alte Frau, gefolgt von den beiden anderen. Die graue Bande war von Bord gegangen. Die Türen schlossen sich, und der Zug, von einer beträchtlichen Last befreit, fuhr weiter.

Niemand aus meiner Familie glaubte mir, nicht einmal mein Bruder Gabriel, der noch am ehesten Sinn für Abenteuer hatte. Sie sagten mir, es sei absurd: Hitler hat sich 1945 in seinem Bunker erschossen. Das war Allgemeinwissen. Sein Schädel war von den Sowjets gefunden worden, wurde in einem Museum in Moskau zur Schau gestellt. Dafür gab es mehr als genug Beweise. Ende der Geschichte.

Drei Jahre später fiel die Mauer, und ich wurde auf die eine oder andere Art erwachsen.

Die neue Wohngegend war von heiterer Referenzlosigkeit, banaler wie nostalgischer Art, und die Wohnung genügte allen üblichen Kriterien – fünfzehn Minuten zum Park, zehn zur Sehenswürdigkeit, fünf zur Bäckerei. Der Rest war kaum von Belang. Ich würde mich anpassen. Seit meiner Rückkehr nach Berlin im Jahr 2002 hatte ich schon in Charlottenburg, Kreuzberg und Mitte gewohnt. Jetzt war, verspätet vielleicht, wenn man bedenkt, wie schnell sich die Dinge veränderten, die Zeit gekommen, es mit dem Prenzlauer Berg zu versuchen. Nach fünf Jahren hatte ich immer noch alle zehn oder zwölf Monate den Impuls, ein neues Zuhause zu suchen. Räume wurden zu vertraut, zu dehnbar, zu gefällig. Langeweile und Frust hielten Einzug. Und obwohl sich von einem Dach zum nächsten natürlich nichts wirklich änderte, gab ich mich gern der Illusion hin, dass kleine Veränderungen sich im Innern abspielten, dass mit jedem Umzug etwas erneuert wurde.

Meine letzte Behausung war mit Decken gesegnet, die doppelt so hoch waren wie ich, mit Holzböden, Doppelfenstern mit Messinggriffen und einer sowjetischen Badewanne aus Aluminium aus den Achtzigern, die noch immer das Firmenschildchen an der Seite kleben hatte. Alles in allem war es ein gutes Geschäft für dreihundert Euro im Monat, und zweifellos ein Aufstieg im Vergleich zu meiner letzten Bleibe an einer schlaflosen Straßenkreuzung in Kreuzberg. Wie bei vielen alten Häusern gab es ein Vorderhaus, wo ich wohnte, und hinten einen Innenhof, der an allen drei Seiten von weiteren Wohnungen umschlossen war. Auch wenn sie keine Aussicht auf die Straße boten, so waren doch Ruhe und kleine Balkone die größte Entschädigung für diese Wohnungen im rückwärtigen Teil. Manche Familien schienen besonders stolz zu sein auf ihre Blumenarrangements, Miniaturgärten, die aus dem Beton herausragten; bei denjenigen, die es nicht so mit der Blumenzucht hatten, wurde die zusätzliche Fläche genutzt, um sie mit allem möglichen überschüssigen Zeug vollzustopfen, das drinnen keinen Platz hatte, von Plastiktischen über Schreibtischstühle und Fahrräder bis zu Wäscheständern. Ich konnte von meinem Küchenfenster, das einen großzügigen Blick in den Hof gewährte, auf diese Balkone sehen, obgleich ich es vorzog, in die alte Eiche zu schauen, die in der Mitte aufragte, auf ihren dicken Stamm und ihr wechselvolles Laub, das freundlicherweise die Reihe der grellen Wertstofftonnen dahinter ausblendete.

Am Nachmittag des Unwetters gab ich der üblichen Rastlosigkeit nach, die von zu viel Zeit in vier Wänden herrührte, zog eine Jacke über und drehte zweimal den Schlüssel im Schloss. Draußen auf der Straße bewegte ein mildes Lüftchen die kleineren Zweige der Bäume, ließ aber die größeren in Ruhe. Es war Ende August, die Luft war warm, mit einem Hang zur Feuchtigkeit. Als ich vor meinem Haus stand und überlegte, in welche Richtung ich gehen sollte, bemerkte ich ein runzliges Gesicht, das mich hinter der Gardine eines Fensters im Erdgeschoss anstarrte. Zwei andere, gleichermaßen teilnahmslose Gesichter waren direkt dahinter postiert. Das waren meine Nachbarn von unten, drei uralte Frauen, sehr wahrscheinlich Kriegswitwen, und bisher waren sie die einzigen Nachbarn, die ich gesehen hatte. Wir hatten noch kein Wort miteinander gewechselt, aber ich war mir sicher, dass meine Ankunft sie mit Diskussionsstoff während ihrer leeren, lieblosen Stunden versorgt hatte.

Wie ich meine eigenen leeren, lieblosen Stunden verbrachte, änderte sich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Das Geld, das von zu Hause aus eintrudelte, war eine ergänzende Hilfe zu den geringen Ersparnissen, die von meiner letzten Beschäftigung als Assistentin des Redaktionsassistenten einer zweitrangigen psychologischen Zeitschrift übrig geblieben waren. Nach sechs Monaten wollte ich nichts mehr wissen von den unzähligen launenhaften Gezeiten des menschlichen Gehirns und auch nichts über die Behandlung von Pathologien, die jeden von uns erschüttern. Aus Stolz machte ich einen Tag vor der geplanten Kündigung meines fadenscheinigen Vertrags den Abgang. Mir war schwindlig von dem Geruch nach Mottenkugeln, den Herr Schutz, mein Arbeitgeber, ausströmte, als er mir nicht von der Seite wich, während ich meine Schreibtischladen ausräumte und alle persönlichen Daten auf dem Computer löschte. Ich stopfte alles in eine Aldi-Tüte, während er in einer Wolke aus Kampfer herumlungerte und aufpasste, dass ich ja nichts mitnahm, was nicht mir gehörte.

An der Ecke vor meiner Bäckerei, einem jener Orte mit langen Reihen von Obstkuchen, Cremetorten und Napfkuchen mit radioaktivem rosa Zuckerguss, beobachtete ich, wie vier Jungen eine Frau mit Hut bedrängten, als sie gerade eine Papiertüte öffnete. Vier Paare ungeduldiger Hände langten gierig nach den Zimthefeschnecken, die eine nach der anderen verteilt wurden. Auf einmal blies eine Windbö den Hut der Frau weg, doch die Kinder nahmen keine Notiz davon. Noch bevor die Frau reagieren konnte, sprang ein Postbote, der vorbeikam, von seinem gelben Rad und rannte, ihn zu holen. Vom Laden drinnen schaute der Bäcker zu.

Es wurde schwüler, eine Säule heißer, aufsteigender Luft umgab mich, als ich die nächste Straße entlangging, dann die nächste und noch eine. Ich machte eine Pause vor den zerbrochenen Fensterscheiben des einst quicklebendigen und jetzt menschenleeren Café Titanic, dessen Schild von dichtem Efeu halb verdeckt wurde. Ein paar Häuser weiter waberte der Geruch von Lack aus einem Antiquariat, wo zwei polierte Mahagonitische, schwankend auf ihren neuen Beinen, auf dem Pflaster standen.

Es zog sich allmählich zu, und ich beschloss, nach Hause zurückzugehen. Eine Plastiktüte, der fortgeworfene Geist des Gegenstands, den sie einst trug, wehte mir entgegen und haftete einige Sekunden lang an meinem Bein, bevor es mir gelang, sie abzuschütteln. Vögel zwitscherten nervös in den Bäumen, waren aber unauffindbar, kein einziger Schnabel, keine Klaue oder Feder, als ich aufblickte. Und dann verstummten sie. Der Himmel war um einen oder zwei Töne dunkler geworden, eine schiefergraue Gewitterwolke, die den Horizont befleckte.

Die Atmosphäre veränderte sich rasch, die Luft erfuhr einen neuen Auftrieb. Auch die größeren Äste der Bäume schaukelten nun hin und her. Alles war in Bewegung. Feurige Striche ließen den Himmel aufleuchten, und eine oder zwei Sekunden später folgte ihnen ein tiefes, gleichbleibendes Grollen. Es war, als ob eine durch die starken Funken elektrisierte Viehherde auf die Straßen Berlins losgelassen worden wäre. Ich beschleunigte meine Schritte.

Es fing an zu tröpfeln. Die Tropfen wurden größer, fielen häufiger. Binnen kurzer Zeit verwandelten sich die Straßen in einen Schwindel eilender Gestalten. Eine untersetzte Frau, deren obere Hälfte unter einem Regenschirm versteckt war, watschelte vorbei wie ein Aufziehpilz.

Am Eingang zu meinem Haus fiel mir eine der alten Frauen an ihrem Fenster auf, wie sie, uns allen gleich, nach Zeichen Ausschau hielt, aber als sie mich sah, verzog sie sich rasch hinter der Gardine. Zurück in meiner Wohnung hastete ich durch die Zimmer, um eventuell offen gebliebene Fenster zu schließen – es gab tatsächlich zwei, in der Küche und im Bad –, doch das ging nicht ohne Schwierigkeiten. Der stärker werdende Druck kämpfte um Einlass, übte einen ungeheuren Sog auf jede Eingangsstelle aus, als ob windige Vorboten vor einem heranrückenden Herrscher die Flucht ergriffen. Ich musste fest drücken. Vom Wohnzimmer aus konnte ich den Atem des Sturms sehen, wie Wipfel sich neigten und Markisen flatterten. Alles war in Bewegung.

Sobald ich die Fenster geschlossen hatte, gab es nichts weiter zu tun als mich an den Küchentisch zu setzen und zu warten, bis der Sturm vorüberzog. Sekunden später geriet das ganze Gebäude ins Wanken, um einen Zentimeter nur, denke ich, vielleicht weniger, als Antwort auf das zornige Vakuum draußen. Ich spürte, wie es versuchte, uns in sein bewegliches Chaos hineinzuziehen, mitten hinein in den Wirbel seines Energie-Reaktors, genug Energie, um ein Dorf über ein Jahr mit Strom zu versorgen. Der Regen machte einen ohrenbetäubenden Lärm, ein ungleichmäßiger Platzregen, als würde man zehntausende Aquarien ausschütten. Ich stand an meinem Fenster. Nichts als zwei Glasscheiben trennten mich von der Sturzflut, und ich schaute zu, wie der Regen Dreck von Autofenstern, Versprechen aus ihrer Erfüllung und einen kleinen Vogel aus seinem Nest schwemmte.

Doch hielt mein Haus dem Wind, dem Regen und dem Donner stand. Da das Gewitter nicht imstande war, es zu entwurzeln, zog es schließlich ab. Es war ein klassisches Sommergewitter, ein Werk des heißen Wetters. Unser eigentliches Gefecht war kurz, dauerte höchstens ein paar Minuten, und sobald das Gebäude zu wanken aufgehört hatte, ging ich durch die Zimmer, um nachzusehen, was sich verändert haben mochte. Alles stand an seinem Platz, die Gegenstände auf Tischen und Regalen waren nicht verschoben, sogar das Glas mit Wasser neben meinem Bett machte nicht den Eindruck, als sei etwas übergeschwappt. Das Gewitter hatte rein gar nichts zurückgelassen, so schien es wenigstens, bis mir der Schmutz auffiel. Eine Linie Schmutz neben der anderen, hochgestiegen aus den Ritzen zwischen den Dielen. Abgesehen vom Bad mit seinem nahtlosen Linoleum war jedes Zimmer von langen Staubraupen durchkreuzt. Der Schmutz und Staub von Jahrzehnten, so stellte ich mir vor, der durch die bloße Sogwirkung an die Oberfläche gezogen worden war. Es sah aus, als ob jemand eine Armee von Termiten losgelassen hätte. Ich brauchte zwanzig Minuten, um alles aufzufegen, und nochmal zwanzig, um von Zimmer zu Zimmer zu wandern, mit dem zunehmenden Verdacht, dass, auch wenn das Gewitter weitergezogen war, sich etwas, und sei es noch so gering, in den Grundfesten des Gebäudes verschoben und neue Bruchlinien bloßgelegt hatte.

Am Tag nach dem Unwetter war der Himmel leer, ununterbrochenes Blau, mit Ausnahme einer von einem Flugzeug zurückgelassenen weißen Spur. Als die Küchenuhr zwei Uhr anzeigte, beschloss ich, einen Spaziergang zu machen, um zu sehen, welche Veränderungen angerichtet worden waren. Es war Sonntag, der ideale Tag zum Bummeln, besser noch als Samstag, und ich musste aus dem Haus.

Seit meiner Ankunft in Berlin war ich zu einer Fachfrau in Sachen verlorener Zeit geworden. Es war unmöglich, über all die Stunden Rechenschaft abzulegen. Die Zeiger auf Uhren und Armbanduhren machten wahllos Sprünge nach vorne oder hinkten hinterher. Die Stadt hatte ihren eigenen chronometrischen Lauf. Tage neigten sich ihrem Ende entgegen, und ich fragte mich, was ich vollbracht hatte, wie ich denn das Heute vom Gestern und Vorgestern unterscheiden sollte. Das war besonders dann offenkundig, wenn ich mich zwischen zwei Jobs befand. Aber ganz egal, wo ich in meinem Leben stand, immer zog ich die Vorfreude auf das Wochenende dem Wochenende selbst vor. Und dann war da noch die Tatsache, ich konnte es nicht leugnen, dass ich nach fünf Jahren in der Stadt noch immer niemanden gefunden hatte, mit dem ich meine Sonntage hätte verbringen können. Es hatte den gelegentlichen Gefährten für ein paar Wochen oder Monate gegeben, wie den verträumten, aber konfusen Studenten von der Humboldt-Uni, oder den lärmenden Schauspieler von der Volksbühne, der nie ohne seine Tweedmütze ging, aber nichts war jemals von Dauer gewesen oder hatte mich auch nur tiefer berührt, sodass mit jedem Sonntag die Frage aufkam, wie ich die Stunden füllen sollte. Ich hatte kein Problem damit, von Montag bis Freitag allein zu sein. Die Samstage waren neutral, doch auf jeden Sonntag musste ich vorbereitet sein. Es gibt das Alleinsein, und es gibt die Einsamkeit. Die Zeit von Montag bis Samstag war geprägt vom Alleinsein, aber an Sonntagen verhärtete sich dieses Alleinsein zu etwas anderem. Nicht, dass ich notwendigerweise meine Sonntage mit jemandem verbringen wollte, aber ich wurde an diesen Tagen schlicht daran erinnert, dass ich in der quälenden Gedehntheit, die nur Sonntage haben können, allein war.

Der Tag nach dem Unwetter war so ein Sonntag. Ich zog eine Jacke über und ging in Richtung Wasserturm, ein altes Gebäude, das von Geschäften und Restaurants umgeben ist. Es hatte sich abgekühlt, die Stadt war besänftigt, alles war um einiges ruhiger. Ich ging an der Bar Gagarin an der Ecke vorüber und überlegte, ob ich eintreten sollte. Soweit ich mich erinnerte, gab es dort hausgemachten Borschtsch mit dicken Brotscheiben. Als ich dastand und abwägte, ob ich hineingehen oder meinen Spaziergang fortsetzen sollte, tauchte wie aus dem Nichts ein schwarzer haarloser Hund auf. Es war ein kleiner Hund mit trockener straffer Haut, wie die eines Nashorns, und einem schütteren schwarzen Irokesenschnitt, der von seiner Stirnspitze bis ins Genick hinunter verlief. Sein Schwanz war niedrig angesetzt und eingeklemmt, dem Blick nahezu entzogen, seine Genitalien so schwarz wie sein ganzer Rest.

Alle bemerkten ihn gleichzeitig, und ich sah amüsiert zu, wie die Deutschen, die gerade draußen zu Mittag aßen, Messer und Gabel hinlegten und ungläubig glotzten. Sie waren gewiss außerstande, diese Kreatur mit der Gestalt und dem Gang eines Hundes, aber ohne jenes andere charakteristische Merkmal, das Fell nämlich, einzuordnen. Ich aber erkannte ihn sofort, diesen Xoloitzcuintle, kurz Xolo, Angehöriger der uralten Hunderasse aus Mexiko, die nach dem aztekischen Mythos die menschlichen Seelen durch Mictlan, die neunte und damit unterste Stufe der labyrinthischen Unterwelt, zu ihrer ewigen Ruhestätte führte. Es hieß, dass es nur viertausend Xolos gebe, aber hier war einer, stand an einer Straßenecke in Berlin an einem kühlen Sonntag im August.

Ohne diese Wand aus fragenden Blicken wahrzunehmen, oder einfach gleichgültig gegenüber ihr, wählte der Hund mich aus und trottete zu mir herüber. Er hob seinen Kopf und schaute in mein Gesicht. Seine Augen waren dunkel und glänzend. Sie strahlten etwas Unergründliches, geradezu Prähistorisches aus. Ich bückte mich, um ihn zu streicheln. Seine Haut war trotz der kühlen Luft auf eigenartige Weise warm, und ich betastete einen dunklen Leberfleck auf seiner Wange, aus dem ein Büschel grober Haare spross. Ich bat die Kellnerin um eine Schale mit Wasser. Binnen Sekunden schleckte der Hund es auf, wobei seine Zunge sich in schockierendem Rosa vom Schwarz seines Körpers abhob.

»Ist das Ihr Hund?«, fragte die Kellnerin.

Ich schüttelte meinen Kopf, Nein, während ich arg in Versuchung war, Ja zu nicken.

»Nun, wer weiß, woher er gekommen ist.«

Ich kniete mich nieder und murmelte einige freundliche Worte ins Ohr des Xolos. Sollte ich ihn mit nach Hause nehmen, fragte ich mich, oder mit ihm Gassi gehen? Aber was wäre, wenn sein Besitzer in einem anderen Café auf dem Platz säße? Doch schien er niemandem zu gehören. Ich beschloss, einmal um den Block zu gehen und die Optionen auszuloten. Mir fiel ein, einmal gehört zu haben, dass die Haut von Xolos besonders empfindlich für Wind und Sonnenlicht sei und alle möglichen Hautausschläge die Folge sein könnten, wenn sie zu lange den Elementen ausgesetzt wäre. Wer kümmerte sich um diesen Hund in Berlin, und wie hielt er die deutschen Winter aus? Sollte das alles sein, was er nach Jahrhunderten zurückbekam, in denen er die Seelen zu Lebzeiten erwärmte und im Tode führte? Ich würde ihn mit nach Hause nehmen.

Doch als ich acht Minuten später das Gagarin erreichte, war der Hund verschwunden. Ein junges Paar, das sich an einem Tisch küsste, unterbrach das Knutschen, um mir mitzuteilen, dass er vor kurzem in Richtung Kollwitzplatz weggelaufen sei. Ich wusste nicht, ob ich ihnen glauben sollte, sie schienen ziemlich zerstreut, doch als ich ihn nirgendwo in der Nähe des Wasserturms fand, folgerte ich daraus, dass er tatsächlich fortgegangen war, und verbrachte den Rest des Nachmittags damit, jede Straße und jeden Platz in der nahen Umgebung abzusuchen. An einer Stelle glaubte ich ihn zu sehen, aber es war nur ein Schatten unter einer Parkbank. Sobald es dunkel wurde, gab ich auf und ging nach Hause in dem Bewusstsein, dass die Nacht ihn tarnen würde. Die ganze nächste Woche über kehrte ich täglich zum Gagarin zurück, nur um mir zum wiederholten Mal die Bekräftigung der Kellnerin anzuhören, und das mit zunehmender Ungeduld, dass ein Hund »von dieser Art« nicht mehr gesichtet worden sei. Ich hinterlegte meine Nummer, für alle Fälle.

Nach dem Sommergewitter