Mami 1851 – Die Kinder seines Bruders

Mami –1851–

Die Kinder seines Bruders

Roman von Myra Myrenburg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-209-3

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Zwischen Arenberg und Manstein gab es auf abschüssiger Fahrbahn eine scharfe Rechtskurve. Wenige Meter weiter tat sich bereits der berühmte Blick auf Mansteins Dächer und Türme, das Barockschlößchen und die Dreifaltigkeitskirche auf.

An dieser Stelle stand ein Steinkreuz, das zu jeder Jahreszeit mit Blumen geschmückt war, manchmal auch mit Kerzen, im Dezember sogar mit einem kleinen Weihnachtsbaum.

»Tu mir einen Gefallen«, sagte Ellen Seitz ohne die Stimme zu heben, »fahr weiter, ja? halte ausnahmsweise einmal nicht an. Bitte!«

Andere Leute, wenn sie gereizt waren, sprachen lauter als sonst. Bei Ellen war es umgekehrt. Sie wurde leiser.

Lorenz Zimmermann starrte angestrengt durch die Windschutzscheibe.

»Warum nicht?« fragte er betont arglos.

»Weil du aus deiner Trauer um Gottfried eine Gewohnheit machst«, gab Ellen mit sanfter Schärfe zurück, »denk mal darüber nach!«

»Er war mein Bruder.«

»Ich weiß es, Lorenz, und ich werde es nie vergessen. Aber dieser Kult, den ihr mit seinem Unfallort hier oben und seiner Grabstätte unten auf dem Friedhof treibt, macht ihn nicht wieder lebendig. Es ist zwei Jahre her! Kann sich denn niemand von euch damit abfinden, daß er tot ist?«

Lorenz versteifte sich. Er bremste, ging langsam in die Kurve und fuhr rechts ab auf die Grasnabe.

Ellen sah ihn von der Seite an und schüttelte dann heftig den Kopf.

»Du übertreibst es wirklich«, murmelte sie ärgerlich, »und ich hasse Übertreibungen!«

Sie blieb im Wagen sitzen, öffnete nicht einmal den Sicherheitsgurt, während er ausstieg und sich die Füße vertrat. Dann hielt er inne und betrachtete einen dicken Strauß gelber Schlüsselblumen, der zu Füßen eines Steinkreuzes in einer runde Vase stand.

Heute war der fünfzehnte April.

Nächsten Monat würde es der erste Flieder sein, dann Rosen, Löwenmäulchen, Dahlien, danach Chrysanthemen und Heidekraut, im Winter schließlich das Tannenbäumchen.

So war es, und so blieb es, seit Gottfried Zimmermann, evangelischer Pfarrer von Manstein, an dieser Stelle tödlich verunglückt war, und mit ihm sein Freund Steffen Heller, Gerichtsassessor aus Arenberg.

Eine letzte Frostnacht im Frühling hatte die Straße unerwartet noch einmal spiegelglatt überfroren. Aus der berüchtigten, gefährliche Kurve war der Wagen abgeglitten und den Abhang hinuntergestürzt.

Sie waren erst fünfunddreißig Jahre alt gewesen, beide. Jeder von ihnen hatte eine Frau und zwei Kinder hinterlassen.

Gottfried lag in Manstein auf dem Friedhof, dicht neben der Dreifaltigkeitskirche, Steffen in Arenberg. Das Steinkreuz hatte die Pfarrgemeinde setzen lassen zur Erinnerung an den beliebten jungen Pfarrer und zur Warnung vor dem gefährlichen Streckenabschnitt.

Jedesmal, wenn Lorenz Zimmermann nach Hause fuhr, hielt er an dieser Stelle an und stieg aus. Er tat es, seit das Kreuz stand, und er würde es immer tun, ob es Ellen paßte oder nicht.

Wenn sie gereizt reagierte, so lag das nur zum Teil an dieser kurzen Fahrtunterbrechung.

Ellen Seitz, die gemeinsam mit ihrem Vater Hermann Seitz ein gut florierendes Steuerberatungsbüro in Freiburg leitete, konnte sich für Manstein nicht erwärmen, und sie machte auch keinen Hehl daraus.

Das Barockschlößchen fand sie kitschig, das ständige Miteinander der weit verzweigten, seit Generationen in Manstein ansässige Familie erschien ihr übertrieben.

Ellen, wie sie oft und gern versicherte, haßte Übertreibungen.

Sie war der realistischste, kritischste Mensch, den Lorenz kannte, und sie zwang ihn, dies zu akzeptieren, was ihm nicht leichtfiel, denn auch er hatte feste Vorstellungen, Vorlieben und Abneigungen, und es lag nicht in seiner Absicht, dauernd in einem Spannungsfeld zu leben. Aber Ellen fesselte ihn, beschäftigte ihn, faszinierte ihn.

Sie war eine bemerkenswerte Frau, nicht unbedingt schön zu nennen mit ihrem länglichen Gesicht und den kühlen grauen Augen, aber sie verstand es ausgezeichnet, das Beste aus sich zu machen, das aschblonde Haar aufzuhellen, kühne Frisuren und erlesene Garderobe zu tragen. Sie hatte Stil, sie hatte Geschmack.

Lorenz, mit seinen dreißig Jahren der jüngste Steuerfachmann in der Seitz-Praxis, rechnete es sich insgeheim zur Ehre an, von ihr auserwählt worden zu sein. So, wie sie nun einmal war, hätte sie sich in keinen nichtssagenden jungen Mann verliebt.

Aber er war auch hartnäckig darauf bedacht, seine Eigenständigkeit zu wahren, sich nicht automatisch unterzuordnen und seine Ziele ebenso durchzusetzen wie sie ihre. Zum Beispiel jetzt wieder, im Hinblick auf diese Osterreise.

Ellen wollte an den Bodensee.

Er mußte zum Familientreffen nach Manstein, wie immer an Ostern, das dieses Jahr auch noch zusammenfiel mit dem Geburtstag seines Neffen Marcel.

Sich mit Ellen zu einigen, war ein Kunststück gewesen, aber nach Prüfung sämtlicher Möglichkeit hatten sie einen Kompromiß geschlossen.

Karfreitag und Ostersamstag würde Lorenz in Manstein seinen Familienpflichten nachkommen, im Laufe des Ostersonntags würden sie gemeinsam an den Bodensee fahren und bis Dienstag bleiben.

Damit, wie Lorenz fand, kam jeder von ihnen zu seinem Recht. Es war eine faire Lösung.

Nur, daß sich Ellen insofern nicht gerade fair verhielt, als sie die ganze Fahrt damit verbracht hatte, zu sticheln und zu nörgeln.

Kurz vor der Stadt bogen sie ab zum Hotel Bergblick. Dort logierte Ellen, während er die Verwandtschaft besuchte. Sie mitzunehmen tat er sich und ihr nach dem ersten Mal nicht mehr an.

Ellen Seitz aus Freiburg und seine betulichen alten Tanten und Onkel in Manstein hatten einander nichts zu sagen, und die Kinder seines verunglückten Bruders, Marcel und Jana, waren ihr schon nach kurzer Zeit auf die Nerven gefallen.

Im Hotel Bergblick langweilte sie sich zwar auch, aber sie tat es wenigstens allein, und man brauchte nicht hinterher so viele Wogen zu glätten.

Manchmal kam sich Lorenz selbst schon absonderlich vor mit seiner Anhänglichkeit an Manstein und die Verwandten. Schließlich war es schon elf Jahre her, seit er aus dem Hause gegangen war zum Studium nach Freiburg und Konstanz, und nie mehr seitdem hatte er dort gelebt.

Trotzdem fühlte er sich mit allen sehr verbunden, nach Gottfrieds Tod noch stärker als früher.

»Komm«, sagte er, als sie im luftigen Balkonzimmer des Bergblick unschlüssig nebeneinander standen, »rauchen wir noch eine Friedenspfeife zusammen, dann mache ich mich auf den Weg.«

Ellen brauchte eine Weile, um sich zu lockern, aufzutauen, sich ihm wieder zuzuwenden.

Sie sah großartig aus, trug einen wadenlangen, schmiegsamen Rock und einen dünnen, weich fallenden Pullover, beides aus goldfarbiger Kaschmirwolle, dazu ihren Topasschmuck. Passend getönt war auch ihr Make-up und die goldflimmernden Strähnchen im Haar. Alles an Ellen war stets aufeinander abgestimmt. Stilfehler fand sie unverzeihlich.

Von ihr angeregt hatte sich auch Lorenz’ Garderobe nach und nach verändert.

Früher war seine Freizeitkleidung ein simpler Trainingsanzug gewesen. Heute trug er Safari-Look.

In dieser Beziehung verließ er sich voll und ganz auf Ellen, er bereute es nie und war dankbar für ihre gute Beratung.

»Ich habe mir einen Stoß Bücher mitgebracht«, verkündete sie tapfer, »damit ich nicht geistig und seelisch verkümmere, während du den Osterhasen spielst.«

Lorenz legte ihr den Arm um die Schulter und führte sie auf den Balkon.

Draußen vergoldete die Frühlingssonne die Dächer von Manstein, die Kirchenkuppel und den kleinen Fluß mit seinen begrünten Ufern.

»Sieh mal, wie herrlich das Wetter ist«, murmelte Lorenz und rieb die Wange an ihrer Schläfe.

»Genau deshalb wollte ich ja an den Bodensee.«

»Übermorgen werden wir dort sein.«

»Wehe dir, wenn es bis dahin regnet«, seufzte Ellen. Sie klingelte nach dem Zimmer-Service, bestellte zwei Drinks, inspizierte das Bad und packte ihre Toilettensachen aus.

Als die Getränke kamen, setzte sie sich auf das kleine Chintzsofa. Lorenz schwang sich auf die Armlehne, ergriff die beiden Gläser und reichte ihr eines.

»Auf ein sonniges Osterfest!«

Ellen trank einen Schluck, lehnte sich zurück und sah ihn mit ihren hellen grauen Augen eindringlich an.

»Du kommst doch heute abend?«

»Selbstverständlich.«

»Laß dich nicht völlig vereinnahmen von deinen Leuten, Lorenz. Vergiß nicht, du hast auch noch ein Privatleben.«

»Was sind das denn für ketzerische Gedanken!«

»Bei dir, mein Lieber«, sagte Ellen mit skeptischem Lächeln, »muß man sich vorsehen.«

Er stellte sein Glas ab und war aufrichtig verwundert.

»Wie meinst du das?«

Ellen ließ den Blick ziellos durch den Raum schweifen.

»Du spielst nun einmal gern den Trotzkopf, weil du glaubst, dir selbst und anderen etwas beweisen zu müssen. Ist es nicht so?«

Lorenz schüttelte den Kopf.

»Diese Rolle ist meiner unwürdig«, erklärte er belustigt, »die paßt besser zu meinem Neffen Marcel. Du machst dir zu viele Gedanken über mich, Ellen. Ich bin unkompliziert, leicht zu durchschauen und mit guten Argumenten immer zu überzeugen.«

»Ja, ja«, murmelte sie gedehnt, »schön wär’s.«

Er schloß sie in die Arme, küßte ihre golden schimmernden Haare, ihre duftenden Wangen und ihre zartrosa Lippen. »Ich überlasse dich jetzt deinen Büchern.«

*

Die Dreifaltigkeitskirche in Manstein lag inmitten eines kleinen alten Friedhofs, auf den heutzutage nur noch selten Bestattungen vorgenommen wurden.

Hinter der Kirche führte ein eisernes Pförtchen in den ehemaligen Pfarrhof mit Kopfsteinpflaster und schmaler Blumenrabatte.

Das dazugehörige Fachwerkhaus mit seinen kleinen Fenstern und angrenzendem Schuppen stand unter Denkmalschutz. Früheren Generationen hatte es als Pfarrhaus gedient. Inzwischen wurde es von der Kirchengemeinde instand gehalten und vermietet.