cover
Titelseite

 

 

 

 

 

Susan Sultan und
Kathy Reynolds, meinen Lotsen zur Selkiebucht

WIE ALLES ANFING

Eines Tages tauchte ein geheimnisvolles Baumhaus im Wald von Pepper Hill in Pennsylvania auf. Philipp und seine Schwester Anne kletterten hinauf und entdeckten, dass es voller Bücher war.

Die Geschwister fanden schnell heraus, dass es ein magisches Baumhaus war, mit dem sie zu all den Orten reisen konnten, die in den Büchern abgebildet waren. Alles, was sie tun mussten, war, auf eines der Bilder zu deuten und sich zu wünschen, sie wären dort.

Das Baumhaus gehörte Morgan, einer Zauberin und Bibliothekarin am Hofe des Königs Artus in Camelot. Immer, wenn das magische Baumhaus im Wald auftauchte, wussten Anne und Philipp, dass Morgan einen neuen Auftrag für sie hatte. Um Morgan zu helfen, reisten sie viele Male in ferne Länder und längst vergangene Zeiten. Sie erlösten Morgan von einem bösen Zauber, retteten alte Bücher, wurden zu Meister-Bibliothekaren ernannt und lernten eine besondere Art von Magie kennen.

Bei ihren letzten Zeitreisen halfen die Geschwister dem großen und mächtigen Zauberer Merlin. Für ihn erfüllten sie spannende Aufgaben in der fantastischen Anderswelt und in einem verzauberten Spukschloss.

Nun warten Anne und Philipp schon seit vielen Monaten darauf, dass das Baumhaus zurückkommt …

Muschel

Sommersonnenwende

Philipp saß auf der Veranda und las Zeitung. Es war ein warmer Sommertag, aber auf der Veranda war es schattig und kühl.

Anne streckte ihren Kopf aus der Fliegengittertür. „Hey, Mama hat gesagt, dass sie mit uns heute Nachmittag zum See fährt“, sagte sie.

Philipp blickte nicht vom Wetterbericht in der Zeitung auf. „Wusstest du, dass heute Sommersonnenwende ist?“, meinte er.

„Was ist das?“, fragte Anne.

„Das ist der erste offizielle Sommertag“, antwortete Philipp. „Heute ist es länger hell als an allen anderen Tagen des Jahres.“

„Cool“, fand Anne.

„Ab morgen werden die Tage dann wieder kürzer“, erklärte Philipp.

Sie hörten ein lautes Kreischen von oben.

„Guck mal, eine Möwe!“, sagte Anne.

Philipp sah nach oben. Eine große weiße Möwe kreiste am strahlenden Mittagshimmel. „Was macht die hier?“, fragte Philipp. „Bis zum Meer fliegt so eine Möwe von hier aus doch mindestens zwei Stunden!“

Die Möwe kam im Sturzflug herabgeflogen und kreischte noch einmal.

„Vielleicht ist das ein Bote von Morgan oder Merlin“, überlegte Anne. „Vielleicht hat einer der beiden die Möwe geschickt, um uns zu sagen, dass das magische Baumhaus endlich wieder da ist.“

Philipps Herz begann wild zu pochen. Er legte die Zeitung weg. „Meinst du?“, fragte er.

Philipp und Anne hatten das magische Baumhaus nicht mehr gesehen, seit sie letztes Jahr zu Halloween, am 31. Oktober, für Merlin zum Spukschloss gereist waren. Philipp hatte schon langsam befürchtet, dass das Baumhaus gar nicht mehr wiederkommen würde.

„Guck mal, sie fliegt zum Wald!“, rief Anne.

Philipp sprang auf. „Okay“, sagte er, „lass uns gehen!“

„Wir sind bald zurück, Mama!“, rief Anne und stürmte mit Philipp über den Hof. Sie rannten die Straße runter zum Wald von Pepper Hill.

Im Wald war es schattig, aber die Sonne schien hier und da durch das Blätterdach und malte helle Lichtflecken auf den Weg. Die Luft roch frisch und rein. Philipp und Anne rannten durch den Wald, bis sie zur höchsten Eiche kamen. Hoch oben wartete tatsächlich das magische Baumhaus auf sie.

„Juchhu, es ist wieder da!“, riefen Philipp und Anne gleichzeitig. Das Baumhaus hatte sich seit ihrer letzten Reise kein bisschen verändert.

Anne griff nach der Strickleiter und kletterte nach oben. Philipp folgte ihr. Als sie ins Baumhaus kletterten, war es leer.

„Guck mal, die königliche Einladung liegt immer noch da“, sagte Anne. Sie nahm die Karte, die sie beide am Heiligabend nach Camelot gebracht hatte.

„Und Merlins Laubblatt auch“, sagte Philipp. Er nahm das gelbe Herbstblatt in die Hand, das sie auf die Halloween-Mission geschickt hatte.

„Das hier war das letzte Mal aber noch nicht da“, meinte Anne. Sie hob eine hellblaue Muschel auf. Die Muschel sah aus wie ein kleiner Fächer und sie war beschrieben.

„Hey, das sieht doch aus wie Merlins Handschrift!“, rief Anne. „Wir sollen bestimmt für ihn wieder irgendwohin reisen.“ Laut las sie die Nachricht des Zauberers vor:

Anne sah auf. „Was für ein Gedicht?“, fragte sie.

„Lass mich mal sehen!“ Philipp nahm ihr die Muschel ab und drehte sie um. Auf der anderen Seite stand ein Gedicht. Philipp las es laut vor:

Bevor an diesem längsten Tag

die dunkle Nacht anbrechen mag,

aus tiefster Tiefe holt ans Licht

das Zauberschwert von Camelot,

gelingt’s euch nicht,

herrscht ewig Not!

Die Suche ist auf Glück gebaut,

ruft ihr den Wasserritter laut.

Durchquert ganz ohne Angst im Sinn

die Höhl der Spinnenkönigin.

„Spinnenkönigin?“, unterbrach Anne ihn und runzelte die Stirn. Spinnen waren so ziemlich die einzigen Tiere, vor denen sie Angst hatte.

„Denk lieber erst mal nicht daran“, erwiderte Philipp. „Lass uns weiterlesen!“ Er fuhr fort:

Schwimmt rasch im fröhlichen Geleit

des Selkiekinds im grünen Kleid.

Eilt zur gestürmen Küstenbucht.

Hier taucht nun unterm Mantel weiß

des blinden Alten Grauen Geists.

Philipp hörte auf zu lesen. „Alter Grauer Geist?“, wiederholte er.

„Denk lieber erst mal nicht daran“, sagte Anne. „Lies weiter!“

Und Philipp las:

Nach einer Frage Antwort sucht.

Nicht Furcht, die Liebe muss euch führn,

so wird das Schwert euch bald gehörn.

Mit einem kleinen Reim

seid ihr dann schnell daheim.

Philipp und Anne schwiegen eine Weile.

„Da haben wir ja eine Menge zu tun, bis es dunkel wird“, sagte Philipp schließlich.

„Ja“, antwortete Anne, „aber ich bin ein bisschen beunruhigt wegen dieser Spinnenstelle.“

„Und ich wegen der Geisterstelle“, sagte Philipp.

„Hey!“, sagte Anne. „Ich wette, wenn wir wieder für Merlin eine Aufgabe lösen sollen, wird Teddy auch mit uns kommen. Er kann uns doch bei den gruseligen Teilen helfen.“

„Stimmt“, sagte Philipp. Schon wenn er Teddys Namen hörte, fühlte er sich mutiger.

„So“, sagte Anne. „Vorwärts?“

Vorwärts war Teddys Lieblingswort.

„Vorwärts!“, antwortete Philipp. Er zeigte auf die Schrift auf der hellblauen Muschel. „Ich wünschte, wir könnten in die Zeit vor Camelot reisen.“

Wind kam auf.

Das Baumhaus begann sich zu drehen.

Es drehte sich schneller und immer schneller.

Dann war alles wieder still.

Totenstill.

Muschel

Der Wasserritter

Eine salzige Brise wehte ins Baumhaus. Möwen kreischten über ihnen. Philipp und Anne sahen aus dem Fenster.

Sie waren hoch oben in den Ästen eines alten, knorrigen Baumes. Der Baum stand an einer Meeresklippe am Fuße schneebedeckter Berge, die über eine felsige Küste emporragten. Nirgendwo waren Menschen zu sehen.

„Hier sieht es aber wild und einsam aus“, sagte Anne.

„Total einsam“, stimmte Philipp zu. „Ich frage mich, wo Teddy und Merlin sind.“

„Ich weiß nicht“, sagte Anne. „Letztes Mal hatten sie sich in einem Baumstamm versteckt. Lass uns da zuerst wieder nachsehen.“ Sie kletterte die Strickleiter hinunter.

Philipp steckte die Muschel in seine Tasche und kletterte hinterher.

„Merlin?“, rief Anne. „Teddy?“

Philipp und Anne gingen um den knorrigen Baumstamm herum. Aber sie fanden nichts, was auch nur entfernt wie der Eingang zu Merlins magischer Zauberkammer aussah. Noch einmal umrundeten sie den Baum, und Philipp klopfte an verschiedenen Stellen auf die Rinde.

„Ich habe das Gefühl, dass da niemand drin ist“, meinte Anne.