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12 Kurzkrimis

 

Tatort Christkindlesmarkt

 

aus Franken

zur Weihnachtszeit

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Oktober 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © Marcus Brandt/dpa

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-753-7

 

Inhalt

Susanne Reiche – Weihnachtscamping

Jan Beinßen – Tödlicher Segen

Petra Nacke – Schwarze Sonne

Roland Spranger – Ich, der Weihnachtshasser

Sigrun Arenz – Das Geschenk

Thomas Kowa – Der nicht mehr ganz so lebendige Adventskalender

Horst Prosch – Nach dem Piep

Anne Hassel – Agentur für Weihnachtsengel

Helwig Arenz – Kalte Rache

Bernd Flessner – Goldrausch

Sabine Fink – Zwischen Himmel und Erde

Tommie Goerz – Die Weihnachtsgans

Die Autorinnen und Autoren

 

Susanne Reiche – Weihnachtscamping

23. Dezember

20:25 Uhr, Mia

Als wären wir allein auf der Welt: Roberts rostiger Mazda steht einsam auf dem Parkplatz, kein Motorengeräusch übertönt das stumpfe Nieseln des Regens, kein Autoscheinwerfer tastet sich durch den schweigenden Wald. Die Bäume stehen dicht an dicht wie schwarze Ritter vor einer Schlacht, die Schilde erhoben. Vor uns muss die Wolfsfelder Wiese liegen, aber sie verbirgt sich hinter grauem Nebel.

Robert ist mir einige Schritte voraus; er hat sich den Schlafsack unter die Achsel geklemmt, damit er die Hände für den Bierkasten frei hat – das in seinen Augen wichtigste Accessoire des Abends. Bei jedem seiner Schritte klirren die Flaschen aneinander.

»Meine Fresse, ist das finster«, tadelt er die nasse Nacht, dann dreht er den Kopf zu mir. »Wieso sind eigentlich Chris und Ute noch nicht da? Wir wollten uns doch um acht treffen!«

Was soll ich dazu sagen? Dass wir uns ja auch verspätet haben? Dass ich von Chris und Ute wenig weiß? Die beiden sind Roberts Freunde, nicht meine – ich kenne sie nur flüchtig, von ein oder zwei Kneipenabenden, und ich mag sie nicht besonders. Chris ist zu hübsch für einen Mann, er trägt die Nase ziemlich hoch, und Gespräche, die sich nicht um ihn drehen, ermüden ihn bald. Er ist Künstler, Performance und Modernes Theater. Und Ute ist eine von diesen Alt-Emanzen aus dem Sozialbereich – praktischer Kurzhaarschnitt, flache Schuhe – und gibt sich gerne tough.

Statt einer Antwort schneide ich eine Grimasse, die Robert nicht sehen kann, weil er die Taschenlampe zu Hause vergessen hat.

»Die bringen die Feuerschale mit, die können doch nicht zu spät kommen!«, schimpft er jetzt. »Hast du eigentlich die Grillkohle?«

Ja, ich habe die Grillkohle. Außerdem schleppe ich einen Korb mit Rotwein, Gläsern, Brötchen und Senf. Kaiserbrötchen und mittelscharfer Senf, so hat es mir Robert in die Einkaufsliste diktiert – das sonderbare Ritual, an dem ich heute zum ersten Mal teilnehmen darf, folgt offenbar strengen Regeln. Angesichts der klammen Einsamkeit scheinen mir diese banalen Dinge fehl am Platz. Ein Barbecue zum Ende der Welt …

»Das ist es«, sagt Robert schließlich schmucklos, stellt den Bierkasten ab und lässt sich ächzend darauf nieder. Das ist so schmucklos wie seine Worte: ein hölzerner Verschlag, ein Unterstand mit schmutzigem Bretterboden, der nach feuchtem Mäusedreck riecht.

Robert ploppt mit seinem Feuerzeug den Kronkorken von einer Flasche. »Feierabend«, stellt er für sich fest, nimmt einen Schluck und streckt die Beine aus. »Dein Schlafsack ist noch im Auto, wenn du ihn gleich holst, hast du’s hinter dir.«

 

Zurück zum Parkplatz sind es kaum hundert Meter, aber ich gehe sie mit angehaltenem Atem. Ich habe Angst vor der Nacht, ich leide unter einem Übermaß an ­Fantasie und Sensibilität. Robert bezeichnet es als hysterische Überspanntheit, aber wie man es auch nennt: Die Dunkelheit greift mit ihren schwarzen Fingern nach mir, zwischen den Bäumen lauern vielzahnige Ungeheuer. Ich kann ihre Schatten sehen, ich höre ihr Knurren und Geifern.

 

 

20:45 Uhr, Chris

»Hey, echt! Asche auf unser Haupt!« Ute boxt Robert, der wie jedes Jahr seine versiffte Che-Guevara-Uniform trägt, als wäre ein Grillabend ohne Tarnkleidung undenkbar, jovial gegen die Schulter – seit ich sie kenne, versäumt sie keine Gelegenheit, sich bei ihm anzubiedern. »Wir sind viel zu spät«, fährt sie fort, »aber Chrissi hier wollte keinesfalls ungeduscht in die Wildnis fahren. Als würden wir morgen nicht alle nach Bier und Rauch stinken wie richtige Kerle!«

Chrissi. Auch diese herablassende Form verbaler Kas­tration verdanke ich sicher Roberts Gegenwart. Nachdem sie sich wortreich für mich entschuldigt hat, bestückt Ute die Feuerschale, sprüht eine halbe Flasche Grillanzünder auf die Kohle und zückt ihr Feuerzeug. »Fiat Lux«, deklamiert sie pathetisch und entzündet die Flamme mit einer Geste, die dem olympischen Feuer zur Ehre gereicht hätte. Warum muss sie sich immer so aufblasen? Noch vor zwei Jahren hätte ich mich ehrlich für sie geschämt, aber heute ist sie mir nicht einmal mehr peinlich – sie zahlt die Miete, und ich halte den Mund. Es gibt schlechtere Arrangements.

»Das wurde aber auch Zeit, Mädel.« Robert hebt beiläufig die Bierflasche, um mit ihr anzustoßen. »Mir ist arschkalt, und ich hab richtig Hunger.«

»Alles wird gut, Baby«, trällert Ute. »In meinem Körbchen sind fünfzehn fränkische Bratwürste für uns Raubtiere, ein Grillkäse für unseren Veggie-Chrissi und ein Kartoffelsalat nach dem Rezept meiner Mutter. Und drei, vier Flaschen Apfelschnaps – Weihnachten kann kommen!«

»Gut«, knurrt Robert und macht dann sein blödes Achtung-es-folgt-ein-Witz-Gesicht: »Wenn mir aus der Zeit unserer Liebe etwas positiv in Erinnerung geblieben ist, dann ist es der Kartoffelsalat deiner Mutter.«

Utes Züge entgleisen nur kurz, dann lacht sie laut. Robert grinst. Die beiden dengeln ihre Bierflaschen aneinander und trinken sie in einem Zug halb leer.

Ich sehe zu Mia hinüber, Roberts hübscher neuer Freundin: Sie klammert sich an ihr Weinglas und lächelt bemüht. Schätze, sie wusste es nicht.

 

 

22:30 Uhr, Robert

Mia nervt schon den ganzen Abend mit ihrem bedürftigen Blick. Wenn es nach ihr ginge, würde sie mir jetzt am Bein hängen, und ich müsste Sachen sagen wie Ist dir auch nicht kalt, Schatz? oder Was möchtest du trinken, Schatz? … Es war ein blöder Einfall, sie mitzunehmen. Das hier ist eine Traditionsveranstaltung, auf der sie so fehl am Platz ist wie ein Frosch auf der Autobahn. Sie kennt die Typen nicht, von denen wir reden, sie kapiert unsere Jokes nicht – und ich schätze, sie verkneift sich seit Stunden das Pinkeln, weil sie sich im Dunkeln fürchtet.

»Wie der Regen aufs Dach prasselt! Dieser Unterstand ist wirklich ein Segen«, stellt Chris pastoral fest, nachdem er seinen laktosefreien Grillkäse mit Messer und Gabel verzehrt hat. Chrissi, der Künstler. Chrissi, das Weichei. Dabei ist er daran schuld, dass wir bald in finsterer Kälte hocken werden: Über dem Duschen, Föhnen und Gel-ins-Haar-Schmieren hat er leider vergessen, dass er einen zweiten Sack Grillkohle mitbringen sollte. Der Mann ist outdoor ein Totalausfall, es ist mir wirklich schleierhaft, warum Ute ihn durchfüttert.

»Also ich finde es würdelos, unter einem Dach zu grillen«, sagt Ute prompt. Sie sitzt auf ihrer Schlafsackrolle und lehnt den Rücken gegen meine Hüfte. »Früher waren wir zum Weihnachtscamping jedes Jahr richtig weit draußen in der fränkischen Wildnis, en plein air. Und wir haben ein gültiges Lagerfeuer geschürt. Manchmal waren wir zwanzig, dreißig Leute; und spätestens um Mitternacht haben wir alle gereihert, so besoffen waren wir.«

»Das klingt toll«, sagt Mia sarkastisch, und Chris deutet pantomimisch ein Gähnen an: »Die tausendste Re­trospektive auf die Goldenen Zeiten! Leute, das langweilt doch!«

Also mich langweilen vor allem blasierte Spacken, die herumschwafeln, obwohl sie keine Ahnung haben. Zu den Goldenen Zeiten war das Weihnachtscamping ein richtig geiler Act – wir hatten einen politischen Anspruch, haben über Wackersdorf und Gentechnik debattiert und Antifa-Demos geplant. Ute und ich waren unzertrennlich. Vor zwanzig Jahren war sie das hübscheste Mädchen an der Uni und hatte kein Gramm Fett zu viel auf den Hüften. Chris hingegen hatte Pickel und eine Zahnspange – er war nur der kleine Bruder von einem Bekannten, den irgendwer gelegentlich ­mitgeschleppt hat. Und Mia – meine Güte. Die wurde damals wahrscheinlich gerade eingeschult.

Ich stoße mit Ute an, um meine Solidarität zu demonstrieren. »Auf die alten Zeiten«, sage ich nachdrücklich, »den dummen Spöttern zum Trotz!«

Sie lächelt.

 

 

23:30 Uhr, Ute

Diese Veranstaltung hat sich ja wohl überlebt. Robert hört nicht auf mit seinem weißt-du-noch-damals-Scheiß, und Chris legt sich mächtig ins Zeug bei … wie heißt sie noch gleich? Mia. Eine Kunststudentin, wie passend! Er schaut ihr tief in die blauen Augen und schwafelt was von Concept-Art und Primitivismus; lässt den Kunstconnaisseur raushängen. Davon, dass seine Einnahmen gerade eben für die Telefonrechnung reichen und er im letzten Jahr nur zweimal das Klo geputzt hat, sagt er vermutlich nichts. Die beiden feiern ihre frisch entdeckte Geistesverwandtschaft mit Rotwein, und Mia, die leider nicht die Hellste ist, fühlt sich bestimmt wahnsinnig geschmeichelt. Aber Vorsicht, Mia-Schätzchen: Chrissi meint gar nicht dich persönlich, es ist nur seine übliche Masche. Er mag jedes hübsche junge Mädel, das bewundernd zu ihm aufschaut, und bei mir ist da leider nichts mehr zu holen – in keiner Hinsicht.

Wo findet Robert, der alte Sack, nur immer dieses reh-äugige Schmalwild? Alle paar Monate schleppt er eine Neue an, alle rührend naiv und fünfzehn Jahre jünger als er, und für meinen Geschmack zu blass und zu mager. So gesehen macht diese hier etwas aus ihrem Typ: schwarzes Samtkleid, schwarze Filzlocken, grellroter Lippenstift. Schneewittchen im Märchenwald. Wie arm muss man im Geiste sein, um bei diesem Wetter im bodenlangen Samtkleid herumzulaufen? Aber Chris zieht alle Register – jetzt legt er Mia seinen Schlafsack über die Schultern, damit sie es schön warm hat, und sie lächelt ihn dankbar an.

 

 

24:00 Uhr, Mia

Es regnet jetzt in Strömen. Die Kohle in der Feuerschale glimmt nur noch matt, die langen Schatten machen Fratzen aus unseren Gesichtern. Chris redet von sich selbst und lässt gelegentlich durchblicken, dass Ute ihn noch nie wirklich verstanden hat. Von Robert sehe ich nur den Rücken – er sitzt nach wie vor auf dem Bierkasten und leert mit Ute ein Bier nach dem anderen. Sie unterhalten sich über alte Zeiten, über Menschen, die ich nicht kenne, über Orte, an denen ich nie war, und immer wieder sagt Ute: »Darauf müssen wir unbedingt anstoßen!«

»Mitternacht! Die Stunde der Wölfe!«, ruft sie irgendwann mit dumpfer Stimme und deutet auf ihre Armbanduhr.

»Gibt es hier Wölfe?«, rutscht es mir heraus.

Robert lacht schallend. »Köstlich! Das kleine Schaf hat Angst vorm bösen Wolf!«

»Na, wer weiß«, sagt Ute nachdenklich. »Wolfsfelder Wiese! Und dieses Jahr ist doch im Veldensteiner Forst ein Isegrim vor die Kamera gelaufen, so weit ist das nicht weg. Vielleicht lauert er schon im Gebüsch auf euch?«

»Ihr seid echt fies!«, sagt Chris und legt den Arm um meine Schulter. Es könnte eine freundliche Geste sein, aber auf mich wirkt sie besitzergreifend. Oder provokant – will er Ute irgendetwas heimzahlen?

Ute räuspert sich. »Die Glut geht bald aus, wir sollten Holz holen. Wie wär’s mit dir, Chrissi? Du hast doch die Grillkohle zu Hause vergessen.«

»Das ist eine schwachsinnige Idee, meine Liebe«, stellt Chris fest. »Nasses Holz brennt nicht. Und außerdem sieht man im Wald keinen Meter weit, weil Robert die Taschenlampe vergessen hat! Soll er doch gehen.«

Seine Hand liegt immer noch auf meiner Schulter, und ich weiß nicht recht, wie ich sie wieder loswerden soll, ohne unhöflich zu sein.

Ute imitiert ein Wolfsgeheul. »Uuh … dunkler, schauriger, garstiger Wolfswald! Also gut, ihr Schäfchen, bleibt schön an der warmen Glut und kuschelt euch aneinander – ich geh mal eben Holz holen. Das ist was für die großen Jungs, die keine Angst vor wilden Tieren haben!«

Robert schreckt hoch. »Genau, jetzt zeigt sich, wer Eier in der Hose hat! Ich komme natürlich mit!«

Er ist viel zu betrunken, um irgendwohin zu gehen, aber ich wage es nicht, ihm das zu sagen. Robert ist kein Freund guter Ratschläge … besonders dann nicht, wenn sie von mir kommen. Ich hoffe, dass Ute oder Chris ihn zurückhalten, seine alten Freunde – aber niemand sagt ein Wort, und Robert stolpert hinter Ute her in die Nacht.

Chris nimmt endlich den Arm weg; allerdings nur, um mein Weinglas wieder aufzufüllen. Eigentlich will ich nichts mehr trinken, aber er besteht darauf, mit mir anzustoßen. »Prost, Mia! Auf das Fest der Liebe!«, sagt er.

 

 

24. Dezember

00:20 Uhr, Chris

»Sollten wir die beiden nicht mal suchen gehen? Die ­haben sich bestimmt verlaufen«, sagt Mia. »Robert ist hackedicht, dem kann da draußen sonst was passieren …«

Sie will, dass ich auf die Suche gehe. Robert hat oft genug erzählt, dass Mia sich vor ihrem eigenen Schatten fürchtet. »Ute hat sich in ihrem ganzen Leben noch nie verlaufen, sie sieht nachts wie eine Katze«, beruhige ich sie. »Und Robert kotzt sich schlimmstenfalls auf die Schuhe.« Ich verkneife mir die Bemerkung, dass dadurch kein großer Schaden entstehen kann – Roberts Stiefel sehen aus, als hätten sie schon achtundsechzig einem Revoluzzer die Füße gewärmt. »Na, komm«, sage ich stattdessen, »wir setzen uns wieder, trinken noch ein Fläschchen Wein und sprechen über die wichtigen Dinge im Leben.« Ich greife nach ihrer Hand, aber Mia macht sich los und lauscht wieder in die Nacht. »Hast du das gehört? Hat da nicht jemand gerufen?«

»Kapierst du denn wirklich nicht, was hier los ist?«, frage ich schließlich etwas gereizt. Dann erkläre ich ihr, dass Robert und Ute fünfzehn lange Jahre ein Paar waren, dass man sie Die Unzertrennlichen genannt hat und dass alte Liebe niemals rostet.

»Wie jetzt? Du meinst, sie …«

»Ich weiß es«, sage ich. »Die haben sich in irgendein Gebüsch verkrochen und kommen so schnell nicht wieder – wir können es uns ruhig gemütlich machen.«

Mia scheint ehrlich erschüttert. »Im Ernst? Bei dem Wetter?«, fragt sie ungläubig.

Das hübsche Kind braucht jetzt irgendeinen handfesten Trost – es wird Zeit für den Apfelschnaps, schätze ich.

 

 

00:20 Uhr, Robert

Alles dreht sich. Alles bewegt sich. Und weil Alles nachtschwarz ist, fühle ich mich wie ein Astronaut im Weltraum. Meine Crew hat das Sicherungsseil durchtrennt, und ich treibe in die Unendlichkeit. Es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. Das ist ein beschissenes Gefühl.

Wo ist Ute? Warum wartet sie nicht auf mich?

»Ute! Ute!«, rufe ich. Und noch einmal: »Ute!«

Dann muss ich wieder kotzen.

 

 

00:20 Uhr, Ute

Ich kann Robert leise blöken hören: UteUteUte. Das arme Lamm ist jetzt ganz allein im finsteren Wald, es hat den Anschluss an die Herde verloren. Sollte ich Mitleid mit ihm haben? Kann ich etwas dazu, dass er so viel getrunken hat? Habe ich ihn aufgefordert, mir nachzulaufen? Man kann gespannt sein, wie die Nachwelt diese Fragen beantworten wird.

Früher waren Robert und ich ein Paar, aber früher ist lange her. Das war, bevor Lars auf die Welt kam, das war, bevor Robert gesagt hat: Sorry, das überfordert mich. Du wolltest doch unbedingt ein Kind! Also rechne nicht mit mir … Inzwischen rechnet niemand mehr mit Robert. Er säuft zu viel, er lebt von dubiosen Renten und verbringt seine Tage damit, die beschissene Vergangenheit zu verklären.

Lars war schwerstbehindert, er wurde nur drei Monate alt. Kurz bevor er starb, habe ich mich einmal dazu erniedrigt, Robert anzuflehen, sein Kind zu besuchen; aber er ist nicht einmal auf die Beerdigung gekommen. Hör gefälligst auf, mich emotional zu erpressen – mach du dein Ding, ich mach meins!, hat er gesagt.

Yeah, Baby! Genau das ist es, was ich jetzt mache. Mein Ding. Und du machst deins …

Und was macht Chris drüben im Unterstand? Füllt er Mia mit Apfelschnaps ab, bis sie nicht mehr Nein sagen kann? Legt er fürsorglich den Arm um ihre knochigen Schultern, um sie vor dem bösen Wolf zu beschützen? Er scheint zu glauben, dass es für einen Mann wie ihn keine Grenzen gibt – aber vielleicht geht er diesmal zu weit.

 

 

00:30 Uhr, Robert

Das Weltall ist kalt, alles gefriert zu Eis. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, aber das macht es nicht besser: Wo vorher nur Schwärze war, tanzen jetzt dunkle, bedrohliche Schatten. Es riecht nach Moder und Fäulnis, Schritte rascheln im welken Laub, zwischen den Bäumen bewegt sich etwas. Ein Tier. Ein großes Tier – vielleicht ist es wirklich ein Wolf? Nein, es muss Ute sein. Steht sie da drüben und winkt mir zu? Flüstert sie meinen Namen? Ich taste mich zwischen Baumstämmen hindurch, stolpere über Wurzeln und morsches Holz – und dann falle ich plötzlich tief und zerbreche in tausend Scherben. Das Nichts lähmt mich mit eisiger Dunkelheit, umklammert mich mit schlammigen Fingern, verschlingt mich mit nassem Maul.

 

 

08:10 Uhr, Mia

Es ist so still. Die Schatten der Nacht sind wieder auseinandergerückt; die Bäume stehen gebückt wie Trauernde und umarmen sich mit tropfenden Zweigen. Auf den schlaffen Halmen der Wiesengräser und den klebrigen Scherben einer zerbrochenen Flasche glänzt die Morgensonne, meine Haare stinken nach Schnaps. Kartoffelsalat, grau wie Hirn, ist über die Bretterwand verspritzt, die eiserne Feuerschale ist umgekippt und stützt sich müde auf einen ihrer Griffe. Chris’ Schlafsack liegt im Dreck; eine leere Hülle, ein Kokon, aus dem ein Insekt geschlüpft ist – ein graues, dürres Gliedertier, kein bunter Schmetterling.

Es fällt mir schwer, aus meinem Schlafsack zu kriechen und aufzustehen, es dauert lange, bis ich meine Stiefel geschnürt habe: Meine Arme und Beine sind taub vor Kälte. Mir ist schlecht, mein Kleid ist zerrissen, mein Schädel pocht. Etwas Grauenhaftes ist geschehen, aber ich erinnere mich nur an Bruchstücke: Chris’ aufdringliche Hände, ein dumpfer Schlag, das Splittern von Glas.

Auf dem Parkplatz stehen Roberts Mazda und Utes VW-Bus einträchtig nebeneinander. Ute sitzt im Bus, die Augen geschlossen, wummernde Bässe bis zum Anschlag aufgedreht.

»Was ist passiert?«, schreie ich, und nachdem sie widerwillig die Musik leise gedreht hat, frage ich noch einmal: »Was ist passiert?«

»Was passiert ist? Du bist gut«, sagt Ute und mustert mich eingehend. Sie ist blass, aber sie hat diesen harten Zug um den Mund. Tough. »Du warst doch dabei.«

Behutsam taste ich in meinem schmerzenden Kopf nach Erinnerungen. Ich habe mich übergeben, nein, ich habe mir die Seele aus dem Leib gekotzt. Wie in den Goldenen Zeiten, hat Chris gesagt, und dann waren plötzlich überall seine Finger. Ich war zu überrascht, um mich zu wehren. Zu betrunken. Ein dumpfer Schlag, das Splittern von Glas. Mehr weiß ich nicht.

»Wo ist Robert?«, frage ich. Der Mazda hat regennasse Scheiben und verschlossene Türen, er ist leer bis auf zerknüllte Tankquittungen und Dönertüten.

Ute zuckt die Achseln und dreht die Musik wieder etwas lauter.

»Und wo ist … Chris?«

»Du hast ihm eine volle Schnapsflasche über den Schädel gezogen, schon vergessen? Ich habe dir dabei geholfen, ihn im Tümpel zu versenken.«

Ich lache. Es muss ein Scherz sein.

Ute schließt ihre Augen wieder und wippt im Takt der Bässe. Es ist kein Scherz.

»Chris ist tot?« Meine Stimme klingt fremd. Schrill. Hysterisch. »Oh Gott – warum hast du nicht die Polizei gerufen?«

»Willst du auf Notwehr plädieren, Schätzchen?«, fragt sie zurück und lächelt. »Weil er dich ein bisschen angegrabbelt hat? Das kannst du den Bullen ja erzählen. Nur zu. Nimm mein Handy und ruf sie an. Ich bin gespannt, wie du ihnen das mit dem Tümpel erklärst.«

Ich kann mich an keinen Tümpel erinnern. Ein dumpfer Schlag, splitterndes Glas, sonst ist da nichts. Nur grauer Nebel.

»Steig aus«, sage ich nach einer Weile. »Ich will diesen Tümpel sehen.«

Der Tümpel ist ein großer Teich mit steilen Ufern, umgeben von Bäumen, nur wenige Schritte von der Wiese entfernt. Ein Teppich aus Wasserlinsen verbirgt seine Oberfläche und alles, was darunter sein mag.

Ute lehnt sich an den Stamm einer Kiefer und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Wo ist Robert?«, frage ich wieder.

»Was weiß ich«, sagt Ute. »Vielleicht hat ihn der Wolf geholt?« Sie hebt einen Stein vom Boden auf und lässt ihn ins Wasser fallen. Die Wasserlinsen rücken gemächlich auseinander, dann schließen sie sich wieder.

Als wäre nichts geschehen.

 

 

 

Jan Beinßen – Tödlicher Segen

Paul Flemming merkte seiner Frau sofort an, dass etwas nicht stimmte. So wie sie ihn ansah, leicht schräg von der Seite, die blonden Haare wie einen Schutzwall ins Gesicht hängen lassend – ganz klar: Sie hielt mit irgendetwas hinterm Berg.

»Was ist los, Kati?«, sprach er sie an und legte den Karton mit Weihnachtsdekoration beiseite, mit der er ihre Wohnung auf die bevorstehende Adventszeit vorbereiten wollte. »Rück raus damit: Was hast du auf dem Herzen?«

Katinka druckste eine Weile herum, bevor sie den blechernen Elch, der für die Terrasse bestimmt war, auf den Boden stellte und zu plaudern begann: »Eigentlich widerstrebt es mir, dich in deinen detektivischen Ambitionen zu bestärken. Ich finde es viel zu gefährlich, wenn du Aufgaben übernimmst, die man den Profis der Branche überlassen sollte. Schließlich bist du Fotograf und kein Ermittler.«

»Du sagtest ›eigentlich‹ – uneigentlich etwa nicht?«, fragte Paul und war überaus gespannt darauf, was seine Frau, die Oberstaatsanwältin, ihm mitzuteilen versuchte.

»Ich muss wohl eine Ausnahme machen. Denn ich habe Dr. Drechsler leichtfertigerweise versprochen, dass du ihm den Gefallen tun wirst.«

»Welchen Gefallen?«

Katinka Blohm berichtete, dass der angesehene Anwalt und Notar Konrad Drechsler noch vor den ­Feiertagen eine Erbangelegenheit regeln müsste: Der kürzlich verstorbene Nürnberger Immobilienhändler Erhard Engelbrecht habe seiner in den USA lebenden Nichte Tina ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Seine drei Kinder dagegen, mit denen er sich schon vor Jahrzehnten überworfen hatte, müssten sich mit ihrem gesetzlichen Pflichtanteil begnügen.

»Ein Geldsegen zu Weihnachten? Wie schön für die Nichte!«, fand Paul.

»Ja«, bestätigte Katinka. »Allerdings ein Segen, der tödliche Auswirkungen haben könnte. Das zumindest befürchtet Dr. Drechsler.«

Katinka erläuterte, dass das Testament nur so lange wirksam sei, wie die Nichte lebe. Käme sie vor Antritt ihres Erbes um, so fiele ihr Teil am Vermögen an die direkten Nachkommen des Immobilienmoguls.

»Kollege Drechsler, der mit den Engelbrechts seit vielen Jahren eng verbunden ist, traut zwar niemandem aus der Familie einen Mord zu, möchte aber auf Nummer sicher gehen«, führte sie aus.

Paul konnte ihren Worten folgen, erkannte aber seine Rolle nicht. »Was soll ich tun?«

»Nichts Besonderes. Eine Kleinigkeit«, meinte Ka-tinka mit einem etwas verkniffenen Lächeln. »Drechsler lässt anfragen, ob du Tina vom Flughafen abholen und zur Testamentseröffnung in seine Kanzlei begleiten würdest.«

»Ich?« Paul hob verwundert die Brauen. »Schon vergessen? Ich bin – wie du soeben selbst festgestellt hast – Fotograf und kein Bodyguard.«

Seine Frau winkte ab. »Dr. Drechsler möchte keinen Staub aufwirbeln und die Angelegenheit so diskret wie möglich regeln. Deshalb greift er nicht auf die Dienste einer Detektei oder eines Security-Service zurück, sondern auf dich. Ich hatte ihm mal von deinem Talent als Spürnase erzählt, daher seine Anfrage.« Sie schnappte sich Pauls Hand und drückte sie. »Das ist ein Vertrauensbeweis, Paul. Ein Mann von Drechslers Format würde nicht jeden x-Beliebigen dafür nehmen.«

Paul hatte seine Zweifel. »Der wahre Grund liegt wohl darin, dass ein echter Detektiv zu teuer ist, oder? Was zahlt dein Dr. Drechsler denn für den Job?«

»Es ist ein Gefälligkeitsdienst für einen geschätzten Kollegen«, nahm ihm Katinka jede Illusion. »Du machst es umsonst.«

 

Paul war pünktlich, ja sogar überpünktlich. Nachdem er seinen Renault Kangoo in der Kurzhaltezone vor dem Terminal des Flughafens abgestellt hatte, ging er auf direktem Weg zum Informationsschalter. Dort – so lautete die schnörkellos formulierte Anweisung von Dr. Drechsler – sollte er auf seinen Fahrgast warten, was Paul auch tat.

Während er sich an eine Säule lehnte und die Ströme der Passagiere an sich vorbeiziehen ließ, behielt er die Fluganzeige im Blick. Die Zeit verstrich. Die Maschine der KLM, auf der Tina via Amsterdam anreisen sollte, war längst gelandet, als er allmählich ungeduldig wurde. Selbst wenn man eine gewisse Zeit am Kofferband einrechnete, hätte Tina mittlerweile am Treffpunkt sein müssen.

Paul stand sich die Beine in den Bauch. Als seine Verabredung eine halbe Stunde später noch immer nicht aufgetaucht war, machte er sich auf die Suche. Er hielt Ausschau nach einer jungen Dame, auf die Tinas Beschreibung zutreffen könnte, schritt jeden Winkel der Ankunftshalle ab, suchte auch in den Abflughallen, Zwischentrakten und auf dem Vorplatz bei den Taxiständen. Anschließend kehrte er zum Info-Counter zurück und erkundigte sich, ob in der Zwischenzeit nach ihm gefragt worden sei. Fehlanzeige.

Ziemlich ratlos stieg Paul weitere dreißig Minuten später in seinen Wagen und fuhr zu Dr. Drechslers Kanzlei in der Innenstadt.

Der Anwalt, ein fülliger Endfünfziger mit aristokratischen Zügen, fiel aus allen Wolken. Auch die drei leiblichen Kinder des Verstorbenen, die sich zur Testamentseröffnung in der Kanzlei eingefunden hatten, reagierten überrascht, als Paul ohne die erwartete Begleitung in dem holzgetäfelten Konferenzraum aufschlug.

»Die arme Tina! Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen«, klagte die ältliche Bianca Engelbrecht in jammerndem Ton.

»Skandalös. Wie konnte das passieren?«, fragte der stramme Peter Engelbrecht und taxierte Paul scharf.

Sein snobistisch wirkender Bruder Michael schien dem Vorfall weniger Bedeutung zuzumessen, denn er behielt seine lässige Haltung bei, lehnte sich im breiten Ledersessel zurück und meinte mit jovialer Geste: »Unser Cousinchen wird schon auftauchen. Tina hat eben ihren eigenen Kopf. Vielleicht hat sie auf Konrads Chauffeurdienst gepfiffen und stattdessen die U-Bahn genommen. Ihr wisst doch, dass sie nichts von Extrawürsten hält.«

»Dann müsste sie trotzdem längst hier sein«, sagte der Anwalt mit zerfurchter Miene.