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Vilma Neuwirth

Glockengasse 29

Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien

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Im Angedenken an unsere Mutter, die wie eine
Löwin um uns kämpfte
.

Aus rechtlichen Gründen wurden die Namen von einigen im Buch
genannten Personen verändert.

Inhalt

Vorwort von Elfriede Jelinek

Schuhe aus Paris

Gassen- und »Milchkinder«

Kein Tumor

Glockengasse 29

Maria und Joseph

Geschenkter Dreier in Betragen

Die Auflösung der Familie

Kurt und Lally

Mutters Kampfgeist

Die einzigen Juden am Gang

… die Hand ist im Arsch

Nur für Arier!

Mina, die Perle

… außerdem habe ich auch den Führer gewählt

Ein »normaler« Tod

In Gedanken anderswo

Feindbegegnungen

Feindlicher Kampfverband im Anflug

Die allerletzten Tage

Die Widerständigkeit der Straße Nachwort von Michaela Raggam Blesch

Glossar

Vorwort

Dieses Buch habe ich gelesen wie einen Krimi. Weil es einer ist. Allerdings bleibt rätselhaft, woher all diese Verbrechen plötzlich gekommen sind, woher die Energie der kleinkriminellen Nachbarn und Nachbarinnen (der »Naziweiber«), die sich 1938 jüdische Wohnungen einfach nehmen, nur weil die ein bißchen besser oder größer sind als die eigenen. Der Terror, die Gier und die Unverschämtheit der sogenannten kleinen Leute, nicht nur der großen Verbrecher: »Ich war gerade 10 Jahre alt, und wer das nicht selbst erlebt hat, kann es nicht glauben«, schreibt die Autorin. Wie soll ein Kind verstehen, daß sich eine scheinbar ganz normale Nachbarsfamilie buchstäblich von einem Tag auf den anderen verändert? Bis heute ist das vielen, auch dieser Autorin, ein Rätsel geblieben. Wie kann es sein, daß anscheinend aus jeder nicht jüdischen Wohnung plötzlich nur noch SA-Uniformträger auftauchen wie das Trachtenpärchen aus dem Wetterhäuschen? Bis heute rätselt die Autorin, woher sie alle ihre SA-Uniformen und sogar die dazugehörigen Stiefel hatten. Wo sind die alle hergekommen, die Uniformen? Die müssen doch schon vorher gehortet worden sein! Und so müssen ja auch Vorbereitungen für die Verbrechen, die täglichen Alltagsgemeinheiten und -demütigungen der anderen (und der andere ist natürlich nie man selber, aber man hat im Dritten Reich nicht mehr die Wahl gehabt, ob man der oder ein andrer sein wollte) getroffen worden sein. Von heute auf morgen geht das doch nicht. Doch, das geht schon. Ein bissel was geht immer. In Richtung unbegreiflicher Heroismus genauso wie in die Richtung tiefster Gemeinheit. Solche Schilderungen dessen, was man eigentlich nicht benennen kann, weil es ein Rätsel ist, und jeder Kriminalroman braucht eben sein Rätsel, aber jeder Mensch ist doch ein Rätsel, man weiß nicht, in welche Richtung er in Schreckenszeiten kippt; aber diejenigen, die aufgrund ihrer Abstammung, ihrer »Rasse« zur Verfolgung freigegeben sind, haben nicht die Wahl, sie haben überhaupt keine Wahl mehr, nicht einmal auf Parkbänken dürfen sie mehr sitzen, nicht mehr dürfen sie einkaufen, wo sie wollen, nicht mehr dürfen sie zum Arzt gehen, und der Arzt wird irgendwann dann selber umgebracht, solche Schilderungen also müssen gelesen werden, von allen, solange solche Bücher überhaupt noch geschrieben werden. Aber was wird hier geschildert? Würde ich sagen: ganz normaler Wahnsinn, würde ich das ganze zu einer Fernsehserie reduzieren, und würde ich sagen: Triumph des Alltags-Hausverstands von Frauen, die über sich hinausgewachsen sind und geholfen haben, ihre Familien zu retten, obwohl ihre Rolle gewesen wäre, schön in und bei sich zu bleiben (aber natürlich nicht bei ihren jüdischen Ehemännern, von denen sollten sie sich sofort scheiden lassen, dalli dalli!) und ab und zu ein Kind zu kriegen, also aus ihren Körpern noch etwas herzugeben, würde ich das also hier so hinschreiben, das vom Hausverstand, wäre es heute nichts als eine TV-Werbung für eine Supermarktkette, und es ist doch nicht mehr und nicht weniger als der Bericht über ganz normale Leute, die zu Verbrechern geworden sind, und das jeden Tag aufs neue, und über ebenso normale Leute, die zu Helden eines Überlebenskampfs geworden sind, der kaum zu gewinnen war. Der Hauptpreis war ja schon das simple, nackte Leben. Nicht mehr, aber weniger geht eben auch nicht, denn weniger gibt es gar nicht.

Elfriede Jelinek

Schuhe aus Paris

Es war der 25. August 1945, mein 17. Geburtstag und gleichzeitig der erste, den ich seit 1938 ohne Angst feiern konnte. Einige Freundinnen und Bekannte saßen bei uns zu Hause und wir sprachen über die vergangenen Jahre und über das große Glück, diese schreckliche Zeit überhaupt überlebt zu haben. Schließlich hatten auch wir erst nach dem Krieg erfahren, welches Ausmaß die Verbrechen der Nazis gehabt hatten und dass Millionen von Menschen ermordet worden waren. Mutter stand in der Küche und richtete gerade ein paar von den spärlich belegten Brötchen her, als heftiges Klopfen an der Wohnungstüre unsere Unterhaltung unterbrach. Mutter erschrak ganz fürchterlich und fing zu zittern an.

Diese Angstzustände hatte sie immer, wenn es an der Türe klopfte, ohne dass sie jemanden erwartete, obwohl die verbrecherische Hitlerzeit schon seit einigen Monaten vorbei war. Sie hatte noch immer diese Angst in den Knochen, es könnte wieder jemand von der Gestapo kommen. Bei unserer Mutter hielt dieses Gefühl noch sehr lange an. Sie wurde, was sie früher nie war, ein Nerverl. Es war aber auch kein Wunder, schließlich hatte sie in den vergangenen sieben Jahren keinen einzigen Tag ohne Angst und Sorge verbracht. Sie als Christin war als Einzige in der Lage gewesen, unseren jüdischen Vater und uns »halbjüdische«1 Kinder vor den Nazis zu beschützen. Die ganze Last hatte nur sie zu tragen gehabt. Und wir Kinder machten es ihr damals nicht leicht, was ich heute noch zutiefst bedaure.

Mutter ging nicht zur Türe. Sie blickte mich fragend an, da wir keinen weiteren Besucher erwarteten. Also öffnete ich. Draußen stand Wilhelm Mayer, ein junger Mann, den ich nur vom Sehen kannte, mit einem Paket in der Hand. Sein Vater Jacqu es Mayer, ein reicher und im Bezirk sehr bekannter Kaufmann, besaß das Eckhaus samt Geschäft vis-à-vis. Ich schaute ihn ziemlich verdattert an. Mit diesem vornehmen Besuch hatte ich nie im Leben gerechnet. Auf meine Frage, was der Grund seines Besuches sei, antwortete er lachend: »Ich habe gehört, dass Sie heute Geburtstag haben, und möchte Ihnen ein kleines Geschenk überreichen.«

Er hielt eine schön verpackte Schachtel in der Hand und übergab sie mir. Ich war sprachlos und völlig perplex. Nie hätte ich gedacht, dass dieser fesche Kerl – und stinkreich noch dazu – ein Auge auf mich geworfen hatte. Ich bat ihn freundlich herein und stellte ihn meinen Gästen vor. Wie gesagt, die Familie Mayer war ziemlich bekannt, alle waren von diesem Besuch überrascht und es gingen ihnen förmlich die Augen über.

«Da wird wahrscheinlich etwas zum Naschen drinnen sein«, war mein erster Gedanke. Mein Mund begann schon wässrig zu werden. Süßigkeiten kannten wir nur vom Hörensagen. Kaufen konnte man sie sehr wohl, aber nur im Schleichhandel, wozu uns aber wirklich das Geld fehlte.

Ich nahm das Paket zögernd an mich, riss es aber dann sofort auf. Ein Blick hinein und mich traf fast der Schlag. Von Süßigkeiten keine Spur. In diesem Karton befanden sich ein Paar der schönsten Schuhe, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Es waren braune Sportschuhe mit einer pompösen Schnalle und Kreppsohle. Diese Schuhe waren, salopp gesagt, der pure Wahnsinn.

Wilhelm war gerade aus Paris gekommen und hatte dort, wie er mir später erzählte, nachgedacht, womit er mich überraschen könnte. Also, die Überraschung war ihm gelungen. Ich machte einen Quietscher und fiel ihm um den Hals. Mutter stand daneben und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Immerhin war er der Sohn eines echten Millionärs. Meine Bekannten freuten sich zwar mit mir, aber ganz ohne Neid wird diese Freude wohl nicht gewesen sein.

Mutter war völlig eingeschüchtert – mit solchen Leuten bekannt zu sein, konnten wir uns nicht einmal vorstellen. Mir per sönlich war das im Augenblick ziemlich egal, ich sah nur die Schuhe. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie ein Paar neue Schuhe besessen. Als Jüngste von uns acht Kindern bekam ich immer nur die ausgelatschten Schuhe und die abgetragenen Kleider meiner um ein Jahr älteren Schwester. Und wenn meine Schwester »neue« Sachen bekam, waren diese auch schon alt, denn mein Vater kaufte sie von Leuten, deren Kinder bereits herausgewachsen waren. Das heißt, ich war die dritte Besitzerin von Kleidern und Schuhen, die ihren Geist schon mehr oder weniger aufgegeben hatten. Bezahlt wurde in Naturalien. Da mein Vater Friseur war, wurde vereinbart, wie oft den Kindern oder deren Mutter als Gegenwert die Haare geschnitten würden oder der Vater eine Rasur bekäme.

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Vilma im Alter von 17 Jahren, kurz nach Kriegsende

Das Glücksgefühl, das ich damals beim Anblick dieser neuen Schuhe hatte, kann sich heute kein Mensch vorstellen. Wilhelm Mayer hatte mir einen Kindheitstraum erfüllt: einmal nur ein Paar neue Schuhe zu besitzen.

Sofort schlüpfte ich in dieses Wunder von Schuhen, aber dann kam der Schock: Sie waren mir zu klein. Ohne Rücksicht auf meine Besucher zu nehmen, rief ich: »Bitte entschuldigt mich für ein paar Minuten!«, und ließ alle sitzen. Ich rannte auf schnellstem Weg in die Novaragasse zu unserem Hausschuster, Herrn Poledne. Er doppelte schon seit Jahren unsere durchlöcherten Schuhe oder vernähte die offenen Risse im Leder. Er schien mir der Retter in der Not.

Ich sehe ihn noch heute gebückt auf seinem niedrigen Schemel vor mir sitzen, einen Haufen alter, löchriger Schuhe vor sich aufgebaut. Der Geruch war den alten Schuhen angepasst: Es stank fürchterlich. Herr Poledne war ein lieber, böhmakelnder, gemütlicher älterer Mann. Er flickte unsere Schuhe, auch wenn wir nicht zu den Barzahlern gehörten. Keines von uns Kindern besaß ein zweites Paar, also warteten wir immer gleich auf die zu reparierenden Schuhe, sonst hätten wir bloßfüßig herumlaufen müssen.

Als ich Herrn Poledne nun meine Schuhe zeigte, bekam er Stielaugen, so beeindruckt war er. Er hatte schon jahrelang keine neuen Schuhe in der Hand gehabt.

»Jö, von wo hast die schönen Schuch?«, fragte er mich.

Als ich ihm sagte, wer mir die Schuhe geschenkt hatte, verging er beinahe vor Ehrfurcht. Ich fragte ihn, ob er etwas unternehmen könne, damit sie mir passten.

Er wiegte nachdenklich seinen Kopf hin und her und meinte: »Also, ob da etwas zu machen ist, kann ich nicht versprechen. Die sind dir um mindestens zwei Nummern zu klein.«

Mir war die Enttäuschung scheinbar ins Gesicht geschrieben, denn er sagte: »Ich werde sie eine Woche lang dehnen, aber ob sie dann passen, kann ich nicht versprechen.«

Der Weg zurück in die Wohnung war trost- und hoffnungslos. Als ich dort ankam, konnte ich zu einer Unterhaltung nichts mehr beitragen. Meine euphorische Geburtstagsstimmung war wie weggeblasen. Auch Wilhelm Mayer war sehr enttäuscht, dass er sich in meiner Schuhgröße so sehr geirrt hatte. Wie hätte er sie auch wissen können!

Nach einer Woche ungeduldigen Wartens holte ich die Schuhe ab, aber sie waren noch immer zu klein. Mir war klar, was immer ich unternehmen müsste, diese Schuhe würde ich nicht aufgeben. Ich griff zur Selbsthilfe: Ich legte das gute Paar ins Wasser und hoffte, dass sie sich nicht auflösten. Ich ließ sie so lange im Wasser liegen, bis sie sich wie ein Schwamm vollgesogen hatten, und ging dann mit den eingeweichten Schuhen in der Wohnung herum in der Hoffnung, sie dadurch auszudehnen. Was wiederum meine Mutter nicht sehr freute. Überall, wo ich ging, hinterließ ich Wasserlachen. Ständig rannte sie schimpfend mit einem Reibfetzen hinter mir her, um den Boden aufzuwischen. Ich trug die Schuhe tagelang und hatte so viele Blasen an den Fersen, dass ich nur noch in Schlapfen auf die Gasse gehen konnte. Wurden die Blasen zu groß, stach ich sie mit einer Nadel auf, damit sie wieder kleiner wurden. Mir war alles egal: Kein Schmerz war groß genug, um die Schuhe aufzugeben. Mutter schimpfte ununterbrochen mit mir: »Wie kann man nur so deppert sein und sich wegen der Schuhe die Füße kaputt machen?«

Ich hörte gar nicht hin, ich hätte die Schuhe sogar am liebsten im Bett anbehalten. Nach langen Tagen und vielen Blasen konnte ich die Schuhe dann endlich doch auf der Straße tragen. Ich stolzierte damit herum wie der Hahn am Mist, schließlich hatte ich sie mir aufrichtig erarbeitet. Mit Wilhelm Mayer, dem Spender dieser Schuhe, war ich dann immerhin siebzehn Jahre lang verheiratet.

1Als »Halbjuden« (Mischlinge ersten Grades) galten nach dem »Reichsbürgergesetz« vom 14. November 1935 bzw. dem Erlass vom 26. November 1935 Menschen mit zwei jüdischen Großeltern. Diese Klassifizierung wurde mit dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich übernommen.

Gassen- und »Milchkinder«

Um diese überzogene Reaktion wegen der Schuhe zu verstehen, muss ich die Armut schildern, in der wir lebten: Sie war enorm groß. Bei allen anderen Eltern, die auch viele Kinder hatten, war die Situation genauso wie bei uns. Wir Kinder sahen alle gleich zernepft aus. Einen Vorteil hatten wir: Wir brauchten auf die alten Sachen, die wir trugen, nicht aufzupassen. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass wir je eine Puppe, ein Märchenbuch oder sonst irgendein Spielzeug besessen hätten. Unser Spielzeug bestand aus alten Nähspulen, in die vier Nägel eingeschlagen wurden. Wir schnorrten uns von den Nachbarn alte Wollreste und erzeugten dann mit Stricknadeln meterlange Wollwürste, die natürlich kein Mensch brauchen konnte. Oder wir spielten mit Steinen »Anmäuerln«.

Manches Mal, wenn wir Kinder aus vornehmen Familien mit ihren Puppenwägen und schönen Kleidern, einem Riesenmascherl im Haar und weißen Handschuhen sahen, überkam uns schon der Neid. Ich blickte sehnsüchtig auf ihre wunderschönen schwarzen Lackschuhe, die mit einer Spange und Knöpferln bestückt waren. Der Neid hielt aber nicht lange an, denn so, wie diese »Milchkinder«, wie wir sie nannten, mit ihren Eltern artig und brav spazieren gehen mussten, hatten wir oft das Gefühl, dass sie uns beneideten.

Unsere Interessen waren ganz andere: Wir waren eine Gruppe von 12 bis 14 Gassenkindern, die nichts anderes im Kopf hatten, als immer wieder neue Streiche auszuhecken. Wir kamen alle aus dem gleichen armen Milieu. Unter uns gab es keinen Neid oder Konkurrenzkampf, wir hatten alle das Gleiche – nämlich nichts. Wir waren immer nur unter uns, denn die Kinder aus besseren Familien durften ohnehin nicht mit uns spielen.

Am liebsten unternahmen wir Dinge, die zur Folge hatten, dass uns die älteren Leute nachrennen mussten. Das war eigentlich unsere Lieblingsbeschäftigung. Ein Beispiel: Es gab damals keine verschlossenen Haustore mit Gegensprechanlage. Alle Haustore wurden um zehn Uhr nachts vom Hausbesorger zugesperrt. Kam ein Mieter nach zehn Uhr und hatte keinen Haustorschlüssel, musste er ein »Sperrsechserl« bezahlen.

Wir gingen also in ein beliebiges Haus. Im Parterre befand sich meistens eine Bassena. Zuerst schauten wir nach, ob die Luft rein und der Hausbesorger ja nicht in der Nähe war. War das der Fall, begann unsere »Arbeit«: Wir füllten sogenannte »Spritzlutschger« – das waren winzige Luftballons in der Größe eines Babyschnullers und damals ein beliebtes Spielzeug – mit Wasser voll. Da jeder Einzelne von uns versuchte, den Ballon so groß wie möglich zu machen, zerplatzten sie natürlich hin und wieder. Das Ergebnis war eine Überschwemmung in der Hauseinfahrt. Erwischte uns der Hausmeister, gab es ein paar Watschen. Daher waren wir darauf vorbereitet, einen »schnellen Abgang« zu machen. Und rennen konnten wir ziemlich schnell.

Dieses Davonrennen war ein gutes Training für später. Während des Krieges half es mir sehr. Nicht nur einmal musste ich vor »lieben Mitmenschen« davonlaufen, um nicht geschlagen zu werden. Nach dem Krieg wurde ich dann eine ganz brauchbare Stafettenläuferin in der Hakoah2.

Eines Tages überraschte uns meine Freundin Weibi (ihr richtiger Name war Hilde) mit einer Sensation. Ihr Vater, ein gewalttätiger Säufer, machte ihr, als er zufälligerweise einmal nicht betrunken war, ein Triton, einen Roller. Er bestand aus zwei Brettern und zwei Kugellagern. Dieses Gefährt war für uns höchst beeindruckend. Es schepperte auf den Pflastersteinen so laut, dass die Leute immer mit uns schimpften: »Schleicht’s eich, es bleden Menscher mit dem Glumpert!«

Das störte uns nicht weiter. Wir stritten uns immer darum, wer zuerst damit fahren durfte. Dafür verlangte Hilde eine Gegenleistung: entweder – falls vorhanden – ein Stollwerckzuckerl oder einmal vom Schmalzbrot abbeißen lassen. Dass wir uns ständig Schiefer einzogen, nahmen wir gerne in Kauf. Unsere Truppe war bekannt – wo wir auftauchten, gab es Wickel.

Unsere Eltern hatten ständig damit zu tun, die Nachbarschaft zu besänftigen. Immerhin waren wir acht Kinder, und wenn ich ehrlich bin: Wir waren acht richtige Gfraßter.

2Jüdischer Sportverein, gegründet 1909 als Folge des gestiegenen Selbstbewusstseins liberaler Juden und der veränderten Einstellung zur Körperkultur. Ein bedeutender Grund war auch die Ausgrenzung der Juden von anderen Sportvereinen durch Arierparagrafen.

Kein Tumor

Mein Leben begann eigentlich als Missverständnis. Mutter stillte meine zukünftige Schwester, die gerade ein paar Monate alt war, als ihr auffiel, dass ihr Bauch immer größer wurde. Ihr erster Gedanke war: »Großer Gott, ich habe einen Tumor.« Auf die Idee, dass es etwas anderes sein könnte, kam sie gar nicht, denn zur damaligen Zeit war man der Meinung, dass es während der Stillzeit nicht möglich ist, wieder schwanger zu werden. Voll Sorge ging sie zu unserem Hausarzt Dr. Braun, der gleich um die Ecke in der Großen Stadtgutgasse ordinierte. Er beruhigte sie nach einer kurzen Untersuchung: »Gratuliere, Frau Kühnberg, Sie haben keinen Tumor, Sie sind im fünften Monat schwanger.«

Mutter traf fast der Schlag. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit einer neuerlichen Schwangerschaft. Sie war einem Nervenzusammenbruch nahe. Mutter erzählte uns später, dass sie den Arzt damals mit erhobenen Händen anflehte: »Herr Doktor, Sie müssen mir helfen! Wie sollen wir das finanziell verkraften? Wir kommen ja schon jetzt mit dem Geld nicht aus!« Dr. Braun erwiderte lachend: »Frau Kühnberg, wenn Sie sieben Kinder ernähren können, werden Sie auch das achte schaffen.« So verständnisvoll und einmalig Dr. Braun auch war, in diesem Fall blieb er unerbittlich. Mutter musste mit der Tatsache fertig werden, noch ein Kind aufzuziehen und zu ernähren. Ein Glück für mich, dass ihr Dr. Braun damals so ins Gewissen redete. Wo wäre ich sonst?

Dabei handelte er eigentlich gegen sein eigenes Interesse, denn er wusste genau, was auf ihn zukam: Er hatte fast nur Patienten, die entweder arbeitslos waren oder ohnehin nichts hatten. Eine Krankenversicherung gab damals auch nicht. In vielen Fällen – so wie manches Mal bei uns – legte er sogar das Geld für die Medikamente aus, die zwar dringend gebraucht wurden, aber nicht bezahlt werden konnten. Er wusste, dass die Leute, wenn sie wieder Geld hatten, ihre Schulden zurückzahlten. Er war unglaublich geduldig, nie wurde einer seiner Patienten wegen der Bezahlung gemahnt. Mit einem Wort: Er musste oft lange warten, bis er zu seinem Honorar kam. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein Engel in Menschengestalt.

Sein Ruf als guter Arzt war weit verbreitet. So hatte er außer uns Minderbemittelten sehr viele wohlbestallte Geschäftsleute aus der Umgebung als Patienten. Diese trugen dazu bei, dass er, ohne uns mahnen zu müssen, überhaupt existieren konnte. War er nicht in der Ordination, sah man ihn oft mit seiner zerfledderten Arzttasche Patienten besuchen. Meine Eltern waren schon froh, wenn sie die Miete pünktlich bezahlen konnten. Zahlte man nicht pünktlich, wurde sofort delogiert. Die Angst davor war die größte Sorge der Leute in unserer Gegend.

Wir wohnten in der Leopoldstadt, Glockengasse 29. Die Wohnung bestand aus einem Zimmer, der Küche und einem Kabinett; Wasser und zwei Plumpsklos, ausgestattet mit klein geschnittenen alten Zeitungen als Klopapier, befanden sich am Gang. Die zerschnittenen Zeitungen wurde fein säuberlich auf einen Spagat aufgefädelt und abreißbereit mit einem Nagel an die Wand gehängt. So viel Ordnung musste sein.

Die zwei Klos und die Bassena am Gang wurden jeden Tag in der Früh zu einem großen Problem. Da an jeden Gang fünf Wohnungen grenzten und in jeder Wohnung mindestens fünf bis sechs Leute wohnten – bei uns waren es zehn –, gab es jeden Morgen vor der Bassena und dem Klo ein Gedränge. Es ging zu wie in einem Turnsaal. Man hüpfte von einem Bein auf das andere, um auf die Dringlichkeit des Bedürfnisses hinzuweisen. Wurde die Lage zu brenzlig, rannten die meisten in ihre Wohnung und benützten einen Kübel. Dann stellten sie sich mit den vollen Kübeln wieder an, um diese auszuleeren. Da hatten sie sogar Zeit für ein kleines Tratscherl.

Mutter war morgens immer die Erste. Sie stand bereits um fünf Uhr am Gang. Den hatte sie um diese Zeit für sich allein. Sie füllte sämtliche Gefäße mit Wasser, damit wir uns alle waschen konnten. Dann weckte sie Vater. Wenn wir Kinder aufgeweckt wurden, waren die Eltern schon mit ihrer Garderobe fertig. Sie waren komplett gewaschen und angezogen. Wir Jungen haben die beiden nie, nicht ein einziges Mal, nackt gesehen, nicht einmal in der Unterwäsche. Weder Mutter in einer Kombinege noch Vater in der Unterhose. Ich weiß nur, dass er lange Unterhosen trug, denn Mutter musste sie ja bügeln.