Lea Storm blickte resigniert auf das leuchtende Display ihres Weckers: 2.46 Uhr. Das würde eine weitere schlaflose Nacht werden, verdammt! Sie setzte sich im Bett auf und trank einen Schluck Wasser. Talisker, ihr rotbrauner Schottischer Hirschhund, gähnte, streckte sich im Flur vor der offenen Schlafzimmertür zu seiner beeindruckenden Länge und kam an Leas Bett getrottet. Erwartungsvoll legte er seine Schnauze auf den Rand ihrer Matratze und schien Lea mit seinen dunklen Augen zu mustern.
»Du freust dich wieder auf einen nächtlichen Ausflug, was, mein Großer?«
Seit vier Wochen ging das schon so, Lea fand keine Nachtruhe. Anfangs hatte sie gelesen und in der ersten Woche pro Nacht ein Buch verschlungen. In der zweiten Woche hatte sie alle achtzehn Folgen der britischen Krimi-Serie Morse auf ihrem Laptop geschaut und dann begonnen, Krieg und Frieden zu lesen. Seit einer Woche nun stand sie einfach auf, zog sich ihre Laufsachen an und joggte mit Talisker durch die Nacht. Danach stieg sie in die Badewanne, trank einen doppelten Whisky und fand wenigstens noch zwei Stunden Schlaf, bis sie um halb acht wieder wach wurde.
»Up! Na komm, Großer, dann drehen wir wieder eine Runde.«
Talisker fand großen Gefallen an diesen nächtlichen Ausflügen, das Angebot an Fährten entlang des Berliner Mauerwegs im Süden der Stadt war die pure Freude für jede Hundenase. Lea konnte von ihrem Garten aus direkt auf den ehemaligen Grenzstreifen treten, der Berlin von Teltow trennte. Sie besaß eines der von einigen Nachbarn neidvoll betrachteten Filetgrundstücke ganz am Ende der Eigenheimsiedlung im Eifelviertel. Die Siedlung umfasste rund einhundert kleine, quaderförmige Häuser mit putzigen Gärten davor und dahinter, angeordnet in Zeilen entlang dem Stolberger Ring und seinen kleinen Nebenstraßen, dem Monschauer Weg, dem Eupener Weg und dem Dürener Weg, an dessen Ende Leas Haus lag.
Ihr Mann Mark hatte das Reihenendhaus und das Grundstück, auf dem es stand, von seiner Großmutter geerbt. Als die und ihr Mann das Haus Mitte der sechziger Jahre gekauft hatten, waren die Bäume noch Setzlinge und die Häuserreihen in nur drei verschiedenen Farben gehalten gewesen. Mittlerweile hatte beinahe jedes Haus eine andere Farbe, manche wiesen gedämmte oder verklinkerte Fassaden auf, und ebenso unterschiedlich hatten die Besitzer im Laufe der vergangenen fünf Jahrzehnte ihre Vorgärten und ihre Hauseingänge gestaltet. Was früher an Bauhaus erinnerte, vermittelte heute einen eher kubistischen Eindruck inmitten der nun hohen, alten Bäume, die den Straßenrand säumten, in den Zeilen Schatten spendeten und mit ihren kräftigen Wurzeln das Pflaster der Bürgersteige und der Garagenhöfe anhoben. Der Dürener Weg war eine Sackgasse und lag dadurch sehr ruhig und beschaulich direkt an der Grenze zwischen Berlin-Lichterfelde und Sigridshorst in Brandenburg.
»Tally, up, let’s go!« Lea gab dem großen Jagdhund das Zeichen, zu ihr zu kommen. Sie hatte ihre Laufschuhe geschnürt, steckte ihr iPhone und den Hausschlüssel in separate Fächer ihrer Neo-Belt-Gürteltasche und zog die Schiebetür zum Garten auf. Sie wusste, dass sie ihre Schlafstörungen nicht länger ignorieren durfte, aber sie verabscheute Wartezimmer und das deutsche Gesundheitswesen mit einer geradezu pathologischen Vehemenz und zögerte so den Besuch bei Dr. Schulte immer wieder hinaus. Sie wusste ja, was er ihr sagen würde: Er könne Tabletten verschreiben, aber begleitete Trauerarbeit wäre viel besser für sie. Lea fiel in einen leichten Trab, Talisker an ihrer Seite.
Der Buga-Wanderweg verlief auf dem ehemaligen DDRGrenzstreifen vom S-Bahnhof Lichterfelde Süd am Teltowkanal entlang durch Kleinmachnow bis nach Potsdam. Der erste Abschnitt zwischen Lichterfelde Süd und Teltow, den Lea nun mit Talisker erreicht hatte, war mit japanischen Kirschbäumen bepflanzt. Jetzt im Juli waren sie schon abgeblüht, aber im Mai standen sie stets in voller zartrosa Pracht, und wenn das Brandenburger Gartenbauamt dann auch noch die Rasenflächen mähte, sah die Strecke zwischen Lichterfelder Allee und der Bahntrasse, die Lichterfelde mit Teltow verband, sehr malerisch aus. Tagsüber herrschte auf dem ehemaligen Todesstreifen ein reges Treiben, Radfahrer und Jogger bahnten sich ihren Weg zwischen Spaziergängern, Kinderwagen, frei laufenden Hunden und kleinen Kindern auf Laufrädern hindurch. Nordic-Walking-Trupps aller Altersgruppen zogen laut schnatternd an den anliegenden Gärten vorbei, und ab und zu feierten Jugendliche Partys bis in die frühen Morgenstunden.
Lea konnte die Pferde vom nahe gelegenen Hof schnauben und wiehern hören. Etwa eine Viertelstunde entfernt, wenn man zügig in Richtung Osten ging, begann flaches Brandenburger Land, und Lea genoss den offenen Blick über die weiten Felder bei jedem ihrer Läufe oder Spaziergänge, die sie dort entlangführten. Sie kam selbst aus Schöneberg und hatte ihre Kindheit und Jugend in der Innenstadt verbracht, bis sie Berlin verlassen musste. Sie liebte es, sich draußen aufzuhalten, und lief täglich mehrere Stunden mit Talisker, oft querfeldein durch das alte Truppenübungsgelände der Amerikaner, auch wenn das eigentlich nicht öffentlich zugänglich war. Heute Nacht wollte sie die Strecke am Feld entlang nehmen, um sich möglichst schnell auszupowern.
Sie hatten die Kurve hinter dem Bahndamm passiert und befanden sich kurz vor der Gedenkstele für Hans-Jürgen Starrost, eines der Berliner Maueropfer, als Talisker leise zu knurren begann. Lea war überhaupt nicht ängstlich, obwohl ihre nächtlichen Ausflüge natürlich nicht ganz ungefährlich waren. Mit einem Hund von der Größe Taliskers an ihrer Seite konnte ihr nicht allzu viel passieren. Trotz seines fast schon stoischen Gemüts genügte ein einziges Wort von ihr, und er würde sein Gegenüber zu Boden stoßen und stellen, bis ihr nächster Befehl über den weiteren Verlauf der Begegnung entschied. Talisker parierte aufs Wort, Mark und sie hatten viel Zeit und Geld in seine Erziehung gesteckt, und das hatte sich auch gelohnt.
Taliskers Knurren wurde intensiver, je näher sie dem Feld an der Abbiegung nach Sigridshorst kamen. Der Vollmond schien hell auf den Weg, Bäume und Büsche rechts und links von ihr lagen im Dunkeln. Darin verbarg sich aber nicht der Grund für Taliskers Unmut. Das Bild, das der Mond über dem Feld ausleuchtete, würde sie nicht mehr vergessen.
Der Weg, auf dem sie lief, führte auf einen kleinen Platz. Links ab ging es, mit dem Feld zur Rechten, in Richtung Osdorfer Straße, auf der anderen Seite befand sich das brachliegende, eingezäunte Areal des ehemaligen Truppenübungsgeländes der US-Streitkräfte. Rechts ab verliefen zwei Pfade nach Sigridshorst, einer in die Wohngegend, der zweite, mit dem Feld zur Linken, vorbei an einer Schrebergartenkolonie. Auf dem Platz standen vier Metallbänke, zwei nebeneinander mit Blick auf das Feld, die anderen beiden, denen Taliskers Aufregung galt, links am Rand mit Blick auf die Weggabelung.
Ein leichter Wind strich durch die Wipfel der Baumsetzlinge hinter den Bänken, und ganz in der Nähe hörte Lea ein Käuzchen rufen. Sie sah zwei Personen auf den Bänken sitzen, einen Mann auf der rechten der beiden Bänke und eine Frau auf der linken. Beide saßen regungslos da, und es dauerte einen Moment, bis Lea den Grund dafür erkannte. Etwas stimmte nicht mit ihren Köpfen. Der der Frau hing ein wenig schlaff zur Seite, und der des Mannes hatte eine ganz merkwürdige Form.
Talisker stand stocksteif an ihrer Seite. Er wirkte konzentriert, aber nicht so, als drohte Gefahr. Also beschloss Lea, sich der skurrilen Szene zu nähern. Sie hatte keine Angst, die Situation war viel zu unwirklich. Lea wandte sich zunächst der recht jungen Frau auf der linken Bank zu. Sie war vielleicht Anfang zwanzig, hatte langes dauergewelltes und blondiertes Haar, wie Lea im Lichtstrahl ihrer Taschenlampen-App bemerkte. Ein tiefer Schnitt klaffte an ihrer Kehle, man hatte ihr beinahe den Kopf abgeschnitten. Ihr Körper steckte in einem hautengen Schlauchkleid, das blutgetränkt war. Nur kleine Stellen, an die das Blut noch nicht gesickert war, leuchteten in Neongrün. Ihr Fleisch quoll aus dem Abschluss über der Brust. Die Hände der Toten waren in einer bescheiden anmutenden Geste im Schoß gefaltet, die Beine geschlossen, und die Füße in den extrem hohen Riemchensandalen standen eng nebeneinander. Wie konnte man in so etwas laufen? Ihre Fußnägel waren in einem leuchtenden Orange lackiert, ebenso wie ihre sehr langen Fingernägel. Die kamen sicher aus dem Nagelstudio. Die Haltung der Frau passte so gar nicht zu ihrer Aufmachung.
Lea drehte sich zu dem Mann. Er trug eine Jeans von einem Discounter, über deren Bund sich ein schlapper Bierbauch ergoss. Wie hielt diese Hose an ihm? Er musste sie doch bestimmt ständig hochziehen, wenn er sich bewegte. Und wenn sie unter der Bauchlinie mit einem Gürtel festgehalten wurde, musste sie dem Träger beim Sitzen die Blutzufuhr zur unteren Körperhälfte abschneiden. Eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf wies Lea auf die Absurdität ihrer Gedankengänge hin, und sie konzentrierte sich wieder auf das, was sie sah. Der Mann trug ein gestreiftes kurzärmeliges Hemd, das nach Synthetik aussah und dessen Knopfleiste über dem Bauch zum Bersten gespannt war. In der linken Brusttasche steckte ein Kugelschreiber. Sein Schädel oder vielmehr das, was von ihm übrig war, hatte die Form eines Fußballs, der dem heftigen Zubeißen eines großen Hundes nicht hatte standhalten können und dem nun die Luft fehlte. Das Gesicht war blutüberströmt, und Lea wunderte sich für einen kurzen Moment, warum sie sich weder fürchtete noch übergeben musste. Sie blieb in kompletter Distanz zu der grauenvollen Szenerie vor ihr. Talisker ließ sie aus einigen Metern Abstand keinen Moment aus den Augen.
Dann erfasste der Lichtstrahl ihres Smartphones ein Büschel beinahe lachsroter Haare, die aus dem mit schwarzem Blut verklebten oberen Teil des Kopfes herausragten, fast so, als hätte jemand mit Haargel nachgeholfen. In dem Moment, als sie den Mann an seiner auffälligen Haarfarbe erkannte, winselte dessen Hund. Lea ging um die Bank herum und fand den Beagle, der ein paar Meter weiter im Gras lag. Sie wählte die 110 auf ihrem iPhone und sah sich die Hündin ihres Nachbarn genauer an.
Keine halbe Stunde später war die Szene in grelles Licht getaucht. Lea hatte das Fluchen des Kriminalhauptkommissars in der unwirklichen Betriebsamkeit deutlich hören können, als die Scheinwerfer der Spurensicherung auf ihre Fußabdrücke im Blut der Opfer gefallen waren. Der Fundort – noch wusste niemand, ob es sich auch um den Tatort handelte – war mit dem rot-weißen Absperrband der Polizei gesichert, und die in weiße Schutzanzüge gekleideten Gestalten der Spurensicherung waren dabei, Fotos zu machen und eben Spuren zu sichern. Lea hatte ihre Laufschuhe abgeben müssen, und die Beamtin hatte ihr dabei in Aussicht gestellt, dass man auch ihre restliche Kleidung noch im Laufe der Nacht werde mitnehmen müssen. Gerade hatte sie Ersatzschuhe aufgetrieben, und Lea sah sie mit einem Paar Flipflops in der Hand zusammen mit dem Hauptkommissar auf sich zukommen.
»Kriminalhauptkommissar Glander, LKA Brandenburg. Sie haben die Leichen also gefunden? Was machen Sie denn um diese Zeit hier draußen?«
Ein Mann von Takt und großer Zurückhaltung, dachte Lea mit einem Anflug von Ironie und konnte sich eines Zuckens um die Mundwinkel nicht erwehren. Glander entging das unterdrückte Lächeln nicht. Er war ungefähr einen halben Kopf größer als sie selbst, die mit ihren 1,78 Meter auch nicht gerade klein war. Seine Haare waren kurz und straßenköterblond. Er trug eine vermutlich schlammfarbene Cargohose und ein ungebügeltes Polohemd in dunklem Oliv oder vielleicht auch Grau, die Farben waren in dem kalten Licht nicht so genau zu erkennen. Seine Füße steckten in leichten Trekkingschuhen. Der Kommissar wirkte kräftig und trainiert, wie jemand, der regelmäßig Sport trieb, ohne es zu übertreiben. Sie fand ihn attraktiv, doch das Flüstern in ihrem Hinterkopf warf erneut ein, dass das ein gänzlich unpassender Gedanke war. Lea gab der Stimme recht.
»Ich kann nicht schlafen«, entgegnete sie und sah ihn an. Er hatte stahlblaue Augen, und auf einmal wusste sie ganz genau, an wen er sie erinnerte: Er war eine moderne und erheblich kernigere Version von Steve McQueen, es fehlte nur der im Hintergrund geparkte Ford Mustang.
Glander fragte sich derweil, ob die Frau vor ihm, wenngleich zweifelsfrei äußerst ansehnlich in ihren knappen Sportsachen, bescheuert war. Wer trieb sich denn mitten in der Nacht freiwillig auf so einer abgeschiedenen Strecke rum? »Und da fällt Ihnen nichts Besseres ein, als hier joggen zu gehen? Ist ja nicht gerade ungefährlich, so ganz alleine auf dem Mauerstreifen rumzustreunen.«
Etwas an seinem Tonfall musste Talisker missfallen haben, denn er erhob sich ein paar Meter hinter Lea und knurrte leise.
»Himmel, gehört der zu Ihnen?« Glander starrte den Hund an, der ihn fixierte.
»Das ist Talisker. Tagsüber ist er ein Lamm, aber nachts freelanct er als mein Bodyguard.«
»Mondkalb trifft es wohl eher. Was ist das denn für eine Rasse? Der wiegt doch sicher fünfzig Kilo.«
»›Der‹ ist ein Scottish Deerhound, und er wiegt genau 42,5 Kilo. Er ist recht schlank, weil wir viel laufen.«
»Na gut, das erklärt, wieso Sie sich bei der Dunkelheit nicht fürchten. Meine Kollegin bringt Sie jetzt erst mal nach Hause. Ich komme etwas später bei Ihnen vorbei, um mich weiter mit Ihnen zu unterhalten. Sie wissen ja«, er räusperte sich, »dass wir Ihre Kleidung für die Spurensicherung mitnehmen müssen.« Damit drehte er sich abrupt um und ging wieder hinüber zu den Leichen.
Lea sah die Polizistin an. »Ist er immer so charmant?«
»Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn man Sie um diese Zeit aus dem Bett klingelt und zu zwei Leichen holt?«
»Ich wäre froh, wenn ich bis jetzt geschlafen hätte.«
Originalausgabe
1. Auflage 2014
© 2014 Jaron Verlag GmbH, Berlin
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unter Verwendung eines Fotos von plainpicture/Jakob Börner
Skizze S. 6: Sabine Lehmann, Schwäbisch Hall
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN 9783955522049
Beate Vera
Wo der Hund begraben liegt
Ein Provinzkrimi aus Berlin
Jaron Verlag
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Aus Leas Küche
Kleines Nachwort, großer Dank
Für
Maarten und Eric.
Ohne Euch ist alles nichts.
Glander hatte richtig vermutet: Das LKA 1 übernahm den Mordfall Hantschke, und der Streifenwagen, der Lea am folgenden Tag um elf Uhr abholte, brachte sie in die Keithstraße. Sie fand Prinz genauso unangenehm wie bei ihrem kurzen Treffen in der vorangegangenen Nacht, aber überraschenderweise hatte er gar kein großes Interesse an ihrer Aussage und ließ diese von einem Kollegen mit niedrigerem Dienstrang protokollieren. Der Beamte nahm ihr auch Fingerabdrücke ab. Reine Routine. Auf dem Heimweg bat Lea den Fahrer, sie am Thuner Platz abzusetzen, von dort würde sie laufen oder den Bus nehmen. Nachdem sie ausgestiegen war, überquerte sie die kopfsteingepflasterte Straße und ging auf den gegenüberliegenden Parkfriedhof.
Marks Vater, ein britischer Soldat mit einem schweren Alkoholproblem, ließ ihn und die Mutter sitzen, als Mark zehn war. Der Vater kehrte nach England zurück und meldete sich nie wieder. Marks Mutter kam nicht darüber hinweg, und nach ihrem dritten Suizidversuch übertrug das Amt die Vormundschaft für den Sohn der Großmutter. Bei ihr lebte er, wenn er nicht im Internat auf Schwanenwerder war. Der vierte Versuch seiner Mutter, ihrem Leben ein Ende zu setzen, glückte, als Mark sechzehn war. Trotz dieses belastenden familiären Hintergrunds war Mark ein sehr guter Schüler. Nach dem Tod seiner Mutter stürzte er sich in seine Ausbildung, legte ein glattes Einser-Abi hin und zog sein direkt anschließendes Architekturstudium ebenso konsequent durch. Er machte den besten Abschluss seines Jahrgangs und bewarb sich im Büro des britischen Architekten Richard Rogers um einen Job. Als einer der jüngsten Mitarbeiter war er knapp ein Jahr später an den Bauvorhaben am Potsdamer Platz beteiligt.
Marks Großmutter Elisabeth war eine resolute und pragmatische Frau, die die ersten Zeichen ihrer beginnenden Krebserkrankung sofort richtig einschätzte. So überschrieb sie Mark das Haus und richtete ihm sämtliche Vollmachten ein. Sie sprach ausführlich mit ihm über ihre Wünsche und versicherte ihm, dass er sich keine Sorgen um sie zu machen brauchte. Elisabeth war über siebzig, hatte ein erfülltes Leben geführt, von dem sie nur die wenigsten Dinge bereute, und sah dem Tod gelassen entgegen. Als es ihr langsam schlechterging, kündigte Mark seinen Job entgegen allen Warnungen seiner Kollegen und Freunde und pflegte Elisabeth. Zunächst alleine, später mit der Unterstützung zweier Pflegerinnen. Er hielt Elisabeths Hand, als sie starb.
Nach ihrer Beerdigung buchte er einen Flug nach Glasgow, packte seinen Trekkingrucksack und begann eine lange Wanderung durch das Schottische Hochland. Lea begegnete ihm bei Duncansby Heads, vor den Stacks, der spektakulären Felsformation im Norden des Landes. Bereits ein Jahr nach ihrem ersten Treffen kam ihr Sohn Duncan in Berlin zur Welt. In den folgenden Jahren bauten sie das Haus aus, in dem Elisabeth bis zu ihrem Tod gelebt hatte, gestalteten den großen Anbau und legten den Garten ganz neu an.
Mark hatte seinen Tod genauso ordentlich geregelt wie seine Großmutter den ihren. Und Lea hatte ihm versprechen müssen, nicht öfter als einmal im Monat auf den Friedhof zu gehen. Sie sollte nach vorne blicken und ihr Leben neu gestalten. Bislang war ihr das noch nicht gut gelungen.
Mark wurde verbrannt und seine Asche in einem Urnengrab auf dem nächstgelegenen Friedhof beigesetzt. Heute tauschte Lea die Lavendelpflanze in dem Topf vor seinem Grabstein aus und steckte die alte in eine kleine Plastiktüte, die sie aus ihrer Vintage Schultertasche zog. Sie setzte die alten Lavendelpflanzen alle zwei Monate in eine Ecke ihres Gartens, diese würde die siebente sein. Bis jetzt war keine eingegangen, auch die nicht, die sie im Winter in den gefrorenen Boden gepflanzt und mit warmem Wasser gegossen hatte.
Nachdem Lea die alte Pflanze eingepackt hatte, zog sie einen silbernen Flachmann aus ihrer Tasche und hob ihn wie zum Toast in die Höhe. »Rum Cask, unser ewiger Favorit. Ich denke, die Flasche schaffe ich heute. Die zu Hause, du Schaf, nicht den Winzling in meiner Hand! Den mache ich hier alle. Es ist genauso mies wie im letzten Monat, nur kann ich inzwischen so gar nicht mehr schlafen. Letzte Nacht habe ich Hantschke gefunden, tot, auf dem Mauerweg. Mit ’ner toten prossie an seiner Seite. Nee, glaubste nicht, is klar. Die Polizei hat meine Nikes mitgenommen, so ein Scheiß! Hoffentlich laufe ich mir in dem Ersatzpaar keine Blase. Slainte, my heart!” Sie nahm einen zweiten Schluck und fluchte dem unglaublichen Abgang nach. »Holy pirate rum influence!«
Sie hatten beide so gelacht, als sie diese Beschreibung des Whiskybouquets auf einer Website entdeckt hatten. Mark hatte da gerade seine erste Chemo hinter sich gehabt, keine Haare mehr und sich grauenvoll gefühlt. Sie hatten beide im Bett gelegen, es war ein Sonntagmorgen gewesen, Lea hatte den Laptop auf ihren Knien gehabt und ihm die Neuigkeiten auf der Balvenie Website vorgelesen. Durch Zufall war sie danach auf die amerikanische Seite gestoßen. Sie hatte die Flasche geholt und ihn daran riechen lassen, danach hatten beide einen Schluck davon getrunken. Es war der letzte Whisky gewesen, den Mark hatte schmecken können.
Lea steckte den leeren Flachmann zurück in ihre Tasche, als sie Frau Wieland auf sich zukommen sah. Frau Wieland ging seit vierzig Jahren zweimal in der Woche zum Grab ihrer Tochter, die kurz nach ihrem vierten Geburtstag an einer Hirnhautentzündung gestorben war. Tragisch, dachte Lea, und dann im direkten Nachgang: Ja, super, schau dich mal selbst an!
Frau Wieland war noch sehr gut zu Fuß, fiel Lea auf. Sie musste doch schon an die siebzig sein. Sah man ihr jedenfalls nicht an. Die alte Dame stand vor ihr und schaute auf Marks schlicht gehaltene Grabstelle. Die Fläche von einem Quadratmeter war mit dem hellen Sandstein gepflastert, der auch vor ihrem Haus lag. Darauf stand der steinerne Topf, der die Lavendelpflanzen hielt. Der Grabstein war ein kleiner graublauer Findling, der erste, den sie beide vom Mauerweg für ihren Garten mitgenommen hatten. In den Stein war gemeißelt: Mark Storm. 1964 – 2011. Na mo chrìdhe daonnan. Gälisch für »Immer in meinem Herzen«.
»Lavendel. Wunderschön, Frau Storm! Es ist heute ein Jahr her, oder irre ich mich?«
»Nein, Frau Wieland, Sie irren sich nicht. Es ist genau ein Jahr.«
»Ihnen geht es nicht gut, nicht wahr?«
»Nein, gar nicht gut. Ich kann nicht schlafen.«
»So ging es mir auch am Anfang. Es wird besser, meine Liebe, es wird besser. Kommen Sie, lassen Sie uns was essen gehen, heute sollten Sie nicht alleine sein!«
Lea wollte zunächst ablehnen, aber sie war tatsächlich hungrig, und Frau Wieland war ihr sympathisch, auch wenn sie sie nicht so oft traf. Vielleicht mochte sie die alte Dame genau deswegen.
»Gleich um die Ecke ist ein thailändisches Restaurant, das ist neu und richtig gut. Mögen Sie die thailändische Küche, Frau Wieland?«
»Ich habe keine Ahnung, mal sehen. Sie können mir sicher etwas empfehlen.«
Das neueröffnete Restaurant war überraschend gut besucht für einen Donnerstagnachmittag. Aber es hatte sich wohl schnell herumgesprochen, dass das Essen im »Thai by Thai« exzellent war. Sie nahmen einen Tisch im hinteren Bereich des Restaurants, Frau Wieland bestellte sich einen halben Liter Weißen Burgunder, Lea ein Mineralwasser.
»Was mögen Sie denn, Frau Wieland? Huhn, Rind, Schwein oder Ente? Oder sind Sie Vegetarierin?«
Frau Wieland lächelte. »Ach, Ente klingt interessant. Hab ich lange nicht gegessen.«
»Wie scharf darf es denn sein? Es gibt mild, scharf und höllisch.«
»Scharf, aber so, dass ich die Ente noch schmecke, bitte.«
Lea bestellte Frühlingsrollen für sie beide, Ped Pat Kimao – Ente in Austernsauce – für Frau Wieland, das sie für sie ein wenig milder zubereiten ließ, und Chu Chee Pha – kross gebratene Dorade in rotem cremigem Curry mit Chili und Thai-Basilikum – für sich selbst.
»Haben Sie noch die schönen Disteln vor Ihrem Haus, Frau Storm?«
»Sagen sie doch bitte Lea, Frau Wieland. Die Disteln blühen ganz phantastisch dieses Jahr, die lieben es direkt an der Hauswand. Kommen Sie doch einfach mal vorbei! Wenn Sie mögen, gebe ich Ihnen meine Telefonnummer, dann können Sie vorher kurz anrufen, damit ich auch zu Hause bin.«
»Das ist eine nette Einladung, die nehme ich gerne an. Stellen Sie sich vor, der Kretin vor mir hat letzte Woche seinen Hund schon wieder in mein Beet gelassen. Glaubt man das?«
»Sie wohnen doch hinter dem Hantschke.«
»Ja, blau wie nichts war der am frühen Nachmittag, hing halb über dem Gartenzaun, und als ich ihn bat, seinen Hund und dessen Hinterlassenschaft aus meinem Beet zu entfernen, schimpfte er los, dass er sowieso bald viel Geld haben und dann ›diesen Slum‹ verlassen würde, und danach brüllte er noch lauter unflätiges Zeug. Unmöglich, der Mann! Ich bin erst einmal wieder ins Haus gegangen und hab den Dreck später in seinen Garten geschippt. Hoffentlich ist er reingetreten!«
Frau Wieland kicherte und schenkte sich Wein nach. Als sie Leas ernstes Gesicht sah, fragte sie: »Was ist denn los? Sie sind ja richtig blass geworden, Kindchen.«
»Frau Wieland, der Hantschke ist tot. Ich hab ihn gestern Nacht auf dem Mauerweg gefunden.«
Jetzt wurde Frau Wieland ein wenig blass. »O Gott, das ist ja schrecklich, Lea! Einen Toten zu finden. Er starb an einem Herzinfarkt, nehme ich an?«
»Nein, er wurde ermordet.«
»Ermordet? Der Hantschke? Wie grauenvoll!« Frau Wieland schüttelte den Kopf und leerte ihr Weinglas.
»Letzte Nacht, sagen Sie? Ich könnte schwören, dass er gestern Abend noch Besuch hatte, da war noch spät Licht bei ihm, und ich hab Schatten hinter den Gardinen gesehen.« Frau Wieland beugte sich zu Lea vor und senkte ihre Stimme. »Ich glaube, der hatte ’ne Frau da.«
»Vermutlich klingelt die Polizei gerade bei Ihnen, um Sie genau dazu zu befragen. Die sagten mir heute Nacht, sie würden die ganze Nachbarschaft abklappern.«
»Na, dann kommen sie eben noch einmal wieder, oder meinen Sie, ich sollte bei der Polizei anrufen?«
»Das sollten Sie vielleicht tun, Frau Wieland.«
Dann kamen die Hauptgerichte. Lea und Frau Wieland waren einige Minuten still und konzentrierten sich aufs Essen, bis Frau Wieland erneut den Kopf schüttelte und ihr Besteck zur Seite legte. »Das ist ganz phantastisch, Lea, es schmeckt hervorragend! Der Hantschke war ein schlechter Mensch. Sicher hat er es nicht verdient ermordet zu werden, aber traurig über seinen Tod wird bei uns kaum jemand sein, meinen Sie nicht auch?«
Lea schaute sie nachdenklich an. »Ja, da werden Sie recht haben. Aber irgendjemand ist nicht nur nicht sehr betroffen, sondern wohl höchst zufrieden mit sich selbst.«
Nach dem Essen hatte Lea für sich und Frau Wieland ein Taxi rufen lassen und sich erfolgreich gegen die fünf Euro gewehrt, die ihr Frau Wieland unbedingt hatte geben wollen. Lea hatte gerade ihre Haustür hinter sich geschlossen und Talisker begrüßt, als ihr Handy klingelte. Svenja Ritter, eine weitere Nachbarin aus ihrer Straße, rief an.
Svenja und Lea hatten sich angefreundet, nachdem Svenja mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter vor zehn Jahren in die Siedlung gezogen war. Sie vermuteten beide, dass ihre Kinder später erste einschlägige Erfahrungen miteinander gesammelt hatten, wollten das aber eigentlich gar nicht so genau wissen. Svenjas Ehe lief nicht gut. Ihr Mann war ehrgeizig und achtete sehr auf Äußerlichkeiten. Er arbeitete als Projektleiter bei einem großen, renommierten Anbieter von Unternehmenssoftware und war regelmäßig geschäftlich unterwegs. Svenja hatte ihn im Verdacht fremdzugehen, war aber zu ängstlich – oder zu bequem, Lea wusste es nicht –, ihn zur Rede zu stellen, und so bügelte sie weiter jeden Sonntag sieben Hemden für ihn. René Ritter verdiente sehr gut, so dass Svenja seit Bellas Geburt Teilzeit arbeiten ging und sich ausgiebig sich selbst und ihren Fitnessaktivitäten widmen konnte. Sie sah immer aus wie aus dem Ei gepellt, und in ihrem Haus herrschte penibelste Sauberkeit. Reichlich Zeit hatte sie ja, dachte Lea. Das war zwar gemein, aber doch wahr.
»Svenja, hallo, ich bin eben erst zur Tür rein.«
»Hallo, Lea, ich weiß, ich hab dich kommen sehen. Hast du nachher mal Zeit? Ich würde gern vorbeikommen.«
Große Lust verspürte Lea nicht, schon gar nicht heute, sie hatte ganz andere Pläne. »Eigentlich hab ich schon was vor, Svenja, geht’s nicht auch morgen?«
»Es dauert auch nicht lange. René bringt um sieben zwei Typen von seiner Bürgerinitiative mit, da muss ich noch ein paar Happen vorbereiten.«
»Okay, aber ich muss erst mit Talisker raus. Komm doch um fünf, dann hab ich Zeit.«
»Super, dann bis nachher!«
Lea schaute ihren Hund an, der legte den Kopf schief. »Ich bin gespannt, was René jetzt wieder für ’nen Bock geschossen hat. Nach den Kondomen, die Svenja in seinem Kulturbeutel gefunden hat, kann es eigentlich nicht mehr viel schlimmer kommen. Es sei denn, es stellt sich heraus, dass er irgendwo eine zweite Familie hat, die er während seiner Dienstreisen besucht.«
Lea mochte René Ritter überhaupt nicht. Svenja zuliebe hielt sie sich zurück, aber René wusste genau, dass sie ihn nicht ausstehen konnte. Er war in Leas Augen ein Mann, der Frauen nicht sonderlich schätzte. Er sah sich selbst als den archaischen Ernährer, der einen warmen Platz am Feuer erwartete, wenn er nach Hause kam. Das hätte im 21. Jahrhundert lächerlich wirken müssen, wenn er nicht in Svenja eine Frau gefunden hätte, die sich seinem manipulativen Verhalten nicht entziehen konnte. Aus Gründen, die Lea völlig rätselhaft waren. Dass Svenja überhaupt arbeiten ging, war René ein echter Dorn im Auge, und es gab regelmäßig Streit deswegen, aber hier setzte Svenja sich durch. Sie war Marketingkauffrau und arbeitete zwanzig Stunden die Woche als zweite Teamassistentin in einer mittelständischen Marketingagentur. René machte sich regelmäßig über ihren Job lustig, am liebsten vor Publikum. Sicherlich würde sie keine glanzvolle Karriere machen, aber darum ging es auch gar nicht, nur verstand dieser Holzkopf das nicht. Er war überdies extrem eifersüchtig und machte seiner Frau ständig Szenen, bestand aber gleichzeitig darauf, dass sie, wenn er mit ihr ausging, ihre gute Figur »angemessen zur Geltung brachte«, wie er es nannte. Immer wenn sie an die Ritters dachte, fühlte Lea sich ein wenig erschöpft, ging dann aber sofort mit sich ins Gericht. Es war nicht fair von ihr, sich ein Urteil über die Ehe der beiden zu erlauben. Sie hatte eine so ehrliche Beziehung mit Mark gehabt – was wusste sie denn schon von den Problemen anderer Paare? Svenja war erwachsen, und irgendetwas musste sie an René finden, sonst könnte sie ihn ja auch verlassen. Vermutlich war das alles normal, und sie und Mark hatten nur großes Glück gehabt. Wie auch immer, sie hätte nicht so ein Leben führen können.
Lea gab Talisker ein Zeichen und ging mit ihm hinaus.
Weitere zehn Minuten später stand Lea in ihrem Badezimmer und zog ihre Sportsachen aus. Die Polizistin – Polizeimeisterin oder so ähnlich – Griese stand im Türrahmen und sah ihr dabei zu.
»Hätten Sie wohl die Güte …«
»Tut mir leid, aber ich muss sicherstellen, dass ich Ihre Kleidung vollständig erhalte. Wenn Sie die Sachen bitte hier hineintun würden …« Griese reichte Lea einige große durchsichtige Plastiktüten.
Lea zuckte mit den Schultern. Sie war nicht prüde, und sie wusste, dass sie eine gute Figur hatte. Damals, nach der Geburt ihres Sohnes, hatte sie hart daran gearbeitet. Die Schwangerschaft war kompliziert verlaufen, Lea hatte sich im fünften Monat aufgrund einer Gebärmutterhalsschwäche kaum mehr bewegen dürfen und fünfzehn Kilo zugenommen. Sie hatte sich damit getröstet, dass sie wenigstens zu Hause bleiben konnte und nicht die restlichen Monate im Krankenhaus verbringen musste – zumal ihr die Ärzte gesagt hatten, dass dies mit großer Sicherheit ihre einzige Schwangerschaft bleiben würde. Duncan war im Mai per Kaiserschnitt geboren worden, und sobald der Arzt ihr grünes Licht gegeben hatte, war sie jeden Tag stundenlang mit dem Kinderwagen durch die Gegend gelaufen. Im folgenden Herbst hatte sie ernsthaftes Lauftraining aufgenommen, das sie im tiefen Winter auf das Laufband in ihrem neuangebauten Wintergarten verlegt hatte. Ihre Figur hatte sich dann im Laufe der folgenden Jahren verändert, ihr Busen war etwas voller geblieben, auch ihre übrigen Kurven hatten sich erhalten. Sie hatte ihre alte Schlaksigkeit verloren, und ihre Bewegungen hatten eine athletische Geschmeidigkeit angenommen. Auch fast zwanzig Jahre später, mit Mitte vierzig, hatte sie diese sportliche Figur, seit dem letzten Jahr war sie eher noch drahtiger geworden. Sie war wirklich viel unterwegs gewesen.
Lea gab der Polizistin die Plastiktüten mit den Klamotten und trat in ihre ebenerdige Dusche. Die Beamtin zog sich zurück, vermutlich würde sie sich im Haus umschauen, dachte Lea, und es war ihr total egal. Sie war von Natur aus ordentlich und schätzte es, wenn alles seinen Platz hatte. Mark war da ganz anders gewesen, und Duncan hatte den Hang zu offenen Schranktüren und leeren Milchkartons im Kühlschrank von seinem Vater geerbt. Doch keiner der beiden war da, und so wirkte das Haus keineswegs unordentlich.
Sie hörte die Klingel und anschließendes Stimmengemurmel, während sie in ein knielanges Sommerkleid mit Paisleymuster in Grau- und Blautönen schlüpfte. Talisker folgte ihr die Treppe hinunter und knurrte leicht, als er Glander im Wohnzimmer sah.
»Calm, boy! Down! In your corner!«
Talisker strich vorbei an Glander, der sich unweigerlich versteifte, und warf sich auf die Decken in seiner Ecke.
»Sie sprechen englisch mit Ihrem Hund?«
»Ja, er ist ein schottischer Jagdhund. Wir haben ihn vor sechs Jahren von einer Züchterin aus Schottland übernommen, da war er schon die englischen Befehle gewohnt.«
»Wir?«
»Mein Mann Mark und ich.« Lea wusste, was nun gleich käme, und suchte den toten Winkel in ihrem Herzen, der es ihr möglich machen würde, das Gespräch fortzuführen.
»Und wo ist Ihr Mann heute Nacht?« Glander ließ den Blick nicht von ihrem Gesicht. Er spürte genau, dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte, sie war viel zu ruhig für das, was sie gerade erlebt hatte. Er tippte auf Psychopharmaka, auch wenn das nicht zu ihrer sportlichen Erscheinung passte. Ihre attraktive Figur war ihm keineswegs entgangen, ebenso wenig wie ihr wirklich schöner Mund und die großen graugrünen Augen, die ihn jetzt mit einem Ausdruck trostloser Leere anblickten.
»Mein Mann ist tot, Herr Hauptkommissar. Er starb vor einem Jahr an Krebs.« Der Schmerz breitete sich in Leas Körper aus und nahm ihr fast den Atem. Ein Jahr, auf den Tag genau, war es her.
Talisker erhob sich, doch mit einer knappen Geste gebot Lea ihm liegenzubleiben. Äußerlich schien sie unbewegt, doch Glander war das leichte Zittern ihrer Hand nicht entgangen.
»Das tut mir aufrichtig leid, Frau Storm. Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns setzen, damit ich Ihnen ein paar Fragen stellen kann?«
Lea war ihm dankbar, denn sie befürchtete jedes Mal, wenn der Schmerz sie durchflutete, dass ihre Beine nachgeben würden. »Natürlich nicht, Herr Hauptkommissar. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ich hätte jetzt gerne einen Whisky, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Habe ich nicht. Leider kann ich Ihnen dabei keine Gesellschaft leisten, denn ich bin ja im Dienst. Sie trinken gerne Whisky?«
Lea sah in an und lächelte, als sie antwortete. »Ja, ich trinke nur Whisky. The water of life. Mein Vater war Schotte, und ich weiß aus erster Hand, dass seine Landsleute wenig Ahnung von feiner Küche haben – es sei denn, man hält frittierten Mars-Riegel für eine Delikatesse. Aber sie machen in der Region Speyside für meine Begriffe den besten Malt der Welt. Und um Ihnen gleich Ihre nächste Frage zu beantworten: Ich trinke Whisky, wann immer mir danach ist und so viel ich will. Und: Nein, gestern habe ich keinen Whisky getrunken. Aber bevor dieser Tag rum ist, werde ich sicherlich noch eine Menge Whisky trinken.«
Sie goss sich zwei Finger breit eines Balvenie Rum Cask in ein Glencairne Glas, das Glander an der typischen, sich verjüngenden Form erkannte. Der Balvenie stand in einer Traube – sehr teurer, wie Glander annahm – Malt Whiskys auf einem Sideboard. Er erkannte eine Flasche und war überrascht, denn den hatte er noch nirgendwo anders gesehen.
»Es geht mich gar nichts an, Frau Storm … Aber ich sehe, Sie haben da auch einen Bladnoch. Den sieht man nicht so oft.«
»Sie mögen Whisky?«
»Nicht ausschließlich, aber recht gerne in der kälteren Jahreszeit.«
»Der Bladnoch ist eine der wenigen Ausnahmen, die ich mache, er ist ein Lowland Malt. Ein bisschen ein Geheimtipp, man muss schon gut beraten werden, um auf den Bladnoch zu kommen. Mich hat eine alte Freundin drauf gebracht.«
Glander lächelte sie an. »Frau Storm, ich müsste Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Natürlich, Herr Hauptkommissar.«
»Glander reicht völlig. Frau Storm, meine Kollegin sagte mir, Sie kannten den toten Mann.«
Leas kurzes Zögern blieb Glander nicht verborgen, diese Frau erschien ihm etwas rätselhaft. Sie hatte wirklich schöne Augen, die sicherlich leuchteten, wenn sie lachte, aber Glander vermutete, dass sie lange nicht gelacht hatte, denn in ihren Zügen lag tiefe Traurigkeit.
»Ja, das ist … das war Wolfgang Hantschke, ein Nachbar hier aus der Straße. Er wohnt … wohnte in der Neunzehn.«
»Kannten Sie Herrn Hantschke gut?«
»Nein. Hantschke war ein Vollidiot. Entschuldigen Sie, Herr Glander, aber er gehörte zu der Art von Nachbarn, die niemand braucht. Immer meckern, Feiern der Nachbarn durch die Polizei beenden lassen, Kinder anbrüllen, dass sie zu laut seien, mittags schon voll … Einige wenige Nachbarn haben ihn gegrüßt, ich fand ihn grauenvoll und hab ihm schon ein paar Mal die Pest an den Hals gewünscht. Jedenfalls immer dann, wenn ich sah, wie er mit seinem Hund umging.«
Glander konnte aus ihrem Gesicht geradezu ablesen, wie unsympathisch ihr dieser Hantschke gewesen war. »Was hat er denn mit dem Hund gemacht?«
»Ihm völlig falsches Futter gegeben, sich zu wenig mit ihm bewegt, und obwohl das arme Tier keinerlei Erziehung hatte, trat er es, wenn es nicht spurte. Ein ganz widerlicher Kerl. Weiß man, wer die Frau bei ihm war?«
»Wir vermuten, eine Professionelle, haben ihre Identität aber noch nicht feststellen können. Frau Storm, bitte erzählen Sie mir doch genau, was heute Nacht passiert ist, als Sie rausgingen!«
Lea überlegte kurz und entgegnete dann: »Wir sind gegen drei Uhr hinten raus durch den Garten und dann direkt auf den Mauerweg. Ich bin gleich losgelaufen, ich wollte heute schnell joggen, dafür nicht so weit, um möglichst bald müde zu werden, dafür eignet sich die asphaltierte Strecke gut. Talisker fing irgendwann zu knurren an, er klang immer angespannter, je weiter wir liefen. So zwanzig Meter vor den Bänken kam der Mond raus, und ich sah die beiden … also, sah sie da sitzen.«
»Kam Ihnen das nicht merkwürdig vor?«
»Ja sicher, aber eigentlich wunderte ich mich nicht, dass sie da saßen, sondern wie sie da saßen. Es hat ein paar Momente gedauert, bis mir auffiel, dass es an den Köpfen der beiden lag. Das war irgendwie total absurd, ich wusste, dass etwas nicht stimmte, aber nicht genau, was es war.«
»Was haben Sie dann gemacht?«