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Helwig Arenz

 

Nachts die Schatten

 

Roman

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Oktober 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-744-5

 

Inhalt

I – Der Junge aus Stein

Die verlorene Erinnerung

Der Keller

Bettgeschichten

Der Schlaf der Vögel

Rote Gesichter

Geheimwissen über Türen

Der Feuersturm

Wenn die Liebe anfängt zu brennen

Das angehängte Kind oder warum einer stirbt

Ein neuer Spielkamerad

Das Buch der Weisheit

Dazugehören

Marcos Ärger

Die Decke

Der Sommer

Händel und Spionage

Hyakutake

Die kalten Füße

Wachschläferzone

Herbst

 

II – Die Perle

Herzlos

Kai und seine Mutter

Der Name

Die Einladung

Der Geburtstag

Die weiße Frau

Das Angebot

Der Schrecken

Das lebende Herz

Wackelige Schritte

Der Bund

Hühnerhof

Der See

Eine außergewöhnliche Begegnung

Die Beschwichtigung

Esszimmerwelt

Die Verschuldung

Das große Rennen

Hausdurchsuchung

Esther

Die Ernte

Geburtstag

Nummerngirl

Der Weihnachtsbaum

Die Adresse

Die Katastrophe

Rendezvous

Beziehung

Das Fenster

 

I – Der Junge aus Stein

 

Auf dem Marktplatz bei uns in der Altstadt gibt es einen Brunnen. Auf dem Sockel steht eine Steinfigur. Das ist einfach ein Junge mit einem Korb voller Essen. Es sieht fast so aus, als sei er eben aus der Bäckerei am Platz vom Einkaufen gekommen.

Wenn man ihn sich genauer ansieht, was kaum jemand macht, kann man erkennen, dass sein Gesicht traurig ist. Anrührend traurig. Fast, als sehnte er sich danach, lebendig zu sein und nicht aus Stein.

Dieser Junge erwacht eines Nachts zum Leben, die Rathausglocke hat eben zwölf Uhr geschlagen, er steigt von seinem Sockel.

Der Junge mit dem Korb ahnt aber nicht, dass ein einziger Mensch noch wach ist und ihm zusieht: ein kleines Mädchen, das eben von zu Hause ausgerissen ist.

Die beiden werden für eine Zeit lang Freunde und treffen sich jede Nacht. Ihre kleinen Absätze klappern verstohlen auf dem mittelalterlichen Pflaster, und ihre kleinen, kalten Händchen fassen einander.

Eines Tages, als das Mädchen schon lange nicht mehr von zu Hause weglaufen will, weil es in ihm endlich einen Freund gefunden hat, geschieht etwas Schlimmes. Die beiden haben sich in ihrer kindlichen Freude lachend und spielend bis hinunter zum Flussufer gewagt, und da schlafen sie später müde Arm in Arm ein. Als sie erwachen, ist die Nacht vorbei, und die Sonne brennt auf ihr Gesicht. Sie rennen angstvoll zum Brunnen, der leer ist. Die Leute stehen herum und wundern sich und rufen aufgeregt. Der Junge sieht das Mädchen an, in seinen Augen sind Tränen. Er sagt ihr, dass er heute Nacht zum letzten Mal von seinem Sockel gestiegen sei und dass ihre Zeit nun vorbei sei. Nachts um drei Uhr muss er hinaufklettern, wird sie noch einmal ansehen und dann beim Schlag der Glocke für immer zu Stein werden.

Das Mädchen erschrickt fürchterlich. Hätte sie ihn damals doch nicht heimlich beobachtet! Nun hat er nicht mal mehr jene drei Stunden Leben in der Nacht.

Sie reißt ihre Hand aus seiner und rennt fort. Nachts, ehe die Glocke dreimal schlägt, geht der Junge traurig zum Markt. Den ganzen Tag hat er sich aus Angst vor den Leuten versteckt und ist bei Einbruch der Dämmerung noch einmal überallhin geschlichen, wo er zusammen mit ihr gewesen ist.

Als er in der Dunkelheit auf den Platz tritt, sieht er auf die Uhr. Er ist spät dran, noch eine letzte Minute. Die Glocke fängt schon an zu schlagen. Vor ihm huscht plötzlich eine graue Gestalt über das Pflaster. Sie ist so grau wie aus Stein gemacht. Der Junge erschrickt, weil die Gestalt auf den Sockel klettert und zur Uhr sieht. Er rennt über den Platz, es ist ihm ganz egal, wie viel Lärm er macht. Die Glocke schlägt wieder. Das Mädchen auf dem Sockel, die langen Zöpfe unter eine Mütze geschoben, den Korb mit den Broten und dem leuchtenden Obst in der Hand, blickt noch einmal lächelnd zu dem Jungen, es schlägt zum dritten Mal, und ihr Blick ruht friedlich und unendlich fern auf seinem Gesicht.

 

Die verlorene Erinnerung

Wenn der Vater nicht heimkam und die Mutter nach der Hausarbeit noch etwas Zeit hatte, kniete sie sich auf den blanken Boden und zog die Polsternägel aus dem Kanapee.

Sie brauchte dazu nichts als ihre langen falschen Fingernägel. Mit einer Wut, die sonst keiner bei ihr sah, griff sie in den geblümten Stoff und spannte ihn mit aller Macht über die Polster, bis er so straff war wie ein prall gefüllter Ballon.

Wenn man etwas sauber macht, nimmt man etwas weg. So denke ich jedenfalls. Man nimmt Schmutz weg. Krümel und eingetrocknete Flüssigkeiten. Bei meiner Mutter war es anders. Wenn sie sauber machte, tat sie zu allem etwas dazu. Etwas, das unerbittlich strahlte wie die Wäsche in der Werbung mit dem weißen Riesen. Etwas, das das Gegenteil von uns Kindern war. Meine Brüder und ich hielten uns von der Reinheit unserer Mutter fern, wenn wir konnten.

Wir schlichen dann durch die Wohnung und trauten uns nicht, etwas anzufassen. Wir wagten es nicht, die aufgeschüttelten Kissen plattzudrücken, niemand legte sich in die frisch gemachten Betten. Mein Bruder Kai sagte zu mir: »Wenn du dich auf das Sofa wirfst, platzt es, und du fliegst aus dem Fenster.« Es klang halb wie eine Lüge, halb wie ein Locken.

Ich wusste nicht, ob das Fliegen in seinem Satz etwas Schlimmes oder Schönes war.

Und ich wusste auch noch nicht, dass es später einmal einen Moment geben würde, in dem ich mir nichts sehnlicher wünschen würde, als mich mit aller Last, mit allem Gewicht in dieses pralle Kissen fallen zu lassen. In dem ich mir nichts sehnlicher wünschen würde, als zu fliegen. Egal, wohin. Hinter mir das Knallen, wenn die weit überspannte Blase der Schuld und der Wut zerplatzen würde.

Der Ballon platzte damals nicht. Denn der Vater lümmelte an den Wochenenden Kuhlen in die Couch, und der Stoff leierte wieder aus wie alte Haut über schwindenden Knochen.

 

Mit kerzengeradem Rücken saß meine Mutter auf einem Stuhl vor ihm. Über die Kante ihrer Zeitschrift sah sie ihn scharf an.

»Hast du ein Wort für mich?«, fragte der Vater sie. Verwirrt sah die Mutter von ihm weg in ihr Rätsel. Dann buchstabierte sie vorsichtig: »S-o-u-t-e-r-r-a-i-n.«

»Keller«, antwortete der Vater, ohne zu zögern.

 

Der Keller

Früher schwamm unter dem Haus unserer Eltern ein Keller.

Das Haus roch nach Essig im Frühling, der Keller aber nach Dingen, über die man nicht spricht. Wir Kinder waren dafür zuständig, das Stiegenhaus einmal in der Woche zu putzen. Oben war die Kellertreppe noch passabel. Aber je dunkler es weiter unten wurde, desto schmutziger wurde es, denn wir fegten den Dreck einfach mit Karacho in das dunkle Loch.

 

In meiner Erinnerung ist die Treppe keine Treppe, sondern eine Leiter, eine schiefe, rostige, die durch eine Luke in eine andere Welt führt, einen Schiffsbauch voller seltsamer Kreaturen. Wenn mir die Mutter auftrug, Kartoffeln zu holen, oder mich losschickte, um die Kohlenschütte aufzufüllen, hatte ich oft Angst.

Wenn es besonders schlimm war, ging ich zu meinem ältesten Bruder Torsten.

»Torsten, ich muss dir etwas zeigen!«, rief ich aufgeregt, den Korb oder die Schütte hinter meinem Rücken versteckt.

»Was denn?«, fragte er und blickte von seinem Buch oder Schulheft auf. Er sah dann immer ein wenig mürrisch aus.

»Komm mit!«, forderte ich ihn auf.

»Wohin denn?«, wollte er wissen.

»In den Keller«, antwortete ich. Er verzog den Mund und sah mich kopfschüttelnd an, dann stand er seufzend auf und sagte mit einem schiefen Lächeln: »Also gut, gehen wir.«

Manchmal, wenn er mich an der Kellertür stehen sah, unschlüssig, zögernd, die eine Hand auf der Klinke, kam er zu mir, nahm mir den Eimer aus der Hand und ging selbst für mich Briketts holen oder Kartoffeln.

Mein Bruder Kai war anders. Wenn er mich furchtsam in den Keller schleichen sah, kam er mir leise nach. Leise wie ein Windhauch strich er die Treppen hinunter. Dann stellte er sich in einen dunklen Winkel und wartete auf mich. Er musste nicht hervorspringen oder schreien, er stand einfach nur da und starrte mich an.

Wenn meine Brüder nicht da waren und ich in den Keller musste, band ich mir manchmal eine unsichtbare Pistole um.

 

Bettgeschichten

Ich habe geweint. Meine Mutter sitzt am Bett und sieht mich hilflos an.

»Was soll ich denn machen, kleiner Stopf?«, fragt sie mich und streicht mir über den Kopf. Ihre Nägel machen ein singendes Geräusch in meinen Haaren. »Ich komm doch bald wieder.«

Ich bitte sie, mir ein Märchen zu erzählen. »Das von dem Jungen aus Stein.«

»Von dem Jungen aus Stein? Das kenn ich doch gar nicht!«, sagt sie fast verzweifelt.

»Aber das hast du mir doch erzählt!«, beharre ich. Sie erinnert sich nicht, da erzähle ich ihr das halbe Märchen selbst, bis sie ruft: »Ach ja, das Buch! Das ist ein Buch!« Glücklich springt sie zum Regal, sucht, rennt zur Tür und macht das große Licht an, sucht wieder.

»Hier ist es! Das ist es!« Sie wirft es mir auf die Bettdecke und lächelt ganz erleichtert. »Das ist es. Sieh dir die Bilder an, ja? Du darfst das kleine Licht anlassen. Ich bin bald zurück!«, sagt sie.

Aber ich verlange, dass sie es mir vorliest. Sie sieht verstohlen auf die Uhr. Dann seufzt sie und setzt sich an die äußerste Kante des Bettes.

»Der Junge aus Stein«, beginnt sie zu lesen. Während sie die erste Seite liest, blättert sie ein bisschen vor und schaut, wie lang das erste Kapitel ist. Die Seiten gleiten durch ihre Finger wie ein endloser Wasserstrahl. Sie seufzt noch mal, dann lässt sie das Buch sinken. Sie dreht es um und überfliegt den Text auf der Rückseite. Runzelt die Stirn. Endlich schließt sie die Augen und fängt an zu erzählen.

Aber in ihrer Version ist das Märchen viel kürzer, als ich es kenne.

»Aber was ist mit den Elfen? Der Junge und das Mädchen treffen auch einmal die Elfen!«, erinnere ich sie. Meine Mutter schüttelt den Kopf und sieht auf die Uhr.

»Heute nicht«, sagt sie.

Als sie geendet hat, löscht sie das Licht und will gehen.

»Warte!«, rufe ich. In der offenen Tür dreht sie sich noch einmal zu mir um.

»Gibt es wirklich Elfen?«, frage ich sie. Sie nickt: »Natürlich.« Dann will sie die Tür schließen.

»Warte!«, rufe ich noch mal. Sie schiebt ihren Kopf durch den Spalt in der Tür.

»Was ist denn noch, du kleiner Plagegeist?«, fragt sie mit gespieltem Tadel.

»Gibt es auch Geister?«, frage ich sie hastig.

»Nein, es gibt keine Geister, schlaf jetzt!«, antwortet sie.

Ein letztes Mal rufe ich nach ihr und sage: »Aber wenn es Elfen gibt, dann gibt es doch auch Geister!«

»Das stimmt«, antwortet sie ein wenig überrascht, »aber nicht hier. Jetzt schlaf endlich.«

Ich will noch etwas sagen, aber in diesem Moment schallt die Stimme meines Vaters herauf, laut und ungeduldig: »Bist du fertig?«

»Ich komme!«, ruft sie hinunter. Ein fahriges Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, sie wirft mir noch einen Kuss zu und geht.

 

Als die Eltern fort sind, schleiche ich aus dem Bett. Ich spiele ein Spiel. Solange ich den Boden nur mit den Zehen berühre, darf ich überallhin gehen. Komme ich aber mit den Fersen auf, muss ich sofort zurück ins Bett. Denn die Abdrücke der Fersen sind für die Erwachsenen sichtbar. Mit wackeligen Schritten bewege ich mich durch den Flur. Lange verharre ich vor der Tür, ehe ich leise klopfe.

»Nein!«, schreit es sofort von drinnen.

Wenn ich den Griff nur mit dem Ellbogen berühre, ist es so, als hätte ich ihn gar nicht berührt. Ich öffne und schlüpfe ins Zimmer meiner Brüder. Kai und Torsten springen auf. Sie haben auf dem Teppich gesessen und sich gemeinsam etwas angesehen. Schnell versteckt Torsten es unter dem Bett. Was es ist, sehe ich nicht.

»Du sollst nicht einfach reinkommen!«, sagt Kai böse.

»Kann ich bei euch schlafen?«, frage ich Torsten.

»Nein«, sagt Torsten. »Komm, geh wieder ins Bett.«

Aber ich stehe einfach nur da und rühre mich nicht. Wenn ich ganz still bin, wenn man mich nicht hört, ist es vielleicht so, als wäre ich gar nicht da.

Torsten kommt zu mir, legt mir die Hand auf die Schulter und führt mich zurück in mein Zimmer. Weil er so schnell geht, berühren meine Fersen den Boden. Nun habe ich das Spiel verloren.

Ich bin wach und warte, so lange, bis ich draußen etwas höre. Ein Auto. Ich stürze zum Fenster und sehe, wie das Auto in unsere Einfahrt holpert. Die Türen werden aufgerissen, und schon sind meine Eltern herausgesprungen. Meine Mutter geht viel zu schnell, sodass sie in ihren hohen Schuhen schwankt. Sie schwankt, als wären ihre Beine aus Gummi und die Füße am Boden befestigt.

An der Tür sucht sie den Schlüssel, aber sie findet ihn nicht, weil ihre Hände sich so komisch bewegen. Als würde man einen Videofilm vorspulen. Aber nur die Hände werden vorgespult, alles andere ist normal schnell. Mein Vater tritt hinter sie und umfasst sie. Ich sehe die beiden nicht, weil sie sich nun ganz eng in die Tür drücken. Es dauert eine Weile. Warum gehen sie nicht rein? Warum kommen sie nicht?, frage ich mich.

Endlich sind sie im Haus. Ich bin erleichtert, weil ich hoffe, dass ich mich später heimlich zu meiner Mutter schleichen kann.

Bei meinem Vater habe ich noch nie geschlafen, Kai und Torsten lassen mich nur ganz selten zu sich ins Zimmer, meine Mutter öfter.

Gehe ich lieber gleich hinüber und stelle mich schlafend, denke ich, dann kann sie mich nicht wieder wegschicken! Also schleiche ich ein weiteres Mal durch den Flur. Ich lege mich in das kalte, sauber gemachte Bett meiner Mutter, schließe die Augen und versuche, ganz ruhig zu atmen.

Auf einmal fliegt die Tür auf.

 

Zwei Gestalten stehen in der Tür. Fremde Gestalten, die zackige Schatten werfen, ihre Hände fliegen in die Luft, ihr heißer Atem fährt durch die Stille des kühlen Raums, als zerrisse jemand dicke Pappe. Durch die Schlitze meiner Augen versuche ich etwas zu erkennen. Die Gestalten drängen beide ins Zimmer hinein – jetzt merke ich, dass sie miteinander kämpfen. Sie packen sich an den Handgelenken. Sie zappeln mit den Ellbogen. Sie wehren sich und treiben einander vor- und rückwärts.

Durch das Fenster scheint plötzlich ein grelles Licht. Es ist der Vollmond. Er greift in den Raum und reißt die Schatten heraus wie Fetzen einer Tapete. In seinem scharfen Strahl erkenne ich auf einmal die Fratzen der beiden Ringenden. Es sind ein Werwolf und eine Hexe. Die Hexe hat schillernd umrandete Augen und lange Wimpern und blutrote Lippen und viele, viele Haare. Der Werwolf hat ein rotes, verzerrtes Gesicht, und seine Haare stehen zu Berge. Er greift die Hexe an und treibt sie ins Zimmer. Sie weicht zurück.

»Nein!«, kreischt sie.

»Komm schon!«, zischt er böse.

Er packt sie an den Handgelenken und drängt sie mit dem Körper gegen die Wand.

An diesem Abend habe ich gesehen, wie ein Werwolf im Zimmer meiner Mutter mit einer Hexe gekämpft hat. Der Wolf versuchte immer abwechselnd, die Hexe zu beißen, und dann versuchte er, sie mit seinem Körper in die Wand hineinzudrücken.

Plötzlich hörte der Werwolf auf zu kämpfen. Beide waren auf einmal still. Meine Augen waren vor Furcht wie zugenäht, und trotzdem spürte ich, wie die beiden Wesen mich ansahen. Ich spürte es an ihrem heißen Atem, der in meine Richtung schlug.

»Hör auf!«, flüsterte die Hexe erschrocken. »Siehst du nicht, wer da liegt?«

»Ach nein! Nicht schon wieder!«, sagte der Werwolf leise und böse.

»Geh jetzt!«, zischte die Hexe ihn an.

»Du kommst mit!«, befahl der Werwolf kalt.

»Ich will nicht!«, sagte die Hexe, und sie spuckte jedes Wort langsam und überdeutlich aus dem blutigen Mund.

»Das kotzt mich so an!«, fluchte der Werwolf, aber er ging. Die Hexe stand noch lange da, ihr Atem wurde ruhiger und ruhiger, und schließlich spürte ich etwas Seltsames. Die Hexe kam zu mir. Sie beugte sich herunter, und ich fühlte ihre Hände auf meinem Haar, sirrend und zart fuhren ihre Krallen über meinen Kopf. Dann schlief ich ein.

 

Es ist Samstag, und deswegen kann ich den ganzen Tag spielen.

Ich spiele Wüste. Das rote Auto lasse ich den schwierigen Weg über die Teppichfransen fahren, obwohl es kein Jeep ist. Die Fransen sind wie Sand, der unter den Rädern weggleitet.

»Setz dich auf mich!«, höre ich plötzlich ein Flüstern und richte mich auf. Das Flüstern kommt aus der Couch. Irgendetwas stimmt nicht. Die Stimme hat weinerlich geklungen, aber auch falsch.

»Setz dich auf mich«, bittet sie wieder. Ich sehe mich um, ob irgendetwas Böses in der Nähe ist. Aber es ist Tag, und die Mutter ist nicht weit weg. Also habe ich keine Angst.

Ich lege das Auto beiseite und klettere auf die dicken Polster des Sofas. Sie sind so prall gefüllt wie ein Ball, sodass ich aufpassen muss, nicht hinunterzugleiten.

Ich sitze da und lächle, weil ich mir vorkomme wie ein König auf seinem Thron. Durch das geöffnete Fenster weht der Wind herein und wirbelt meine Haare auf.

»Torsten!«, rufe ich. »Kai!« Meine Brüder kommen und sehen mich neugierig an.

»Ich will euch etwas erzählen.«

»Na, da bin ich aber mal gespannt«, sagt Torsten.

»Wenn die Geschichte scheiße ist, kriegst du auf die Fresse«, sagt Kai.

»Gestern habe ich einen Werwolf gesehen, der mit einer Hexe gekämpft hat«, beginne ich meine Geschichte.

Sie gefällt meinen Brüdern, aber als ich fertig erzählt habe, grinsen sie nur.

»Ich glaube, der Werwolf hat den Kampf verloren, weil du da warst«, sagt Torsten lachend. Kai lacht auch. Sie lachen auf eine bestimmte Weise, die ich mit der Zeit von ihrem anderen Lachen unterscheiden lerne.

 

Der Schlaf der Vögel

Eines Tages wollte ich hinaussehen.

»Torsten, hebst du mich hoch?«, bat ich. Torsten stand vom Küchentisch auf, wo er und Kai gerade Landkarten zeichneten. Er hob mich auf das Fensterbrett, wo ich nun hocken durfte, seine Hand um meinen Gürtel.

»Wo schlafen die Vögel eigentlich?«, fragte ich ihn.

»In ihren Nestern.«

Stück für Stück rutschte ich auf den Abgrund zu, immer gegen den Zug seiner Hand arbeitend. Er ließ mich gewähren. »Fall nicht, Stöpsel«, sagte er schmunzelnd.

Ich schaute über die Dächer des Ortes, die sich den Hang hinaufzogen.

»Aber der Vogel da?«, fragte ich und wies auf einen dunklen Fleck auf dem Turmkreuz. »Was passiert, wenn der einschläft?«

»Dann fällt er herunter und ist tot«, erklärte mir Torsten.

»Dann darf er nicht einschlafen!«, rief ich besorgt.

»Das ist ja nur ein Vogel«, versuchte er mich zu trösten. »Nur einer von ganz vielen. Wenn der runterfällt, merkst du es wahrscheinlich gar nicht.«

»Aber das soll er nicht!«, sagte ich.

»Jeden Tag fallen Hunderte Vögel vom Himmel, und ihre Körper platzen auf dem Beton, weil sie im Flug eingeschlafen sind«, hörte ich da Kais Stimme. Ich wollte es nicht glauben, aber Torsten lachte und nickte und sagte, dass es so ist.

Noch lange saß ich am geschlossenen Fenster und sah zu dem Vogel auf dem Turmkreuz.

»Schlaf nicht ein!«, flüsterte ich ihm stumm zu und hoffte, dass er meine Gedanken hörte, so wie wir immer die Glocken hörten. Ich dachte, es ist gut, wenn die Glocken schlagen, dann kann der Vogel gar nicht einschlafen.

Meine Knie wurden steif, und ich ging wieder meinen kleinen Angelegenheiten nach, die damals so wichtig gewesen sind, die ich aber heute vergessen habe.

 

Als wir einige Wochen später einmal in den Wiesen spazierten, die Eltern und wir drei Kinder, da blieb ich plötzlich stehen.

»Was ist denn, kleiner Stopf?«, fragte die Mutter.

»Komm weiter!«, drängte der Vater. »Bleib nicht immer stehen!«

Aber ich stand da, auf dem Weg lag eine Taube. Sie war tot. Seltsame Körner quollen aus ihrem aufgerissenen Hals. Meine Mutter zog mich hastig ein Stück fort und kniete sich dann hin, um mir ins Gesicht sehen zu können.

»Sie ist eingeschlafen«, sagte ich. Und meine Mutter erwiderte nach einem Seufzen: »Ja, sie ist eingeschlafen.«

 

Rote Gesichter

In dieser Nacht wünsche ich mir, einzuschlafen. Aber es geht nicht. Noch hat mich die fremde Hand nicht losgelassen. Noch falle ich nicht in die beruhigende Tiefe.

Der Lärm, der heraufdringt, ist grell und scharfkantig. Besucher sind gekommen und haben die Gläser gekriegt, die wir nicht nehmen dürfen. Die Eltern haben den Schrank mit dem Licht aufgeschlossen. Wenn man die Klappe aufmacht, geht innen ein Licht an, das auf die Glasplatten scheint. Sie holen die Flaschen hervor, die man nicht anfassen darf. Die Flüssigkeit darin macht Kinder angeblich dumm. Aber Kai hat einmal davon getrunken und ist nicht dumm geworden. Er hat danach eine Eins in Mathe geschrieben, das hat er uns stolz gezeigt. Die Erwachsenen trinken sie alle gemeinsam leer. Sie werden lauter und lustiger dabei. Nur einer nicht. Mein Vater sitzt in seinem Sessel und sieht über alle hinweg ins Gesicht meiner Mutter. Sie beachtet ihn nicht. Sie kann so reden, dass ihr alle zuhören. Alle Männer, die zu Besuch gekommen sind, sehen sie an. Mein Vater denkt einen Gedanken in den offenen Mund meiner Mutter hinein. Sie verschluckt sich daran. Aber sie merkt es nicht, erzählt Geschichten, in denen kleine lustige Figuren vorkommen, die unsere Namen tragen. Der liebe Kai – zum Glück haben wir eine Haftpflicht. Wieder so einen Ärger gegeben und die Kinder wollen einen Hund haben. Der brave Torsten wieder nichts gesagt. Aber in der Schule immerhin, meine Mutter auch nie was gesagt. Dass er schon längst im Bett sein sollte, Georg, die kleine Nachteule immer. Manchmal im Flur, bis wir ins Bett gehen, dann hockt er da und wartet. Und der grimmige Bär da hinten aus seiner Sesselhöhle, lach doch mal, immer so launisch, noch einen Wein, Schatz, Bernhard?

Das Lachen frisst sich die Stufen hoch und bohrt Löcher in den brüchigen Frieden, die papierdünnen Burgmauern meiner Sicherheit. Denn es ist kein normales Lachen mehr, wie sie es am Tag lachen. Sind Menschengesichter nicht gelb? Diese Gesichter sind rot; sind es Teufelsgesichter? Die Münder müssen viel Platz machen, um das Lachen herauszulassen, es schrammt an den Zähnen vorbei. Wenn dieses Lachen ein Kuchen wäre, dann wäre Gift darin.

Unten tanzen die Teufel. Kai und Torsten sind nicht da, sie dürfen noch aufbleiben, deswegen bin ich allein hier oben.

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, meine nackten Füße würden sich um eine kalte Eisenstange klammern. Ich sitze auf dem Turmkreuz, ich bin ein Vogel. Der Wind hier oben ist stark und reißt an meinem Pyjama, sodass er knattert. Wie eine Fahne. Ich sehne mich danach, einzuschlafen. Dann lösen sich meine Krallen, und ich falle schlafend hinab. Aber ich finde keine Ruhe. Der Abend ist eine fremde Hand, die mich hält. Über einem unbekannten Raum. Ich sehe durch die geschlossenen Finger in den tiefen Abgrund Schlaf hinunter. Ich muss immer eine bestimmte Zeit lang Angst haben, ehe ich einschlafen darf. Wenn das Maß voll ist, öffnen sich die Finger, und ich stürze hinab. Wer macht das Maß?, ich weiß es nicht.

Irgendwann kommen Kai und Torsten die Treppe herauf und gehen in ihr Zimmer. Es beruhigt mich zu wissen, dass sie nebenan sind. Unten wird nicht mehr gelacht und nicht mehr laut geredet. Schuhe klappern auf dem blanken Dielenboden. Die Tür geht auf und zu, auf und zu, auf und zu. Jetzt sind nur noch meine Eltern da.

Bald müsste meine Mutter nach oben kommen, bald würde man aus dem Bad Geräusche hören, vertrautes Licht würde unter der Badezimmertür durchscheinen. Es würde ganz ruhig werden im Haus. Erst würde meine Mutter und viel später mein Vater ins Bett gehen, unten in seinem Zimmer. »Gute Nacht«, würde meine Mutter sagen, dann würde endlich alles friedlich sein, und ich könnte einschlafen.

Morgen werde ich –, denke ich gerade, da höre ich ihre Stimmen: »Das lass ich mir nicht bieten!«, schreit er plötzlich. Und sie: »Ich hab ganz normal ›Gute Nacht‹ gesagt!«

Was dann folgt, verstehe ich nicht. Aber ich höre heftiges Reden und aufgebrachte Laute. Es ist wie ein Memoryspiel. Was sie sagen, der Klang ihrer Stimmen, deckt ein Bildchen nach dem anderen in mir auf. Und wieder zu. Es sind nie die richtigen, sie passen nie ­zusammen: mein Vater in seinem Sessel. Er blickt stur geradeaus. Er schickt ihr etwas nach, etwas Bitteres. Gerade so laut, dass es sie noch erreicht. Oder: meine Mutter, die in der Tür steht. Flämmchen schießen aus ihrer Haut. Ihre Nägel krallen sich in den Türrahmen. Sie spuckt Worte zurück. Oder dieses: Mein Vater schimpft in einem höhnischen, dünnen Singsang. »Ich rackere mich ab für dich, und ich kriege nichts zurück. Nichts!« Dabei wippt er mit dem Oberkörper immer vor und zurück. Jetzt eines, auf dem meine Mutter lacht. Auf dem nächsten Bildchen ist mein Vater ein ganz kleiner Mann in einem riesigen Sessel. Er kämpft sich wackelig aus dem Kissen in den Stand und stapft nach vorne bis zu den Quasten, wo die Sitzfläche aufhört. Ganz vorne an der Sesselkante steht er, hält sich mit einer Hand an der Lehne fest und schreit böse. Ich decke meine Mutter auf: Sie ist groß und blickt auf ihn herab.

»Gute Nacht!«, sagt sie beißend und dreht ihm den Rücken zu.

 

Als meine Mutter die Treppe nach oben geht, höre ich, wie er hinter ihr herkommt.

»Du kannst mich nicht immer abweisen!«, sagt er.

»Lass mich!«, droht sie.

Eine Tür knallt. Ich höre die beiden auf einmal schwer atmen. Dann ein Getrappel.

»Wag es nicht!«, flüstert meine Mutter keuchend.

Plötzlich ist überall grelles Licht. Ich muss blinzeln. Meine Mutter kniet an meinem Bett. Sie versucht, ihre Arme unter meinen Körper zu schieben.

»Au!«, rufe ich, weil ich das nicht will.

Meine Mutter flüstert auf mich ein. Ihr Atem riecht sauer und scharf.

Sie blickt zu meinem Vater hin, der im hell erleuchteten Flur ein Stückchen hinter der offenen Tür steht. Er sieht wütend aus.

»Wir haben etwas ausgemacht damals!«, sagt er. »Komm!«

Aber sie kommt nicht. Sie schiebt ihre harten Finger einen nach dem anderen unter meiner Haut durch. Als er wieder etwas sagt, das ich nicht verstehe, drückt sie den Kopf in meinen Bauch – es klingt, als würde sie lachen oder weinen.

Mein Vater steht da und blickt sie kalt an. Er wird nicht weichen, das sehe ich ihm an.

»Komm, du darfst bei mir schlafen heute«, flüstert meine Mutter mir zu. Aber ihre Worte sind undeutlich und machen mir Angst.

»Nein, ich will nicht«, antworte ich. »Heute schlafe ich bei mir!« Aber sie schüttelt den Kopf.

Ich sehe zu meinem Vater hin, aber der ist nicht mehr da. Der Flur ist leer, die Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter ist offen. Dahinter ist es schwarz.

»Heute sind die Geister wieder stark!«, flüstert meine Mutter nun und setzt einen beruhigenden, stahlharten Ton auf.

Ich erstarre. Ich lasse mich auf ihre knochigen Arme heben und hinübertragen.

»Komm, komm!«, säuselt sie. Die Lampe im Flur sticht mir unter die Lider. Meine Beine sind zu lang für die enge Türöffnung, aber meine Mutter dreht sich und schiebt mich den Kopf voran in die Schwärze wie in einen Ofen. Dort bleibt sie stehen. Ich sehe in ihr Gesicht und erschrecke, denn es ist ein Steingesicht. Eine höhnische, graue Büste.

»Raus!«, sagt sie.

Mein Vater sitzt in ihrem Bett, die Arme verschränkt, die Decke über den Beinen.

Er sieht sie entsetzt an. Die Zeit bleibt stehen. Dann – gerade, bevor er wieder klein wird – fängt er ganz langsam an, sich zu bewegen. Nachdrücklich und absichtsvoll sind seine Bewegungen, als er aus dem Bett klettert. Sein Blick haftet unablässig am Gesicht meiner Mutter, als er das Zimmer verlässt. Seine Augen sind kleine, getrocknete Klebstoffpunkte. Sie lösen sich nur zäh von uns. Die Tür zerschneidet sie, als meine Mutter sie mit einem harschen Tritt verschließt.

Sie ist wie verwandelt. Sanft legt sie mich auf das Bett und deckt mich zu. Es ist noch warm von meinem Vater. Sie lächelt mich an. Ein wenig verschämt sieht sie zu Boden. Dann schüttelt sie den Kopf, als wäre etwas geschehen, über das sie sich wundert.

Als das Licht aus ist und wir nebeneinander liegen, der Atem noch nicht ganz ruhig, die Luft noch verwirbelt von seltsamen Dingen, die ich nicht verstehe, knallt unten die Haustür.

Meine Mutter bläst Luft durch die Nase. Dann zieht sie umständlich ihren Arm unter den Daunen hervor. Ihre Fingerspitzen erreichen mein Gesicht. Ich zucke zusammen. Sie streichelt mir über die Wange. Aber ich scheine gar nicht da zu sein. Es ist, als wedele sie nur einen Gedanken fort.

 

Geheimwissen über Türen

Der Wind pfiff um das Haus, was er selten tat. Er will mir etwas sagen!, dachte ich sofort und sprang vom Boden auf, wo ich lange stumm gehockt und gezählt hatte. Ich huschte auf Zehenspitzen durchs Haus und suchte die Löcher, die der Wind nahm. Ich fand eins und starrte verwundert hinein. »Der Wind ist im Ofen?«, flüsterte ich.

Ich öffnete das kleine Glasfenster und hielt mein Gesicht hinein, aber da sauste es schon wieder irgendwo hinter mir um die Mauern. Ich wollte hören, was er redete, also rannte ich los, jagte ihn über den Flur und um die Ecke. Er hat die Antwort!, dachte ich. Ich hatte nämlich schon seit einiger Zeit eine Frage.

Ich flitzte um die Ecke und musste bremsen, denn da am Küchentisch vor mir saß Torsten. Doch meine Füße wollten noch weiter, sie glitten über den Küchenboden und machten erst halt, als meine Nase fast genau an Torstens Ohr stieß.

Leise!, befahl ich mir selbst und senkte den Kopf. Torsten beachtete mich nicht.

»Torsten?«, zupfte ich meinen großen Bruder am Ärmel.

»Hau ab, ich muss Hausaufgaben machen!«, antwortete der mit gerunzelter Stirn und führte seinen Stift langsam über ein kariertes Papier.

»Torsten!«, rief ich ihn noch mal.

Da fuhr er auf, gab einen lustigen, unwilligen Laut von sich und starrte mich an. Sein Gesicht machte eine wütende Grimasse, aber seine Augen waren freundlich. Auf einmal nahm er das Buch, über dem er gebrütet hatte, und warf es hinter sich. Sein grimmiger Blick ließ mich nicht los. Das Buch segelte durch die Luft, verfing sich in einem Vorhang und glitt dann flatternd herunter.

»Bumm!«, machte Torsten.

Einen Moment lang standen wir nur da, Auge in Auge, dann sprang mein Bruder fort. Er machte dabei die Beine krumm und warf die Arme in die Luft. Ich nahm Anlauf, ließ mich auf die Knie fallen und rutschte hinter ihm her. So tanzten wir einmal um den Tisch und machten alberne Geräusche.

»Wie sieht denn der Boden aus!«, rief er nun mit verstellter Stimme und streckte seine Zungenspitze hervor, genau wie unsere Mutter. Er packte mich an den Armen und wirbelte mich wie einen Wischlappen hin und her über die spiegelglatten Fliesen. Am Ende der zweiten oder dritten Runde aber hielt Torsten inne und ließ mich los. Seine Schultern fielen nach vorne, und gebückt schob er nun einen Fuß vor den anderen wie ein trauriger Mann, bis er vor seinem Buch stand, das immer noch mit zerknickten Seiten unter dem Fenster lag. Als er sich danach bückte, sah er aus wie ein Clown, der sich nach seinem Auftritt verbeugt. Dann wurde er wieder Torsten. Er schüttelte den Kopf, ging zum Tisch, seufzte laut, setzte sich und sagte: »Hausaufgabenzeit. Scheißzeit.« Damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.

»Gibt es ein Buch, in dem etwas über Geister steht?«, fragte ich. Torsten konnte es wissen, er ging ja immerhin schon in die sechste Klasse. Dann konnte mir der blöde Wind mit seiner Geheimniskrämerei gestohlen bleiben.

»Schau ich nachher mal«, versprach er und schickte mich mit einem Klaps fort aus der Küche.

 

Am Abend kamen zwei alte Männer in mein Zimmer. Sie gingen gebückt und langsam, und einer trug Vaters Brille.

»Komm mit!«, sagten sie mit ihren tiefen Stimmen. Ich sprang aus dem Bett und folgte ihnen.

Die Stufen hinunter taten sie sich schwer. Sie hielten sich die Rücken und ächzten und waren ganz steif. Ich sprang um sie herum und half ihnen, stützte sie hier und leitete sie dort.

»In die Bibliothek«, sagte der Kleinere der beiden mit hohler Stimme und legte mir seinen zitternden Arm um die Schultern.

Ich erschrak ein wenig, denn in unserem Haus gab es keine Bibliothek.

Die meinen das Zimmer meines Vaters!, fiel mir ein. Aber da war eigentlich kein Zutritt. Und was würde mein Vater sagen, wenn er uns dort fände? Nicht auszudenken.

Dennoch legte ich vorsichtig meine Hand auf die Klinke und ließ die Tür aufschwingen.

Das verbotene Reich breitete sich dämmerig und groß vor uns aus. Wir lugten hinein. Wir sahen, dass das Zimmer gar keinen normalen Zimmerboden hatte, sondern der Boden bestand aus unzähligen Bücherstapeln von unterschiedlicher Höhe, die sich dicht an dicht auftürmten. Sie waren von einer sanften Staubschicht bedeckt, wie Neuschnee. Das Sonnenlicht fiel in Streifen durch die Rollläden. Darin erkannte man, dass es auch von oben unablässig und fast unmerklich Staub schneite.

Sofort kletterten die beiden Alten hinauf und begannen, mit wackeligen Schritten das Zimmer von Bücherstapel zu Bücherstapel zu durchqueren.

Wenn jetzt mein Vater käme! Er könnte mir doch nie verzeihen, zwei fremden Gelehrten die Türen geöffnet zu haben! Auch wenn er mir sonst fast alles verzieh.

Der kleine Gelehrte erstieg nun eine niedrige Anhöhe mit medizinischen und theologischen Werken, die unter seinen Tritten gefährlich kippelten. Oben auf dem Plateau des Schreibtisches fand sein rechter Fuß auf einem Buch über den Weltkrieg Halt, der linke auf einem Wälzer, auf dem Sophokles stand.

Der andere Gelehrte war in den Sumpf vorgedrungen, der sich rechteckig aus den Bücherbergen erhob. Tief versanken seine Knöchel in der Tagesdecke, die sich über Daunen und Kissen breitete. Auf der braunen Oberfläche schwammen nur vereinzelte Nachschlagewerke, ein Notizbuch balancierte auf der hölzernen Kante. Der Alte hatte ein Buch in der Hand.

»Das ist das Animarium«, erklärte er gewichtig.

»Was ist ein Animarium?«, fragte ich staunend.

»In diesem Buch steht alles über die geheimnisvolle Welt der Geister.«

Obwohl ich ein wenig erschrak und mir der Verdacht kam, dass Kai und Torsten sich vielleicht einen Spaß mit mir machen wollten, zweifelte ich doch keine Sekunde, dass mein Vater ein solches Buch besitzen könnte.

»Nenne drei Mittel, um Geister fernzuhalten!«, forderte mich der Kleinere von der Bergspitze aus auf.

»Licht anlassen?«, versuchte ich es. »Tür offen lassen?«

Der Ältere las vor: »Wenn du vor dem Schlafengehen die Tür schließt und ein Geist ist schon im Zimmer, hat er dich die Nacht über.«

»Du musst also immer nachgucken!«, riet mir der Kleine.

»Was kann er dann mit einem machen?«, wollte ich wissen.

»Geister versuchen mit allen Tricks, dich aus deinem Körper zu locken, während du schläfst«, erklärte der Gelehrte. »Wenn du darauf hereinfällst und ihnen folgst, können sie mit dir machen, was sie wollen. Dann musst du unbedingt versuchen, aufzuwachen.«

»Aber man kann sich aus einem Traum doch nicht selbst aufwecken«, wandte ich ein.

»Doch, man kann vor Schreck aufwachen!«, sagte der Kleinere und fing gleich wieder an, mich auszufragen: »Woran erkennst du, dass du nicht träumst, sondern mit deinem Traumkörper herumläufst?«

Ich zuckte nur die Schultern. Da hob der Ältere das Buch und las wieder: »Indem du auf einen Lichtschalter drückst. Gleiten deine Finger hindurch, bist du im Geisterbereich.«

»Aber wie kann man sich absichern?«, fragte ich nun leicht verzweifelt.

»Tja«, sagte der kleine Gelehrte und tat allwissend, »Geister haben ein hohes Level. Du lernst schon noch, wie du sie besiegst.«

Der andere fuhr fort: »Jede Tür, die einen Spaltbreit offen steht, ist eine Einladung für Geister.«

»Aber jede Tür, die ganz offen steht, ist zu mächtig für Geister«, unterbrach der Kleine. »Sie fürchten die Offenheit.«

»Was ist, wenn die Eltern vorher im Zimmer waren?«, wollte ich wissen. »Können die Geister dann auch hinein?«

»Nein«, sagte der ältere Gelehrte. »Wenn die Eltern im Zimmer waren, hast du eine Stunde Zeit, um einzuschlafen. So lange kann kein Geist hinein.«

»Quatsch!«, unterbrach der jüngere Gelehrte. »Er hat nur dreißig Minuten Zeit, um einzuschlafen!«

»Wie lange jetzt?«, rief ich ängstlich.

Der Ältere und der Jüngere sahen sich kurz ratlos an, dann antwortete der Ältere weise: »Darüber sind sich die Gelehrten nicht einig«, und klappte das Buch zu.

»Kann ich das Buch mal sehen?«, bat ich.

»Nein«, rief der ältere Gelehrte und schob es ganz oben auf ein Wandbord über dem Bettsumpf.

»Denn da sind schreckliche Bilder drin«, erklärte der andere.

»Was macht ihr hier?«, fragte mein Vater.

 

Der Feuersturm

Unsere Mutter war nicht da.

»Ich halte es nicht mehr aus!«, hatte sie plötzlich beim Abendbrot gesagt und war hinausgegangen. Wir Übrigen sahen uns alle verwundert an. Es war ja vorher nichts vorgefallen. Sie hatte sich nicht mit unserem Vater gestritten, und auch wir Kinder hatten nichts angestellt.

»Ich will Ski fahren«, sagte sie später im Wohnzimmer zu unserem Vater.

»Du kannst doch gar nicht Ski fahren!«, antwortete er verständnislos.

»Dann lerne ich es eben!«, blaffte sie ihn an und schlug die Tür zu.

»Nimm dir nur allen Freiraum, den du brauchst«, rief er ihr bissig nach. »Nimm dir nur allen Freiraum, den du brauchst.«

 

In den Tagen danach breitete sich zu Hause eine geradezu heitere Stimmung aus. Meine Mutter verteilte sie singend in den Räumen, hängte lächelnd Wäsche auf und schrieb mit geschwungener Schrift Rezepte und Anweisungen für uns und unseren Vater.

Die Zettel sahen aus wie Briefe, unsere Mutter hatte ihren Füllfederhalter benutzt; sie waren sehr ordentlich und einladend. Sie hingen an allen Schränken, an der Waschmaschine, am Schlüsselkästchen, am Herd und am Apothekenschrank. Den am Apothekenschrank las mein Vater mit gerunzelter Stirn und missbilligender Miene, ehe er sich verstohlen umsah, ihn abriss und zusammengeknüllt in der Tasche verschwinden ließ.

Mein Vater hielt es nicht lange in seinem Sessel aus, wenn Mutter durchs Haus ging und Vorbereitungen traf. Er ging ihr hinterher, behutsam, um sie nicht aufzubringen, und fragte ganz bemüht nach diesem oder jenem.

»Müssen die Kinder irgendwann ins Bett?«, wollte er einmal wissen.

»Die fallen schon um, wenn sie nicht mehr können«, antwortete sie.

Dann aber kniete sie sich zu mir und flüsterte: »Wenn du Angst hast, gehst du hierhin«, und sie führte mich zu dem Familienfoto, das hinter Glas im Flur hing. »Da bin ich, siehst du?«, fragte sie und tätschelte mir die Backe.

Mir aber wurde es ganz eng ums Herz: »Kann ich nicht mitkommen?«, flüsterte ich leise.

Sie lächelte: »Nein, du musst doch in die Schule.«

»Ich muss nicht immer in die Schule. Du kannst mich doch befreien«, schlug ich hoffnungsvoll vor.

Sie aber schüttelte den Kopf, erhob sich wieder und eilte zum nächsten Schrank.

 

»Aber was soll ich ihnen kochen?«, fragte mein Vater ein anderes Mal verzweifelt.

»Erbswurst. Wie früher«, rief sie übermütig und lachte ihn an.

»Lass mir wenigstens ein Kochbuch da!«, bat er. Wir Kinder sahen uns entsetzt an: Wollte er für uns kochen?

»Oder du gibst uns ein bisschen Haushaltsgeld«, schlug Kai ganz beiläufig vor.

Meine Mutter hielt inne und sah ihm ins Gesicht.

»Haha, Geld! Das klingt verdammt nach Videothek und Pizzeria«, entgegnete sie und brach in ein herzhaft böses Lachen aus.

 

»Was machst du da?«, fragte ich verwundert, als ich meine Mutter einen großen, alten Koffer die Dachbodenleiter hinunterhieven sah.

»Hilf mir mal!«, forderte sie mich auf. Ich packte zu, aber der Koffer war zu schwer und die Leiter zu steil.

»Huch! Huch!«, schrie meine Mutter, ließ den Koffer fallen und konnte sich gerade noch an die Sprossen klammern.

Das große Ding polterte herunter, klappte auf dem Boden auf und spie einen bunten Haufen Kleider über den Flur.

»Faschingskostüme!«, rief ich begeistert. Eine Tür schwang auf, Kai und Torsten standen darin. Sie stürmten sofort los und warfen sich neben mir auf die Knie.

»Ein Harlekin.«

»Schau mal, das ist mit Perücke dran!«

»Die hab ich früher mal angehabt als Zauberer!«, schallten die Rufe durchs Haus.

Während meine Mutter still und zufrieden Kleider faltete und sorgfältig einpackte, hatten wir einen Nachmittag lang Karneval.

 

Bald aber kam der Abschied. Ihr Koffer war schwer, das wussten wir, denn wir hatten es uns nicht nehmen lassen, ihn zu dritt vor die Haustür zu schleppen. Für sie aber schien er nichts zu wiegen. Sie tänzelte damit die Einfahrt hinunter und legte ihn in den wartenden Wagen an der Straße.

Mein Vater trat schüchtern zu ihr und umarmte sie lange. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, dann aber zog er sich zurück bis ganz hinten an die Tür, verzog den Mund und winkte nur noch zaghaft.

Kai und Torsten hielten sich nicht lange mit Zärtlichkeiten auf, ich aber fing an zu weinen.

»Sei stark!«, flüsterte sie mir zu und sah mir in die Augen.

»Okay!«, versprach ich.

 

Als sie weg war, war das Haus seltsam leer und ohne Leben.

Kai und Torsten machten zwar den üblichen Lärm, aber er stieß nirgendwo an, lief aus, schwand.

Mein Vater zog sich zurück und überließ uns das Wohnzimmer.

Das Schlimmste war für mich, in die Schule gehen zu müssen. Ich fühlte mich in dieser Woche so fremd und verloren wie nie zuvor. Als wäre ich unsichtbar und aus Glas, ging ich durch die Tage. Versuchte, der Zeit auszuweichen, versuchte, nicht zu warten.

Aber abends hatte ich Angst und war einsam.

»Du darfst bei mir schlafen«, bot mir mein Vater an, als er mich eines Nachts vor der Wohnzimmertür kauernd fand. Also zog ich das erste Mal in meinem Leben für eine Nacht in das Bett meines Vaters.