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Schau mich an, wenn ich mit dir rede!

© 2017 Jung und Jung, Salzburg und Wien

MONIKA HELFER

Schau mich an,
wenn ich mit dir rede!

Roman

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für meine Familie

»Es beginnt mit einem Gefühlsüberschuss.«

Thomas Melle

(1) Eine Geschichte in Schwarz-Weiß

Ich fuhr mit der U-Bahn. Mir gegenüber saßen eine Mutter und ihr Kind, das Kind war zehn oder elf. Beide hatten einen Stadtroller zwischen den Beinen, beide eine Schildmütze auf dem Kopf. Mützen und Roller schienen neu zu sein.

Die Mutter neigte sich zu dem Mädchen hinüber und sagte: »Und? Wie ist das so mit dem Papa? Mag er dich noch?«

Die Frau war blond, die Haare waren ungewaschen. Ich zog wegen der Roller meine Beine eng an den Sitz. In Gedanken gab ich ihr einen Elektriker zum Mann und ließ sie in einem Wohnblock wohnen. Und ich ließ sie in einem Film mitspielen, in dem es darum ging, dass Männer bei ihr landen wollen. Alle möglichen Männer, Elektriker, Professoren, Glücksritter, Pechvögel. Ich stellte mir vor, die Brüder Ethan und Joel Coen würden Regie führen, der Film wäre ein Gegenstück zu The Big Lebowski mit Jeff Bridges. Mit welcher Schauspielerin würden sie die Frau besetzen? Mit Julianne Moore? Oder mit Frances McDormand, der schwangeren Polizistin aus Fargo? Eher nicht. Ich würde den Brüdern zu Scarlett Johansson raten. Wie ich sie in The Man Who Wasn’t There gesehen habe. In einer Nebenrolle – Birdy, die leider wenig talentierte Klavierschülerin. Am liebsten wäre mir, alle Farben würden aus der Geschichte ausgetrieben. Eine Schwarzweiß-Geschichte – wie der Film mit Scarlett Johansson und Billy Bob Thornton, der den Ed Crane spielt. Der Autounfall. Birdy hat sich an Ed herangemacht, der verliert die Gewalt über sein Auto. Ein Rad des Wagens wird abgerissen. In Zeitlupe rollt es über die Leinwand …

Ich schätzte die Frau auf dreißig. Wenn sie redete, öffnete sie kaum den Mund. Das Mädchen sah ihr nicht ähnlich. Die Augenbrauen des Mädchens waren dunkel und dicht.

»Wie heißt deine neue liebe, liebe Mama? Ich vergesse ihren Namen immer, weil er so blöd ist.«

Das Kind zog den Kopf ein. Sagte aber nichts.

»Oder bin ich blöd, weil ich den Namen der Frau vergesse, die mir den Mann weggenommen hat? Sag es! Sag, dass deine Mama, die jetzt nicht mehr deine Mama ist, dass die blöd ist, sag es! Sag es!«

Das Mädchen holte tief Luft. Die Jacke war zu groß, ich dachte, darin kann sie vielmal tief Luft holen. Das braucht sie, dachte ich.

Nun riss die Frau das Kind am Ärmel. »Schau mich an, wenn ich mit dir rede!« Sie sagte das so laut, dass die Neugierige neben mir mich anstieß und aufstand. Das Anstoßen hieß, ich sollte ebenfalls aufstehen.

Es war still im Waggon, die Menschen rund um uns hatten zu reden aufgehört und sich uns zugewandt. Eine Neugierige beugte sich nach vorne, um besser zu verstehen. Sie grinste. Oder sie schaute nur so vor Anstrengung.

Das Mädchen zog den Rotz hoch und nickte, sagte etwas, das klang wie: »Mmhm.«

Ihre Mutter hielt immer noch den Ärmel fest. »Und du? Du? Du? Magst du ihn immer noch, deinen lieben, lieben Vater? Ich will es wissen. Ich weiß schon, nichts darf ich, aber etwas wissen wollen darf ich wohl. Oder wollt ihr mir das auch noch verbieten?«

Der Mund des Mädchens nahm einen leidenden Zug an, und ich dachte, gleich wird sie weinen. Sie weinte nicht. Sie drehte sich weg von ihrer Mutter, sagte nur sehr leise: »Mmhm.«

»Ich hab kein Wort verstanden. Kannst du nicht normal reden? Sagt man bei euch nur mmhm?«

Das Mädchen schaute auf die Rollerlenkstange, verschob den Gummi am Haltegriff.

»Schau mich an, wenn ich mit dir rede!«

Die Neugierige, die sich zu den beiden hinübergebeugt hatte, um besser zu verstehen, nickte, und ich merkte, dass auch ich nickte. Das Mädchen schaute mich an, und ich schämte mich und hätte gern etwas gesagt. Es hob den Kopf, die Mütze rutschte in den Nacken, die Haare an der Stirn sahen verschwitzt aus.

Die Mutter schaute mich an und schaute die Neugierige an und sah in unseren Augen, dass sie recht hatte und recht tat, und nun schmeichelte ihre Stimme gönnerhaft. »Ob du deinen Vater immer noch magst, mehr will ich doch gar nicht wissen.«

Das Mädchen wischte sich die Augen, weinte aber nicht.

»Wobei!«, rief die Mutter aus, als wäre ihr ein neuer Gedanke gekommen. »Die Frage lautet ja wohl, ob er dich immer noch mag. Jetzt, wo du noch zwei Halbschwestern hast, giltst du sicher gar nichts mehr.«

Und nun sagte das Mädchen: »Doch, schon, sie sind nett.«

»Ah, nett!« Und zu mir und der Neugierigen: »Die sind nett.« Und wieder zu ihrer Tochter: »Viel netter als deine Mama zu dir. Viel, viel netter, hab ich recht?«

Jetzt liefen dem Mädchen Tränen aus den Augen. Sie wischte sie gleich weg, und eine Weile war wieder Stille. Die Mutter wurde ruhig, als schweiften ihre Gedanken weit ab. Verzweifelt sah sie aus.

Ich dachte, was wahrscheinlich auch die Neugierige dachte und alle im Waggon: Die Frau trinkt oder ist depressiv oder beides, und weil sie trinkt und depressiv ist, hat sie der Mann nicht mehr ausgehalten, hat sich eine neue Familie gesucht und die Tochter mitgenommen. Jetzt lebt sie allein. Man sieht ihr das schlechte Leben nicht an, aber in zehn Jahren würden wir sie nicht mehr erkennen.

Frau und Kind rochen nach Pommes. Am Duft erkennt man Stadtteile. Ich sah ihr ins Gesicht. Die Frau hob den Kopf und fixierte mich, als wollte sie gleich sagen: Und, welche Waffe nimmst du?

»Und deine neue nette Mama, verwöhnt sie dich? Kocht jeden Tag, und Nachspeise dazu, und der Papa wird immer dicker. Der wird einmal richtig fett werden, richtig fett. Und du wirst auch richtig fett, weil du nach ihm kommst.«

Das Mädchen hatte so lange an dem Gummi herumgespielt, bis er sich löste.

»Jetzt hast du den Roller auch noch kaputt gemacht. Weißt du, wie lange ich auf diesen Roller gespart habe? Schau meinen an! Ist an dem etwas kaputt? Nichts ist kaputt.«

»Der Roller ist doch nicht kaputt, Mama«, sagte das Mädchen und sah die Mutter an, als wäre sie eine ganz normale Mutter. »Wir müssen jetzt aussteigen.«

»Ja, dann komm«, sagte die Frau, als wäre sie eine ganz normale Mutter, strich dem Kind über die Haare, und die beiden standen auf.

(2) Die Mutter könnte Sonja heißen

Die Tochter fuhr mit dem Roller davon, die Mutter sah ihr nach.

Die Mutter könnte Sonja heißen. Ein dunkler Name, wie ich finde. Sie war blond, echt blond, und sie wüsste viele Blondinenwitze. Sie fühlte sich inwendig hohl. Sie ärgerte sich, weil Vev ihr nicht zugehört hatte. Zugleich plagte sie das schlechte Gewissen.

Die Tochter will ich Vev nennen, ein Kosename, abgeleitet von Genoveva. So hatte meine blinde Großtante geheißen. Sie hatte über meinen Vater die Hand gehalten, als er ein Kind war. Nie wäre jemand auf die Idee gekommen, sie Vev zu nennen. Mein Vater und seine Tante lebten im Keller eines Hauses, das ihnen nicht gehörte, der Boden war aus gestampftem Lehm. Nur ein Fenster war in dem Raum, nicht größer als ein Kopfkissen war es, aber es zeigte nach Süden …

Sicher hat sich Sonja überreden lassen, ihre Tochter Genoveva zu nennen. Hat sie sich vom Kindsvater überreden lassen? Weil der seiner Mutter, die so hieß, einen Gefallen tun wollte? Weil die Mutter, die Schwiegermutter, die Hand über die kleine Familie hielt? Die finanzielle Hand? Ein Name wie ein altes verschimmeltes Buch. Ein Name, mit dem man sich nur blamieren konnte. Der unbedingt abgekürzt werden musste: Vev.

Alles, was aus der Familie des Kindsvaters kam, war alt und verschimmelt. Gut aufgestellte Leute mit gut aufgestelltem Benehmen und gut aufgestellten Vorurteilen und aufgestellten Messern im Sack. Sonja war ihnen nie gut genug gewesen. Dabei hätte sie jede Menge Chancen gehabt. Einen Kaufmann hatte es gegeben, für den sie Kunden anschleppen sollte. Näheres wollte niemand wissen, auch Sonja wollte es nicht mehr wissen.

Zuvor war sie nicht geliebt worden, von niemandem. Und dann kam ein gut aufgestellter Mann – ich will ihn Milan nennen –, und sie wurde schwanger. Weil sie ihn liebte, war sie einverstanden, dass ihr Kind, angenommen, es würde ein Mädchen, nach einem alten verschimmelten Buch heiße.

Sonja fluchte.

Sie war nicht ganz sie selbst. Warum?, fragte sie, riss sich die Schildmütze vom Kopf und warf sie auf den Gehsteig. Die Haare fielen ihr ins Gesicht, sie drehte sie zu einem Knoten. Sie trat auf eine Dose. Die rollte und hielt vor einer Bettlerin. Sonja kramte in ihrer Tasche und zielte zwei Euro in den Joghurtbecher. Wenn jeder zwei Euro gibt, der an der da vorbeigeht, ist sie am Abend gut aufgestellt. Besser als ich, mir gibt keiner zwei Euro. Ihr war übel von den Tabletten, die sie im Bier aufgelöst hatte. Eigentlich sollte ich ihr die zwei Euro wieder abnehmen, dachte sie.

Sie kehrte um und gab der Bettlerin ihren Roller: »Für dich, kannst du verkaufen, hat sechzig Euro gekostet.«

Sie drehte der Bettlerin den Rücken zu und hörte sie schreien und drehte sich wieder um. Mit wehenden Röcken rannte die Bettlerin einem Burschen nach, der ihr den Roller entrissen hatte.

Sechzig Euro beim Teufel. Wer anderer als der Teufel soll dieser Bursche gewesen sein?

Sonja ging Richtung Karlsplatz, es war aber keiner da, den sie kannte. Fred nicht, Schuggi nicht, Corinna nicht, das Arschloch ohne Namen nicht. Ein sehr großer Mann fiel ihr auf, er hatte seine lockigen Haare zu einem Rossschwanz gebunden, er verhandelte gerade mit einem Anzugträger. Sie lehnte sich an die Wand und schaute zu, hoffte, er würde sie bemerken und ihr etwas umsonst anbieten. Sie drückte ihr Kreuz durch und öffnete die Haare, kämmte sie mit den Fingern. Was sie trug, war schäbig, beim Anziehen am Morgen hatte sie das nicht gedacht. Ein Freund aus Köln sagte »schäbbich«, das wollte sie in Zukunft auch sagen. Daran hätte man sie erkannt. Der Mann kam auf sie zu. Ein Riese mit grobem Gesicht. Einiges an Übergewicht, aber ein ordentlicher Mann.

Ganz zart sah er Sonja an und lange, dann sagte er: »Sehe ich richtig, bist du echt?« Und verneigte sich ungeschickt – oder war das geschickt? – und fügte mit rauchiger Stimme hinzu: »The Dude, mein falscher Name. Und deiner?«

Sonja überlegte, ihr fiel aber nichts ein, wegen der Tabletten und dem Bier im Schädel. Den Film, auf den sein falscher Name anspielte, den kannte sie.

»Sonja«, sagte sie, und damit auch etwas Lässiges dabei war: »Bitte, keinen Blondinenwitz!«

»Sehe ich so aus?«, sagte The Dude. »So primitiv?«

»Ja.«

»Du hingegen bist die Perfektion für mich. Mich wundert, dass kein Strahlenkranz um dich herum ist.«

Wenn sie in ihrem Tablettenloch steckte, war sie fast nichts. Sie hätte sich in diesem Zustand nicht mit ihrer Tochter treffen sollen.

»Hast du was für mich?«, fragte sie.

The Dude drehte ihr eine dünne Zigarette, nur mit den Fingern der rechten Hand, steckte sie an und reichte sie ihr. Sie zog kräftig, und ihre Knie wurden ein bisschen weich.

»Du bist mir einer«, sagte sie.

»Aber einer mit Manieren«, sagte er.

The Dude nahm sie am Arm, und sie ging mit ihm. Sie setzte sich neben ihn in die U-Bahn, sie ging hinter ihm her über die Stiege zu seiner Wohnung, sie ließ sich in einen Lehnstuhl fallen, der nicht von dieser Welt war. Es war kalt in der Wohnung. The Dude deckte sie mit einer Tigerdecke zu und drückte die Enden der Decke unter ihren Körper. Ihr wurde übel. Sie setzte sich aufs Klo und las in einem Comic, bis The Dude an die Tür klopfte. Er trug sie in sein Bett. Sie schlief ein, und als sie erwachte, lag sie auf seinem nackten haarigen Arm und dachte, ab jetzt ist er mein Riese. The Dude brachte Tee und Salamibrote. Er stellte einen Heizstrahler neben ihre Füße. Zwei Männer kamen herein, wahrscheinlich aus einem anderen Zimmer. Es waren Freunde, die bei ihm wohnten, weil sie nichts Eigenes hatten. Die Männer starrten Sonja an, als wäre sie eine Erscheinung, und The Dude erklärte, diese da sei ab jetzt seine Lady.

»Also Vorsicht!«

Und so blieb Sonja. Sie rief beim Sozialamt an und meldete, sie sei jetzt verlobt und habe etwas zum Wohnen. Da müsse sie schon selbst erscheinen, hieß es. Sie solle bei Gelegenheit mit ihrem Verlobten vorbeikommen, mit Ausweis und Arbeitsbestätigung, dann würde man weitersehen.

The Dude sagte nur: »Machen wir, Baby, kein Problem.«

Er zwängte sich in einen schwarzen Anzug, sie wusch sich die Haare. Er und sie: ein respektables Paar.

(3) Die Launen der Mutter

Missmutig schob Vev den Roller. Sie drehte sich nach ihrer Mutter um, die ihr einen Kuss nachwarf, aber darauf reagierte Vev nicht. Nie mehr wollte sie zu ihr. »Zu der da!« Das dachte sie jedes Mal und hatte sie oft schon gesagt, und immer wieder war sie dann doch zu ihr gegangen.

Sonja wohnte mit einer jungen Frau zusammen – bis zu diesem Tag –, die von einem Putzwahn beherrscht war. Du bewegst dich, egal, wie und wohin du dich bewegst, zwanzig bis dreißig Zentimeter hinter dir ist der Putzlumpen. Du willst dein Glas auf den Tisch stellen, aber noch bevor es den Tisch berührt, ist schon eine Hand da, und das Glas steht im Spüler, und der Spüler wird zugemacht. Die Mutter hatte aufgegeben zu kochen, einem Spiegelei folgte ein Putztag. Im Bad musste sich Vev die Nase zuhalten. Vom scharfen Geruch des Desinfektionsmittels musste sie husten, und es stach in ihrer Brust.

»Warum macht sie das?«, fragte Vev.

»Weil sie nicht normal ist«, antwortete ihre Mutter.

»Ja, aber, was ist der Grund?«

Sonja griff sich nur an den Kopf: »Vielleicht ist sie als Kind in den Mistkübel gefallen.«

»Und warum hat sie so einen Ausschlag an den Händen?«, fragte Vev.

Sonja ging der Frau aus dem Weg, sie hatte nicht den Mut, mit ihr zu reden. Sie fürchtete sich vor etwas, das in der Luft liegen könnte, etwas, das nach nichts roch. War Sonja zu Hause, sperrte sie sich in ihrem Zimmer ein. Sie lag im Bett und schaute sich am Computer Filme an. Was passiert, dachte sie sich, wenn ich einmal alle Filme gesehen habe? Ein Film mit Scarlett Johansson begeisterte sie. Sie sah sich selbst in der gelangweilten Frau, tagsüber mit Unterwäsche im Bett, abends auf Partys. Das mit den Partys war allerdings vorbei, hatte irgendwann aufgehört. Sich immer einladen zu lassen, ist würdelos, und es fehlte ihr an Kleidern und Schuhen. Sie war nicht die Frau, die für Champagner mit jemandem ins Bett ging. Da wurde sie völlig falsch eingeschätzt. Schlief sie mit einem, dann aus eigener Laune. Sie hatte die Tabletten abgesetzt, die man ihr im Spital verschrieben hatte, sie glaubte, sie brauche sie nicht mehr. Und wenn, wollte sie sich eigene besorgen. Sie bildete sich ein, alles im Griff zu haben.

Vevs Vater war hartnäckig gewesen. Jeden Tag hatte er Sonja Duftrosen vor die Füße gelegt. Er war schüchtern, das interessierte sie dann doch. Die Eroberung glich einer Filmszene, aber der ganze Film würde erst gezeigt, wenn sie ihn heiratete. Der Film würde mit einer Szene beginnen, in der sie ein Baby war und auf einem fremden Fußabstreifer lag. Fast so wie im echten Leben. Sie war bei Zieheltern aufgewachsen. Ihre Zieheltern waren Lehrer, sie konnte nichts Schlechtes über sie sagen. Sie hatten sie mit Anstand und ohne Zärtlichkeit aufgezogen. Dann ein langer langweiliger Mittelteil, dann das Ende des Films: Hochzeit. Das Ja aus eigener Laune.

Einmal in der Woche kam die Sozialarbeiterin, sie war hingerissen, wie sauber es in der Wohnung war. Sonja sagte und hatte nicht nur einmal gesagt: »Das Problem sind die Desinfektionsmittel, ich kann nicht mehr atmen in dieser Wohnung.« Die Mitbewohnerin hatte sie scharf angesehen, die Sozialarbeiterin hatte sie scharf angesehen. Also Ende der Diskussion.

War Vev auf Besuch, blieben sie nur kurz in der Wohnung, tranken Cola in Sonjas Zimmer, dann gingen sie spazieren. Meistens am Donaukanal, weil man dort so schön ins Wasser schauen konnte und weil es dort so angenehm nach faulen Fischen roch. Immer wieder erzählte sie Vev, die Oma sei in die Donau gegangen, aber Vev verstand nicht. »Was heißt gegangen? Hineinspaziert und dann ertrunken?« Das konnte doch nicht sein. Wahrscheinlich log die Mutter.

Dann hatte Sonja die Idee mit den Stadtrollern gehabt. Zweimal waren sie zusammen unterwegs gewesen. Vev vorneweg, Sonja hinterdrein. Vev kam mit den Launen ihrer Mutter nicht zurecht. Sie wusste, wenn sie die Tabletten nicht genommen hatte, war sie unberechenbar. Manchmal auf der Straße nahm sie Vev an der Hand, und sie rannten auf fremde Leute zu. Die stoben auseinander. Das konnte lustig sein, war es aber eher selten. Manchmal wurde Sonja von Männern angeredet und eingeladen. Man saß in Gastgärten und trank Almdudler, wegen der Kleinen. Telefonnummern wurden in Vevs Notizbuch geschrieben, weil die Mutter nichts zum Schreiben dabei hatte. Es hieß dann: »Bring ruhig die Kleine mit, sie stört uns nicht.« Sie machten sich den Spaß, einen falschen Namen anzugeben und eine falsche Adresse. Und sie lachten, wenn sie sich ausmalten, dass die Männer an falschen Orten auf sie warteten.

Einmal sagte ein Fremder zu Vev: »Du kommst nach deiner Mutter, nicht vom Aussehen, aber vom Temperament.« Hieß das, sie würde genau so werden wie ihre Mutter? Wann war die Mutter eigentlich verrückt geworden?

Vev hatte die eine oder andere Telefonnummer vom Festnetz ihres Vaters aus angerufen. Meldete sich jemand, legte sie auf. Einmal war eine Frau am Telefon, die fragte sie nach ihrem Mann. Die Frau sagte, du klingst wie ein Kind, was willst du von meinem Mann? Da sagte Vev, nichts, aber meine Mutter will etwas von ihm. Sie erschrak, und der Schreck war an diesem Tag das Aufregendste gewesen.

Sonja war normal, wenn sie nicht verrückt war. Das sagte Vev sich vor: »Die Mama ist normal, wenn sie nicht verrückt ist.« Nahm die Mutter regelmäßig ihre Tabletten, funktionierte sie wie ein neues Auto.

The Dude brachte Sonja von den Tabletten weg, von den legalen und von den illegalen. Er behandelte sie mit Marihuana. Er sagte, das sei die einzig richtige Medizin für sie, das würden gute Ärzte auch verschreiben. Dünne Zigaretten, Gras aus biologischem Anbau, kein Tabak. Und Sonja beruhigte sich. Sie dachte, er ist mein persönlicher Arzt, ihm liegt an meinem Wohl, weil er mich liebt.

(4) Wenn das jetzt ein Gesicht wäre

Der Vater stand da, die Haare wie verregnet, vor der Haustür stand er und wartete auf seine Tochter. Vev kam ohne ihren Stadtroller. Er fragte sie, wie es bei der Mama war und wo ihr Roller sei.

Vev hatte den Roller in einen fremden Hauseingang geschoben, sie wollte alles, was von der Mama kam, beseitigen. Sie würde nichts mehr von ihr annehmen und nie mehr zu ihr gehen. Das hatte sie sich das letzte Mal auch schon vorgenommen und das vorletzte Mal auch. Sie hatte sich auch schon vorgenommen, allen zu erzählen, die Mama sei gestorben. Und war dann doch immer wieder zu ihr gefahren, in der U-Bahn, hatte sich sogar auf sie gefreut. Worauf hatte sie sich gefreut? Sie schaute auf ihre Knöpfe hinunter und dachte, unter dieser Jacke ist die Haut einer Verräterin. Sie schämte sich vor sich selbst, weil sie es nicht schaffte, nicht einmal, wenn sie die Hände vor den Mund hielt, ihrer Mama die Zunge herauszustrecken.

Sie stampfte auf. Der Vater meinte, es sei wegen des Rollers. Er meinte, sie habe ihn in der U-Bahn stehen lassen. So gut kannte er Vev, dass er es unterließ, sie zu fragen. Er wolle den Roller als vermisst melden, sagte er. Er hatte so eine Art, Sachen zu benennen und dabei die Lippen zu spitzen, weil er meinte, das sei kindgerecht.

Vev fiel das Mädchen ein, das zurzeit auf dem Infoscreen in der U-Bahn zu sehen war. Zwölf Jahre alt, aus einem Dorf in der Schweiz »ausgerissen«, lila gefärbte Haare. »Vermisst!« Sie könnte sich in der Drogenszene aufhalten, wurde vermutet. Zwölf Jahre alt und in der Drogenszene! Vev kam sich wie ein Baby vor, und wenn ihr Vater so mit ihr redete, wie ein niedlicher Hund, der ewig die gleichen niedlichen Kunststücke vorführen würde. Das musste sich ändern. Wäre sie mutig genug auszureißen? Und wohin? Sie könnte ja zum Beispiel in die Schweiz fahren. Und der Papa könnte die vermisste Schweizerin abholen und ihr den vermissten Roller schenken.

»Und deine Mütze?«, fragte der Vater.

»An ein armes Kind verschenkt.«

Vev wusste, dem Vater konnte sie alles erzählen. Er würde ihr alles glauben, weil er ihr alles glauben wollte, solange sie selber heil vor ihm stand. Und sie hatte ihn längst durchschaut: Für ihn war es am einfachsten, alles zu glauben.

Drinnen auf dem Sofa lagen Vevs Halbschwestern, sie stellten sich schlafend und kicherten dabei. Vor wem stellten sie sich schlafend? Vor Vev? Aber warum? Was war der Witz dabei? Es war nicht witzig, wenn zwei Schwestern auf einem Sofa lagen und wach waren, und es war nicht witzig, wenn sie auf dem Sofa lagen und schliefen. Und wenn sie so taten, als ob sie schliefen, obwohl sie wach waren, war das überhaupt nicht witzig. Sie blinzelten und sahen Vev vor dem Sofa stehen und sie anstarren und kicherten nun noch mehr, als wollten sie sagen: Hast du es nicht mitgekriegt, wir kichern! Vev starrte sie an, wie man einen Besen anstarrt oder einen Heizkörper, wenn man in Gedanken weit weg ist. Das konnten die beiden nicht leiden, das wusste sie.

Die Stiefmutter deckte den Tisch, es gab Kakao, Frankfurter und Laugenstangen. Sie schaute kurz auf und reichte Vev die Tasse: »Vorsicht, sehr heiß, Vev.« Das Schönste an der Stiefmutter war, dass sie an jeden Satz, den sie an Vev richtete, ihren Namen anhängte. Bei den eigenen Töchtern tat sie das nicht. Bei Vevs Vater tat sie das auch, aber nicht so oft wie bei Vev. Das Zweitschönste waren die Augenbrauen. Die waren nicht gerade oder geschwungen, sondern schräg, wie flache Dachgiebel. Ob die schon immer so waren? Oder erst so geworden waren? Die Stiefmutter sah aus, als würde sie immer denken, ich schaffe es nicht, ich schaffe es einfach nicht.

Vev aß stumm, den Kopf gesenkt, beantwortete keine einzige Frage, trank den Kakao, aß ihre Frankfurter mit ein bisschen Senf und viel Kren, der ihr in den Kopf schoss, dass sie hätte schreien wollen. Dann stand sie auf und ging in ihr Zimmer.

Der Vater rief ihr nach: »Wir sind noch nicht fertig!« Er lege Wert auf Manieren. Das hatte er bis vor kurzem an die zehn Mal am Tag gesagt. Und mit gespitzten Lippen hinzugefügt, das habe er von zu Hause vererbt bekommen, wie die dunkle Augenfarbe seiner Mutter. Und auf einmal, wie abgerissen, hatte er es nicht mehr gesagt. Woraus Vev schloss, dass er darauf aufmerksam gemacht worden war. Von wem?