Kathy Parks

Echt Mieser Zufall

oder
Wie ich einen Kuss wollte
und beinahe dabei draufging

Aus dem Amerikanischen
von Bea Reiter

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Kathy Parks lebt mit ihrem Ehemann und zwei Katzen am schönen Strand von Carpinteria, Kalifornien. Sie wuchs in Texas auf und studierte an der University of Houston. Als Kind wurde sie wortwörtlich mal mit dem Badewasser ausgeschüttet – ein Ereignis, das sie nachhaltig geprägt hat und das sie nun in ihrem ersten Jugendbuch, »Echt mieser Zufall«, endlich verarbeiten konnte.

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1. Auflage 2017
© 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Bea Reiter
Covergestaltung und -illustration: Felicitas Horstschäfer
Kapitelvignette: Shutterstock.com
ISBN 978-3-401-80660-0

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Für Michael,
meinen Mann, meine große Liebe

UNO

Kurz bevor Trevor Dunham ertrank, redete er ziemlich viel über sein bestes Stück.

Ich vermute mal, das ist völlig normal, wenn man gerade am Verdursten ist. Man benimmt sich wie ein Betrunkener. Nicht wie ein lustiger Betrunkener, sondern wie ein sterbender Betrunkener. Plötzlich sind sämtliche Bedürfnisse weg bis auf das Verlangen nach ganz gewöhnlichem kaltem Wasser.

Das geistige Niveau wird so lange heruntergeschraubt, bis nur noch der Teil des Gehirns funktioniert, der Pferde übers Meer galoppieren sieht, totalen Schwachsinn labert und einen betrunkenen, sterbenden Idioten aus einem macht.

Das Problem an dieser Theorie ist, dass Trevor Dunham schon immer viel über seinen Penis geredet hat, auch damals, als alles noch ganz normal war. Wenn er in der Schule durch die Gänge tigerte, wenn er in der Cafeteria sein Essenstablett holte, wenn er mit zwei Kugelschreibern auf der verzinkten Arbeitsplatte im Chemielabor herumtrommelte. Offenbar war dieses Körperteil so etwas wie die treibende Kraft in seinem Leben. Die Muse, die ihm den Weg wies. Der Kumpel, der ihm half, Mädchen aufzureißen. Der Hund, der seine Frisbees fing.

Trotzdem sorgte diese Sache mit dem Verdursten dafür, dass er einen Gang hochschaltete. Trevor hockte in sich zusammengesunken auf dem Drehstuhl des dahintreibenden Bootes, das wir entdeckt und von dem wir geglaubt hatten, es sei unsere Rettung, und beschrieb seinen Penis, dem er den Spitznamen Ranger Todd gegeben hatte. Bis ins allerletzte Detail. Ranger Todd hatte eine Lieblingsfarbe und eine Lieblingserinnerung an seine Kindheit. Ranger Todd erzählte Witze. Je mehr Trevor starb, desto mehr erwachte Ranger Todd zum Leben. Es war hoffnungslos, grauenhaft und ging mir gewaltig auf die Nerven.

Die einzige Lehre, die man aus diesem Trauerspiel ziehen konnte: Man sollte nie, aber auch wirklich nie Meerwasser trinken.

Ich kannte Trevor gar nicht so gut. Er war Drummer in einer Garagenband namens Death Stare und hatte den schlanken, sehnigen Körper eines Surfers, Dauerbräune und dichte blonde Haare, die so lang waren, dass er sie hin- und herwerfen konnte, wenn er mal nicht reden wollte. Und er gehörte zu den coolen Kids, die mich konsequent ignorierten – bis auf das eine Mal, als er plötzlich zu meinem Spind kam und sagte: »Na los, hau drauf! Hau auf meine Bauchmuskeln!« Er wiederholte es so lange, bis ich es wirklich tat. Ich schlug mit der Faust auf seine stählernen Bauchmuskeln und dachte, ich würde es scheppern hören.

Wir waren zu fünft auf dem Boot: Trevor, ich und ausgerechnet die drei Mädchen, mit denen ich nach einem verheerenden seismischen Ereignis nicht in einem Boot sitzen wollte. Sienna Martin, Kapitän der Fußballmannschaft und mit Abstand die größte Zicke der Avondale High School, dachte gerade, sie hätte einen Hubschrauber gesehen, und fuchtelte wild mit den Armen herum. Hayley Amherst machte es ihr nach, weil sie ihr aus Prinzip alles nachmachte.

Die beiden krächzten wie übergeschnappte Pelikane den leeren Himmel und einen Hubschrauber an, den nur Sienna sehen konnte.

»Hört auf damit. Großer Gott, da ist kein Hubschrauber«, sagte Abigail Kenner in ihrem schleppenden Ichhabe-drei-Jahre-in-Texas-gelebt-Tonfall. Abigail war diejenige von uns, die am meisten Schuld hatte an diesem Desaster. Nicht an dem großen – der Riesenwelle, die die Westküste getroffen hatte. Aber an dem kleineren Desaster, das aus diesem sanft auf den Wellen schaukelnden Boot bestand und der Aussicht darauf, es mit den anderen als Sarg zu teilen. Sie war diejenige, die diese dumme Party veranstaltet hatte, in einem Haus auf einem niedrigen Steilhang in Malibu, direkt am Meer.

Es war nicht einmal ihr Haus. Und ich war gar nicht eingeladen. Aber ich ging trotzdem hin.

Abigail war einmal meine beste Freundin gewesen. Doch dann hatte ich ihren großen Traum zerstört und ihr Leben ruiniert. Behauptete jedenfalls Abigail. Und deshalb hatte sie mir die Freundschaft gekündigt, sich mit den coolen Kids zusammengetan und alle in der Schule gegen mich aufgehetzt. Für etwas, das ganz allein ihre Schuld war.

Vielleicht hasste ich sie deshalb am meisten. Weil ich sie einmal wie eine Schwester geliebt hatte.

Eigentlich hätte sie ja gar nicht so beliebt sein sollen. Widerspenstige rote Haare, Sommersprossen, ein Gang wie ein Trampeltier, grauenhafte Klamotten, affektierter Texas-Akzent – trotzdem war sie es. Sie hatte gegen alle Wahrscheinlichkeiten das große Los gezogen. Sie erinnerte mich ständig daran, dass man es schaffen konnte – und dass ich es nicht geschafft hatte.

Zurück zu Trevor.

Wir wussten nicht so recht, was wir mit ihm oder seinem Freund Ranger Todd machen sollten. Uns ging es nämlich nicht viel besser. Wir starben auch. Und das auf die denkbar schlimmste Art und Weise: zusammen. Ein zusammengewürfelter Haufen aus vier coolen Kids und einer Ausgestoßenen, alle in einem Boot. Wir waren wie eine dieser gemischten Eissorten, die einfach nicht zusammengehen. Grapefruit Praline zum Beispiel.

Wobei sich Grapefruit Praline für mich gerade ganz toll anhörte.

Hayley flippte völlig aus. Sie weinte und flehte Trevor an, nicht zu sterben. Wir versuchten, Trevor dazu zu bringen, sich unter das kaputte Sonnendach zu setzen, damit er im Schatten war, aber er hockte einfach nur da, trommelte mit starrem Blick auf seinen Knien herum und sang ein Lied über Ranger Todd, das etwa so ging:

Ranger Todd, Ranger Todd
Go, boy
Go, boy
Go, boy
You’re so awesome
I love you
Ranger Todd

Es dürfte in etwa die gleiche Liga wie One Direction gewesen sein, aber als Totengesang genügte es wohl. Nachdem das ungefähr eine Stunde so gegangen war, machte sich Ranger Todd von Trevor los und fiel über Bord. Jedenfalls tat er das in Trevors meerwassergeschädigtem Gehirn. Er fing an, nach Ranger Todd zu rufen, mit trauriger, hoffnungsloser Stimme. Bevor ihn jemand aufhalten konnte, sprang er vom Boot und schwamm los. Er kam nur drei oder vier Meter weit, bevor er in den Wellen versank.

Es hatte so ausgesehen, als wäre er derjenige von uns, der vielleicht überleben würde. Aber das Schicksal war grausam, egal, ob man gerade dabei war, mitten auf dem Meer zu sterben, oder ob man einfach nur versuchte, die Highschool hinter sich zu bringen. Manchmal wurde man vom Schicksal geküsst. Manchmal zeigte es einem die kalte Schulter. Und manchmal brachte es einen Liebesbrief vorbei, der in Wahrheit nur eine Lüge war.

DOS

Ich bin Denver Reynolds, die Zerstörerin von Träumen, die Killerin von Freundschaften. Wenn ich in Wisconsin geblieben wäre, hätte ich möglicherweise etwas anderes sein können. Vielleicht Denver Reynolds, allgemein geduldetes Fast-Mauerblümchen. Oder sogar Denver Reynolds, Freundin eines einigermaßen gut aussehenden Jungen. Oder wenigstens Denver Reynolds, die nicht von allen als Verräterin bezeichnet wird.

Vor vier Jahren, als ich zwölf war, sind wir nach Los Angeles gezogen. Ich habe diese Stadt von Anfang an gehasst. Angeblich kann L.A. einen verwandeln und alles aus einem machen, was man sich je erträumt hat. Angeblich verleiht es einem jenes magische Funkeln, das zu riesigen Häusern und einer großen Fangemeinde führt. Doch die Wahrheit ist, dass L.A. einem an die Kehle geht, wenn man nicht höllisch aufpasst.

Als ich in der Nähe von Venice Beach das erste Mal ein Tsunami-Warnschild sah, hielt ich es zunächst für einen Scherz oder eine Art Werbung für ein Produkt, dessen Logo erst später unten rechts hinzugefügt würde. Aber dann wurde ich doch nachdenklich.

»Das hat nichts zu bedeuten«, sagte Abigail, die damals meine beste Freundin war, als ich ihr aufgeregt erzählte, was ich gesehen hatte.

»Nichts? Du kannst mich ja gern korrigieren, aber laut diesem Schild liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, dass irgendwann mal eine Riesenwelle kommt und wir alle ersaufen!«

Abigail stieß hörbar die Luft aus, was ihre Ponysträhnen zum Flattern brachte. Das war ihre Art, mir zu sagen, dass sie sich um so etwas Lächerliches keine Gedanken machen wollte. »Es liegt auch durchaus im Bereich des Möglichen, dass du demnächst von einer Ziege ins Gesicht getreten wirst. Oder von einem Wirbelsturm in die Luft gehoben und in Fresno wieder fallen gelassen wirst. Vielleicht taucht ja auch ein Asteroid aus dem Nichts auf und lässt nur noch einen schwarzen Fleck auf dem Zebrastreifen von dir übrig. In Texas könnte es dir passieren, dass du von einem Stier totgetrampelt wirst. Das ist mir alles so was von egal. Ich werde Fußballstar, egal, ob mich ein Stier oder eine Welle erwischt.«

Es ist Jahre her, seit ich dieses Schild gesehen habe, und ich hatte es schon fast vergessen. Andere Schilder waren an seine Stelle getreten. Unsichtbare Schilder, die manchmal auftauchten, wenn ich unter der Dusche stand oder zur Schule ging. Nachts, wenn ich mich schlaflos im Bett wälzte, waren die Schilder mit Neonfarbe geschrieben und leuchteten in der Dunkelheit.

DU HATTEST EINE EINZIGE FREUNDIN, ABER SIE WILL NICHTS MEHR MIT DIR ZU TUN HABEN. LOSER.

L.A. GEHT MIR SO WAS VON AM ARSCH VORBEI. UND DIE ELFTE KLASSE AUCH.

DER SCHÜLERMITVERWALTUNG IST ES SCHEISSEGAL OB DAS ESSEN IN DER CAFETERIA BESSER WIRD ODER OB DU LEBST ODER STIRBST. DAS SIND DOCH ALLES NUR MACHTBESESSENE TUSSIS UND VERHINDERTE ALPHADEPPEN DIE NUR DEINE STIMME WOLLEN MIT DER DU ABER ÜBERHAUPT NICHTS AUSRICHTEN KANNST WEIL DIE WAHL SOWIESO MANIPULIERT IST

Die Schilder wurden immer länger und hatten irgendwann keine Satzzeichen mehr. Aber es gab kein Schild, auf dem stand: PASS AUF DAS ERDBEBEN UND DEN TSUNAMI DANACH AUF. Dabei hätte ich es so gut gebrauchen können.

Der Morgen, an dem die große Welle kam, begann wie immer. Ich versuchte, durch den Unterricht zu schlafwandeln. Weil man das so macht. Man schlafwandelt. Man hat seine Rolle und seinen Platz und ein Zeichen auf der Stirn, das die soziale Stellung bestimmt. Man weiß ganz genau, wer mit einem redet, wenn man die Schule betritt. Und wer nicht. Man weiß, ob die Sportskanonen fies zu einem sein werden und ob einem irgendjemand außer dem Lehrer zuhören wird. Man weiß, ob man Jäger oder Beute ist. Man weiß, ob einen die anderen für klug oder lustig oder hübsch oder nerdig oder nervig oder cool halten. Oder ob sie einen für gar nichts halten, was eindeutig das Schlimmste ist. Alles ist fein säuberlich sortiert, wie eine Briefmarkensammlung.

Und ich war eine 3-Cent-Sondermarke mit einem total langweiligen Mond-Motiv, die es nicht wert war, gesammelt zu werden. Von meiner Sorte hätte man über fünfzehn Stück gebraucht, um auch nur einen ganz normalen Brief zu verschicken.

Wenn ich mich jetzt verbittert anhöre, liegt das daran, dass ich es war. Ich war eine verbitterte kleine Briefmarke, die nicht auf den Briefumschlag des Lebens durfte. Aber egal, was passierte, ich war fest entschlossen, die Highschool zu überleben. Ich, Denver Reynolds, würde überleben.

Mittags in der Cafeteria erlebte ich die erste Überraschung. Ich wurde von einem Blick getroffen. Ein unmissverständlicher Moment, der zu einer unmissverständlichen Nacht führte und dafür sorgte, dass ich zur falschen Zeit am absolut falschen Ort war.

In der Schule hatte ich kapituliert. Wenn jemand versuchte, mich zu verstehen oder zu mögen oder meine inneren Werte zu sehen, war mir das egal. Nachdem ich Abigail so plötzlich und spektakulär verloren hatte, wollte ich keine neuen Freundschaften mehr schließen. Ich war ein Vogel in einem Käfig und wartete auf den Tag der Abschlussfeier – den Tag, an dem sich die Käfigtür öffnen würde.

Aber in dem Moment gab mir der Blick Hoffnung.

In der Cafeteria unserer Schule war alles streng geordnet. Wenn man in Google Earth im Satelliten-Modus reinzoomen würde, würde man feststellen, dass die Schüler nach Tischen aufgeteilt waren. Es gab den Tisch mit den Nerds, den Tisch mit den Losern, den Tisch mit den Schülervertretern, den Tisch mit den strenggläubigen Christen, den Tisch mit den Leuten von der Theater-AG, den Tisch mit den Sportskanonen, den Tisch mit den aufstrebenden Kriminellen (an dem schmierig aussehende, zum Nachsitzen verdonnerte Ladendiebe und Feuerteufelchen bitterböse vor sich hin starrten) und mehrere nicht kategorisierte Tische, an denen ich mit einigen anderen Schülern saß, die in keine der genannten Gruppen passten und ihr Essen in Rekordzeit hinunterschlangen. Außerdem waren da noch ein halbes Dutzend Tische von aufsteigender sozialer Bedeutung, die zu dem geheiligten Tisch in der Mitte der Cafeteria führten, an dem die beliebtesten Schüler saßen.

An diesem Tisch war Platz für sechzehn, und diese sechzehn hatten die weißesten Zähne, die tollsten Haare, die schnellsten Autos und die besten Sixpacks der elften Klasse. Der Tisch glühte fast vor Verheißung. Wir, die wir nicht zu den sechzehn gehörten, konnten nicht anders: Wir mussten einfach ständig zu ihnen hinsehen. Und dort, genau im Zentrum dieses strahlenden Tisches, saß meine exbeste Freundin, Abigail Kenner. Sie saß mitten unter den coolen Kids, sie herrschte über sie, reichte Zettelchen herum, plante ihre bescheuerten Partys und lachte ihr wieherndes Lachen, das durch den Raum schallte und den Rest von uns daran erinnerte, dass sie dazugehörte und wir nicht.

In den Jahren, in denen wir beste Freundinnen gewesen waren, hatte ich dieses Lachen nie gehört. Es gehörte zu den Dingen, die sie sich erst in der elften Klasse angewöhnt hatte, zusammen mit der Planung von illegalen Partys. Das war nicht mehr die Abigail, die ich kannte und wie eine Schwester liebte. Das war jemand ganz anderes. Ihre störrischen roten Haare waren geglättet, und anscheinend benutzte sie so eine Art Camouflage-Make-up, um ihre Sommersprossen zu verdecken.

Die störrischen roten Haare fehlten mir. Und die Sommersprossen auch.

In der Mittelstufe hatte sie mir einmal ihren Zehn-Stufen-Plan gezeigt, mit dem sie in den Kreis der Beliebten, Reichen und Schönen aufsteigen und von ihnen akzeptiert werden wollte. Damals hatte sie behauptet, es sei nur so eine Art Übung, da ihr solche Leute sowieso egal seien und nur ihre zukünftige Karriere als Fußballstar zähle. Ich weiß noch, dass ich mir den Plan angesehen hatte, aber ich kann mich nur an einen der Schritte erinnern:

4. Behandle sie mit Verachtung.

Letzten Herbst musste ein magerer, stiller Junge, dessen Namen ich nie mitbekommen hatte und der sonst immer am Tisch der Loser saß, übergeschnappt sein, denn anstatt zu seinem Tisch zu gehen, marschierte er schnurstracks zu dem Tisch mit den coolen Kids, der sich langsam zu füllen begann. Er setzte sich dazu und dann erstarrte er einfach.

Ich habe keine Ahnung, was der Arme sich dabei gedacht hatte. Er musste die Unterrichtsstunde verpasst haben, in der man uns das Prinzip von Ursache und Wirkung erklärt hatte – Zu viel Sonne, und die Avocadopflanze lässt die Blätter hängen! Zu viele Elektrolyte, und die Pflanzenzelle übernimmt die Farm! –, und dachte wohl, er würde dazugehören, wenn er am Tisch der coolen Kids saß. Stattdessen war es genau andersherum. Vielleicht wollte er ja auch gegen diese bescheuerte Regel protestieren, nach der der Sitzplatz vom Grad der Beliebtheit abhing. Oder vielleicht war er die moderne Version des buddhistischen Mönchs, der sich mit Benzin übergossen und angezündet hatte.

Der buddhistische Mönch dürfte allerdings weniger gelitten haben.

Anfangs reagierten die Leute am Tisch überrascht und verwirrt. Wie ein Wolfsrudel, in das plötzlich Bambi hineinstolpert und mit großen Augen fragt: »Hallo, Leute, hat jemand von euch meine Mami gesehen?« Sie versuchten, ihn zu ignorieren, aber als es am Tisch immer voller wurde und eine wütende beliebte Person keinen Platz mehr fand, fingen einige von ihnen an, den Jungen anzustarren und miteinander zu flüstern.

Es war wie bei einem Zugunglück. Die Katastrophe war unvermeidlich. Und der Junge, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, war derjenige, der wie angewurzelt auf den Schienen saß und dem Zug entgegenstarrte.

Aber niemand von uns wusste, wie wir es verhindern sollten. Wir sahen einfach nur zu, wie das Drama seinen Lauf nahm. Der Junge saß da und rührte sich nicht. Ich weiß nicht, ob er tatsächlich Widerstand leisten wollte oder ob es daran lag, dass er sich einfach nicht bewegen konnte. Seine Hände hielten sein Tablett umklammert. Er starrte vor sich hin ins Leere und sagte kein Wort. Die Uhr tickte und das scheußliche Hühnchen auf unseren Tellern wurde langsam kalt.

Niemand wusste, was er sagen oder tun sollte, allerdings vermute ich, dass die meisten das Gleiche empfanden wie ich: die Hilflosigkeit des Zuschauers. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte den Jungen dort hingeschleppt, wo er hingehörte, damit wir alle so tun konnten, als wäre nichts passiert.

Aber ich rührte mich nicht vom Fleck. Und die anderen auch nicht.

Schließlich standen die coolen Kids auf und gingen zu dem Tisch, an dem die Teilnehmer der Theater-AG saßen. Sie stießen sie von ihren Stühlen und nahmen den Tisch in Beschlag, sodass der arme namenlose Junge ganz allein am Tisch der coolen Kids saß – mit Ausnahme von Audrey Curtis, der Heiligen.

Eigentlich hätte Audrey ja an den Tisch mit den Christen gehört, aber wegen ihrer großen Schönheit, ihrer Anmut und ihrer phänomenalen Leistungen als Cheerleaderin durfte sie sich unter die beliebten Schüler mischen. An jenem Tag entschied Audrey sich, den anderen nicht zu folgen. Stattdessen schob sie ihr Tablett zu dem Jungen hinüber und setzte sich neben ihn.

Vielleicht war es ihre freundliche Geste, die ihm den Rest gab, oder die Tatsache, dass jeder wusste, dass Audrey eine Heilige war, und er sich plötzlich wie ein Leprakranker fühlte, jetzt, da Mutter Teresa so dicht neben ihm saß und ihrem Brathühnchen behutsam die Haut abzog. Jedenfalls sprang er plötzlich auf, stürmte aus der Cafeteria und ward nie wieder gesehen.

Irgendwann hörten wir, dass er an eine andere Schule versetzt worden war. Und wenn ich den goldenen Tisch anstarrte, der wie eine Fata Morgana in der Wüste schimmerte, konnte ich mich problemlos in den armen, namenlosen Jungen hineinversetzen, der in den Wahnsinn getrieben worden war von dem Gedanken, er könnte einer der Auserwählten sein.

Audrey, die Heilige, wurde später übrigens von einem Klavier erschlagen.

Aber jetzt schweife ich ab.

Wo war ich? Ach ja – bei dem Moment, in dem sich mein Leben änderte. Der Moment, in dem ich dachte, dass in diesen düsteren Hallen doch noch etwas Besseres auf mich wartete.

Falsch gedacht.

Es war nur ein Streich, den mir das Schicksal spielte, damit es sich auf meine Kosten ein bisschen amüsieren konnte. So war es, das liebe Schicksal. Es hielt sich an keine Regeln. Und es hatte einen ziemlich schrägen Sinn für Humor.

Das Schicksal schickte mir Croix Monroe.

Natürlich war Croix ein Football-Star. Außerdem sang er im Chor. Und er spielte Theater. Aber anders, als man denken könnte, entsprach er nicht dem Stereotyp einer geistig minderbemittelten Sportskanone, er war nicht schwul und er hatte auch noch andere Interessen als Theater. Er war einfach nur er. Und er war attraktiv, aber auf eine ganz neue, seltsame Art, die gegen das Klischee »attraktiv« verstieß, mit einem grünen und einem blauen Auge und einer Vorliebe für Vintage-Hemden und indische Armreifen. Einmal trug er eine Woche lang eine Feder im Haar, einfach so, aus keinem bestimmten Grund. Doch er kam damit durch. Er war eben Croix.

Croix war nett zu mir. Er sagte Hallo. Wie der neue Papst sorgte er dafür, dass Göttlichkeit greifbar wurde. Letztes Jahr hatte ich Mathe mit ihm zusammen, und er war das, was herauskommt, wenn man x und y zusammenzählt. Alle wussten es. Sogar der Lehrer. Einmal fragte er mich nach den Hausaufgaben … welche Seiten sollten wir noch mal lesen? Als ich die Seitenzahlen wiederholte, hörte er mir zu, er hörte mir tatsächlich zu und lächelte sein umwerfendes Lächeln. Ich weiß, das ist nicht viel, aber es reichte, damit ich noch mehr von ihm schwärmte.

Dieses Jahr hatten wir zusammen Spanisch. Die hinterhältigen Verben und Substantive, die sich aus keinem ersichtlichen Grund veränderten und mich schwören ließen, niemals nach Acapulco zu fliegen und unter gar keinen Umständen eine dieser bescheuerten Kreuzfahrten zu machen, bei denen man billigen Tequila säuft und dann ins Meer kotzt, verwandelten sich in seinem Mund plötzlich zu Gold. Er hatte eine Aussprache wie ein Einheimischer. Ein gottgleicher Einheimischer. Und jedes Mädchen in meiner Klasse, alle, aber auch wirklich alle – die Streberinnen, die arroganten Tussis, die Schlampen mit den bauchfreien Tops und die stillen, schüchternen Mädchen – stellten sich vor, wie er nackt am Strand lag, angeschwemmt von einer Riesenwelle, und nach etwas zu trinken fragte in einer Sprache, die wir kaum verstanden, aber plötzlich heiß und innig liebten.

Bei seinen RRRRRs lief mir ein Schauer über den Rücken.

Am liebsten hätte ich sie gestreichelt.

Croix saß natürlich am Tisch mit den coolen Kids. Und an jenem schicksalsschweren Tag, als ich auf einen der Tische für diejenigen, die nirgends dazugehörten, zusteuerte, ein Tablett mit den Gräueltaten der Cafeteria-Köche in den Händen, drehte sich Croix um und lächelte mich an.

Es war kein höfliches Lächeln. Es war das Lächeln, auf das ein einsames Mädchen wartet.

Ich wurde steif wie ein Brett. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde das Verfallsdatum des Eintopfs auf meinem Teller unwichtiger. Das konnte einfach nicht wahr sein. Er war Croix, und ich war ich. Ich warf einen Blick hinter mich und sah wieder zu ihm. Er lächelte immer noch. Ich ging zu meinem Tisch, stellte mein Tablett ab und aß nicht. Mein Gesicht war knallrot. Mein Herz raste.

Und irgendwo weit draußen vor der Küste von Los Angeles, tief unten, wo die Krabben herumwuseln, nein, noch weiter unten, wo die Platten rumoren und sich bewegen, verschob sich etwas. Irgendetwas löste den Vorgang aus, der später zu einem Unterwasserbeben führen und die Riesenwelle verursachen sollte, die das Leben einiger Anwesender gründlich verändern – oder beenden – würde.

Aber zu dem Zeitpunkt wusste ich das natürlich nicht. Von einem Augenblick zum anderen hatte sich mein Lebensziel verändert. Die Schule zu überleben, war nicht mehr das Einzige, was ich wollte. Vielleicht ließ sich doch noch etwas aus dieser erbärmlichen Highschool-Zeit machen. Vielleicht wurde ich bald zu allen coolen Partys eingeladen. Wurde respektiert, beachtet. Vielleicht konnte ich mich von Croix’ perfektem Hintern abstoßen und in eine Stratosphäre katapultieren lassen, die ich bis jetzt immer für unerreichbar gehalten hatte.

Ich weiß. All das wegen eines einzigen Blickes.

Aber in diesem Moment schien mein Leben tatsächlich besser zu werden. Viel, viel besser. Bevor es dann in Wirklichkeit viel, viel schlimmer wurde. Oder um es in Zahlen auszudrücken: viel schlimmer im Quadrat.

TRES

Das erste Erdbeben ereignete sich während des Spanischunterrichts.

Für alle außer mir war ein normales kalifornisches Erdbeben so etwas Ähnliches wie ein kleiner Adrenalinstoß. Als würde man einen Promi auf der Straße sehen oder sich eine Handvoll M&Ms auf einmal in den Mund stopfen oder feststellen, dass das Selfie auf Instagram gerade von zehn Leuten geliked wurde. Es war eine kleine, willkommene Ruhepause von einem Tag, der so ziemlich genauso ausgesehen hatte wie jeder andere Tag, da es in Kalifornien keine Jahreszeiten gibt.

Aber ich war aus Wisconsin, wo sich nie etwas bewegte, schon gar nicht der Boden, und ich hatte echt Schiss vor Erdbeben. Vier Jahre in L.A. hatten nicht geholfen, diese Angst zu verringern.

Als die Erde zum ersten Mal zitterte, starrte ich gerade auf Croix’ Hinterkopf und überlegte, ob sein vielsagender Blick in der Cafeteria so etwas wie ein grausamer Zufall gewesen war. Vielleicht hatte er ja einfach nur so vor sich hin ins Leere gestarrt, und ich war so eine Art Fixpunkt gewesen, an dem sein Blick hängen blieb. Und gelächelt hatte er, weil er mit offenen Augen geträumt oder an ein Mädchen gedacht hatte, das nicht so flach wie ein Bügelbrett war.

Mrs Paltos, unsere Spanischlehrerin, erklärte gerade, dass la mano eine Kombination aus einem weiblichen Artikel und einem männlichen Substantiv sei und deshalb etwas ganz Besonderes. Dann begann der Boden unter unseren Füßen zu beben. Ein heftiges Zittern ging durch unsere Pulte, das große Fenster, das auf die Palmen und den Trompetenbaum hinausging, wurde durchgerüttelt, und die Lampen schaukelten ein bisschen hin und her. Die Klasse machte Ooooooh. Mrs Paltos stoppte die Bewegung ihres Stifts auf dem Smartboard und wartete gelassen darauf, dass die Außenkruste der Erde aufhörte, sich in den Vordergrund zu spielen.

Ich dagegen war starr vor Angst. Meine Finger krallten sich in die Tischplatte meines Pultes, mein Herz raste wie wild.

»Erdbeben!«, konnte ich gerade noch stammeln, dann erwachte ich wieder zum Leben und hechtete unter mein Pult, wo ich umgeben von Beinen in Skinny Jeans und überteuerten Schuhen kauerte.

Ich hörte Gelächter. Das Beben hörte auf, aber das Gelächter hielt an. Ich war nicht länger unsichtbar. Ich war jetzt der Klassenclown. Aber das war mir egal. Meine Hände hielten die Stuhlbeine umklammert. Die Erde hatte mein Vertrauen in sie enttäuscht, und ich wollte kein Risiko eingehen.

Mrs Paltos kam zu mir. Ich wusste, dass sie es war, weil sie altmodische Schuhe trug und ihr Kleid zu lang war. Außerdem hatte niemand, der noch zur Schule ging, solche Krampfadern. Sie ging in die Hocke.

»¿Que paso?«, wollte sie mit übertrieben deutlicher Aussprache wissen. Eindeutig meine Spanischlehrerin.

»Erdbeben«, verkündete ich, weil sie anscheinend so dumm war, dass man es ihr genau erklären musste.

Als sie den Kopf schüttelte, wurde mir klar, dass ich gegen ihre Im-Spanischunterricht-wird-kein-Englischgesprochen-Regel verstoßen hatte.

»¡Solamente español!«

»Erdbebo«, stammelte ich.

Sie runzelte die Stirn. »¡Levántate!«

Doch mein Körper hatte absolut keine Lust auf levántate. Eigentlich hatte er zu überhaupt nichts Lust. Er wollte bleiben, wo er gerade war, und dachte gar nicht daran, mit Zittern aufzuhören.

»¡Levántate!«

Die Klasse hatte aufgehört, über mich zu lachen, und spitzte die Ohren. Hier geschah gerade etwas Interessantes – offener Ungehorsam gegenüber einem Lehrer. Plötzlich war Mrs Paltos weg, und Croix – ausgerechnet Croix – nahm ihren Platz ein. Er trug Jeans und ein Billabong-Hemd und sah aus der Nähe noch umwerfender aus. Seine Haare waren genau in der richtigen Länge geschnitten. Seine sonderbaren Augen funkelten, und sein Aftershave brachte meine Seele dazu, sich Nasenlöcher zu wünschen.

»Hey«, sagte er. »Alles in Ordnung. Nur ein kleines Beben.«

Ich war so schockiert, dass ich die Stuhlbeine losließ.

»Gut so«, sagte er mit einem Nicken. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Aber du hast schon recht. Man sollte immer auf das Schlimmste gefasst sein.«

Völlig benommen kroch ich unter meinem Pult hervor und setzte mich wieder hin, während mein Herz noch immer wie wild klopfte. Was allerdings nicht mehr an dem Erdbeben lag, sondern an dem Sonnengott vor mir. Croix hob den Daumen und ging wieder zu seinem Platz. Das war alles. Das Drama war vorbei. Mrs Paltos setzte den Spanischunterricht fort, was genau das ist, was in Überlebenshandbüchern nach einem Erdbeben empfohlen wird.

Abigail drehte sich um, sah mich kurz an und widmete sich wieder ihren Notizen.

Genau. Abigail war auch in meiner Spanischklasse. Und jetzt fragt sich bestimmt jeder, ob sie mich überhaupt zur Kenntnis nahm, da sie ja schließlich meine exbeste Freundin war und so. Ja, tat sie. Manchmal sah sie mich an und wandte dann gleich wieder den Blick ab. Das war’s.

Sie gab die Partys, zu denen Leute wie ich nicht eingeladen wurden. Die Partys fanden natürlich nicht bei ihr zu Hause statt. Ihre Spezialität bestand darin, in die Häuser anderer Leute einzubrechen und dort zu feiern. Bei Leuten, die übers Wochenende verreist waren, oder in einem Haus, das leer stand, weil ein Makler seit Monaten versuchte, es für zwei Millionen Dollar über Wert zu verkaufen.

Nach der Party, wenn das Haus verwüstet war, ging sie einfach. Die Polizei tauchte nie auf. Abigail wurde nie erwischt. Gerüchten zufolge war ihr Vater mit einem hohen Tier im Büro des Staatsanwalts befreundet, der die Polizei bremste. Jedenfalls wurde das behauptet. Wenn man gute Verbindungen hatte, bekam man in L.A. alles: die Finanzierung für ein Drehbuch, eine Ausrede, mit der man sich um seine Geschworenenpflicht drücken konnte, oder das Haus von jemand anderem, damit man es zum Spaß ruinieren konnte.

Und allem Anschein nach war Abigail von dem kleinen Erdbeben auf die Idee gebracht worden, wieder eine dieser Partys zu geben, denn jetzt setzte sie sich aufrecht hin, drehte sich um und flüsterte dieser dürren Zicke Sienna Martin etwas zu. Sienna sagte etwas, so laut, dass es zwei der Nullen aufhorchen ließ und wohlbehalten im Ohr von Madison Cutler landete. Sie war angehende Alkoholikerin, die sich vermutlich jedes Mal den Finger in den Mund steckte, wenn sie etwas gegessen hatte, mit Sicherheit Silikonbrüste hatte und natürlich voll cool war. Angesichts der zu erwartenden Tequila-Shots verzogen sich ihre Lippen zu einem freudigen Lächeln, und dann gab sie die Nachricht an die nächste coole Person weiter, die sich nach hinten lehnte und sie Croix zuflüsterte. Er nickte höflich, schrieb aber immer noch mit.

Woher wusste ich, dass eine Party geplant war, obwohl die frohe Kunde nie bis zu mir drang? Ich wusste es einfach. Leute, die nie zu Partys eingeladen werden, entwickeln eine Art sechsten Sinn dafür. Sofort danach kam es bei mir zu einer Art Sekundärreaktion aus Herzschmerzen und einem flauen Gefühl im Magen, das aus Eifersucht und heißem Verlangen bestand und dem, was die Klippenspringer von Acapulco tristeza nennen, wenn sie danebenhechten und auf den Felsen unten aufschlagen.

Und warum wollte ich zu einer Party eingeladen werden, auf der Leute, die ich für Arschlöcher hielt, ein seismisches Ereignis feierten, das es hinsichtlich seiner Besonderheit nur zu einem C-Promi gebracht hätte? Ich weiß es nicht. Es musste irgendwo im Gehirn fest verdrahtet sein. Ein zutiefst menschliches Bedürfnis, der Wunsch dazuzugehören. Aber was sollte ich tun? Die Hand heben und, wenn Mrs Paltos mich drannahm, stattdessen in Richtung Abigail brüllen: »Hey, brauchst du noch ein paar Außenseiter bei diesem tollen Ereignis? Ihr könntet die Drinks auf meinem Kopf abstellen.«

Das tat ich natürlich nicht. Ich wollte Abigail nicht die Befriedigung verschaffen und sie wissen lassen, dass ich gern dabei gewesen wäre. Ich fragte mich, ob sie diese Partys gab, um mich zu bestrafen. Als wäre ich nicht schon gestraft genug.

Als es zur Pause läutete, kam ich in dem Gedränge an der Tür natürlich ausgerechnet neben Croix zum Stehen.

»Alles okay?«, fragte er lächelnd.

Ich wurde rot. »Oh, du meinst das kleine Erdbeben? Das habe ich kaum gespürt.«

»Mach dir deshalb keine Gedanken. Du bist vermutlich viel klüger als der Rest von uns.«

»Wenigstens hat es für Abwechslung im Unterricht gesorgt. Und ich werde mich für den Rest meines Lebens daran erinnern, wie Mrs Paltos mich zwingen wollte, Erdbeben auf Spanisch zu sagen. Sie ist wirklich entschlossen, Umgangsspanisch zu einem festen Bestandteil unseres Alltags zu machen.«

Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass wir beobachtet wurden. Wahrscheinlich fragten sich jetzt alle, was es mit dieser ausgesprochen seltenen Loser-Sunnyboy-Paarung auf sich hatte.

»Aber einige von ihren Beispielsätzen sind doch völlig daneben«, meinte er. »Was sollen wir damit anfangen? Mi amiga está en la playa. Wann sollte ich so etwas je brauchen?«

Sich mit Croix zu unterhalten, war überraschend einfach. Es geschah tatsächlich. Wir führten ein Gespräch, und es war überhaupt nicht peinlich, und ich hatte mich auch nicht übergeben müssen oder gebrüllt: ICH REDE MIT CROIX MONROE, UND WENN JETZT EINE SCHWARZE MAMBA VOM HIMMEL FALLEN UND MICH IN DEN HALS BEISSEN WÜRDE, WÜRDE ICH DAS GEGENGIFT ABLEHNEN, DAMIT ICH GLÜCKLICH STERBEN KANN!

»Ich bin ja der Meinung, wir sollten alles nur Mögliche lernen, denn irgendwann wird irgendetwas davon wichtig sein«, sagte ich. »Wir wissen nur nicht, was es sein wird. Und ja, eines Tages wirst du vielleicht jemandem, der kein Englisch spricht, sagen müssen, dass deine Freundin am Strand ist. Und wenn diese des Englischen nicht mächtige Person zufällig ein Paparazzo ist, könntest du sagen: ›La Kardashian está en la playa.‹«

Er lachte. »Du bist Denver, stimmt’s?«, fragte er.

Er kannte meinen Namen. JETZT MACHT EUCH SCHON AUF DEN WEG ZU MEINER HALSVENE, IHR SCHWARZE-MAMBA-GIFTZÄHNE!

»Ja.«

»Ich heiße Croix.«

»Ich weiß.«

»Kommst du heute Abend auch auf die Party, Denver?«

Und genau das machte ihn zu etwas Besonderem. Dieser unbedingte oder perfekt gespielte Glaube daran, dass man ein unbedeutendes Mädchen wie mich zu einer von Abigails illegalen Partys einladen würde.

»Ja, klar«, hörte ich mich antworten. So lässig, als wäre es wahr.

»Super. Ich auch. Wir müssen doch das Erdbeben feiern, stimmt’s?«

»Genau.«

Und in dem Moment passierte etwas Monumentales in mir. Denn ich beschloss, dass ich, die zum Club der Unsichtbaren gehörte, zu der Party gehen würde, zu der ich nicht eingeladen war. Und auf dieser Party würde ich mit Croix Monroe reden und meinen absolut unwahrscheinlichen Flirt mit ihm fortsetzen.

Den Rest des Tages rumorte ein Erdbeben namens Croix in meinem Kopf herum, das mir einfach keine Ruhe ließ. Ich fragte mich, was ich anziehen sollte, wie ich zu der Party kommen sollte und welche Lüge ich meiner Mutter erzählen würde. Letztes Jahr hatte ich mich einmal in mächtige Schwierigkeiten gebracht, und sie vertraute mir immer noch nicht, obwohl es – wieder einmal – gar nicht meine Schuld gewesen war. Ich wusste nicht, ob die coolen Kids ihre Eltern anlügen mussten oder ob ihre Eltern sie dumme und illegale Sachen machen ließen, weil ihre Eltern genauso cool waren wie sie oder sich nicht um sie kümmerten oder high waren. Jedenfalls war ich mit einer Mutter geschlagen, die ausgesprochen uncool war, sich sehr um mich kümmerte und nicht kiffte. Außerdem war sie auch noch ziemlich intelligent.

Meine einzige Möglichkeit war, mich aus dem Haus zu schleichen. Leichter gesagt als getan, denn meine Mutter war eine Nachteule. Ich beschloss, aus dem Fenster meines Zimmers zu klettern und mich nach unten in die Büsche fallen zu lassen. Diesen Plan erklärte ich nach der Schule meinem Kater, Sonny Boy, dem ich alles erzählen konnte, weil ihm sowieso alles am Arsch vorbeiging. Ob es mir gelang, aus dem Haus zu kommen und auf die wichtigste Party meines Lebens zu gehen, oder ob ich den Löffel abgab. Ihm war alles völlig egal.

Ich hatte mir angewöhnt, mit Sonny Boy zu reden und mir selbst zu antworten, mit einer hohen, schrillen Stimme, die Sonny Boy sein sollte, der sich mit mir unterhielt. Eine Gewohnheit, die ich sehr empfehlen kann für den Fall, dass man von einem Tag auf den anderen plötzlich keine Freunde mehr hat.

ICH: Sonny Boy, rate mal, was ich vorhabe.
SB (hohe Stimme): Mir doch egal.
ICH: Ich schleiche mich heute Abend aus dem Haus.
SB (hohe Stimme). Ich glaube, an meinem Hintern klebt noch ein bisschen Katzenstreu. Kannst du mal nachsehen?
ICH: Ich bin von einem Traumtypen namens Croix zu einer Party eingeladen worden. Das könnte alles ändern.

Sonny Boy starrte mich mit seinen goldenen Augen an, dann leckte er sich die Pfotenballen und glättete das glänzende Fell an seinem kleinen, gleichgültigen Kopf.

Unser Gespräch war vorbei.

Ich wartete bis zehn Uhr, dann ging ich nach unten, wo meine Mutter ein Buch des Selbsthilfe-Gurus Robert Pathway las, während im Fernsehen irgendjemand einen Wissenschaftler des Caltech zu dem Erdbeben vom Nachmittag interviewte. Der Wissenschaftler deutete auf eine Tabelle und schien überhaupt nicht beunruhigt zu sein. Niemand war beunruhigt, denn es war nicht das berühmtberüchtigte Killerbeben gewesen, das irgendwann einmal kommen musste. Stattdessen waren die Wissenschaftler und alle anderen wegen ganz alltäglicher Sachen beunruhigt, zum Beispiel: Bringt es einen um, wenn man seine Antibiotika nicht zu Ende nimmt, oder geht der Welt das Helium aus, oder wird sich deine Teenie-Tochter wegen einer verzweifelten, wahnhaften Liebe aus dem Haus schleichen, um auf eine illegale Party zu gehen?

Meine Mutter war eher der robuste Typ, oder vielleicht einfach nur der Typ, der sich nicht gern mit Details abgibt. Sie hatte ziemlich lange braune Haare, die irgendwie nie richtig gekämmt aussahen. Ihre Augenbrauen waren immer zu buschig, weil sie so lange vergaß, sie zu zupfen, bis es irgendwann so viel Arbeit gewesen wäre, dass sie einfach sagte: »Zur Hölle damit!«

Ihre Klamotten hatten ganz sicher noch nie einer dieser Mode-Farbkarten entsprochen, und für mich war ihr Aussehen eine Wohltat in einer Stadt voller Blender. Mein Vater war früher vermutlich derselben Meinung gewesen.

»Hallo, Mom«, sagte ich. Ich beugte mich zu ihr, um sie zu umarmen, und sie legte kurz den Arm um mich.

»Wie geht’s dir?«

»Gut.«

»Morgen wird es dir sogar noch besser gehen.« Seit der Scheidung las sie Robert Pathway und erlaubte kein negatives Gespräch im Haus. Was ganz in Ordnung war, weil das unsere Konversation auf ein Minimum beschränkte.

»Okay, Mom. Wenn du meinst.«

»Hast du das Erdbeben heute gespürt?«

»Ja. Ich habe mich unter meinem Pult versteckt, und dann haben mich alle ausgelacht.«

»Vielleicht war das ja eine kluge Entscheidung.«

»Ich bin mir wie ein Genie vorgekommen.«

»Dieses Erdbeben könnte auch so etwas wie ein Geschenk gewesen sein«, fuhr sie fort. »Du solltest immer nach Geschenken suchen, selbst wenn es so aussieht, als wäre alles …«

Ihre Stimme verlor sich. Der Ausdruck in ihren Augen sagte mir, dass sie sich jetzt am liebsten eine Decke über den Kopf gezogen und auf ein besseres Gefühl gewartet hätte. Sie hatte schon eine ganze Weile keine Geschenke mehr bekommen, das wussten wir beide. Manchmal haben Töchter das Gefühl, sie müssten ihre Mütter trösten, und so ging es mir gerade. Ich wollte ihr über den Arm streichen oder ihre Schultern reiben oder sie auf diese merkwürdige Art umarmen, die dabei herauskommt, wenn einer steht und der andere sitzt. Aber das hätte die Lüge zerstört, die sie zum Weitermachen brauchte: dass die Umstände keine Rolle spielten, dass man durch die richtigen Gedanken oder die richtigen Worte alles bewältigen konnte und dass es ihr mit jedem Tag besser ging.

Daher begnügte ich mich mit einem »Ich gehe jetzt ins Bett« und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Ich verzog mich wieder nach oben und suchte mein allerbestes Outfit heraus. Dann schminkte ich mich sehr sorgfältig, wobei mir natürlich der Eyeliner danebenging und ich noch einmal von vorn anfangen musste. Selbstgespräche verbot ich mir, denn sonst hätte ich bestimmt versucht, mir diesen verrückten Plan auszureden. Ich war mir ganz sicher, dass ich es durchziehen würde. Klar tat es mir leid, mich an meiner Mutter vorbei aus dem Haus zu schleichen, aber nicht leid genug, um einfach ins Bett zu gehen und beim Aufwachen mit dem gleichen trostlosen Leben wie jeden Tag konfrontiert zu werden.

Sonny Boy sah mir teilnahmslos bei meinen Vorbereitungen zu. Wenn Sonny Boy ein Mensch gewesen wäre, hätte er in der Cafeteria am Tisch der coolen Kids gesessen, denn er war schön und selbstbewusst und ein Vollidiot. Er hätte mich auf dem Gang ignoriert und die Herzen sämtlicher Cheerleaderinnen gebrochen, die sich von seinem seidig glänzenden Fell und seinem Schnurren blenden ließen.

ICH: Warum starrst du mich so an, Sonny Boy?
SB (hohe Stimme): Weil du ein Vollpfosten bist, der noch nie einen Schminkkurs auf YouTube gesehen hat.
ICH: Ich glaube, ich werde jetzt echt nervös, weil es so furchtbar anstrengend ist, wenn ich so tue, als würde ich mit deiner Stimme sprechen.
SB (hohe Stimme): Kann ich dann mit den Schmetterlingen in deinem Bauch spielen?

Irgendwann war ich dann fertig. Ich warf einen Blick in den Spiegel. Ich sah gut aus. Mehr ließ sich nicht aus mir machen. Meine braunen Haare hatten zwar keine auffallende Farbe, aber heute Abend eine Extraportion Glanz. Ich besaß das, was man als feine Gesichtszüge bezeichnen würde, mit einer Kinnpartie, die ganz in Ordnung war, und Augenbrauen, die ich nicht zu zupfen brauchte, weil sie sich seit meiner Geburt sehr ordentlich benahmen. Und meine Nase hatte genau die richtige Form und Größe – zumindest war das früher so gewesen, bis zu dem Tag, an dem Abigail mir mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte. Seitdem kam mir eines meiner Nasenlöcher irgendwie verformt vor. Was wahrscheinlich daran lag, dass ich mir das einbildete – es war einfach nur Teil der traumatischen Erinnerung.

Und was ließ mich glauben, dass ich einfach so auf der Party meiner Erzfeindin auftauchen konnte, ohne auf der Stelle von ihr hinausgeworfen zu werden? Ich hatte keine Ahnung. Trotzdem ergriff ich meine Chance. Ich öffnete das Fenster, kletterte leise hinaus und warf mich nach unten in ein paar Büsche. Und schon war ich frei. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mich von dem Grünzeug befreit, die Blätter aus meinen Haaren gezupft und nachgesehen hatte, ob die Zweige Löcher in meine Klamotten gerissen hatten. Sonny Boy, dessen Augen im Mondlicht schimmerten, starrte aus dem Fenster auf mich herab. Wenn er gekonnt hätte, dann hätte er jetzt sein Katzenklo zum Fenster gezerrt und den Inhalt auf meinen frisch geföhnten Kopf gekippt. So ein Kater war er.

Ich schlich zur Garage, öffnete so leise wie möglich das Tor und ließ den Subaru meiner Mutter an – mit dem Ersatzschlüssel, den ich mir heimlich besorgt hatte, als ich nach Hause kam.

Inzwischen dürfte allen klar sein, was für ein schrecklicher Mensch ich bin.

Ich fuhr nach Westen zum Pacific Coast Highway. Eine Fensterscheibe im hinteren Teil des Autos hatte so eine Art Kurzschluss und ging nicht mehr ganz zu. Meine Mutter hatte es eigentlich reparieren lassen wollen, aber dann hatte sie das dafür vorgesehene Geld für ein Seminar von Robert Pathway ausgegeben. Und jetzt pfiff der Wind durch den Spalt und verursachte ein klagendes, enttäuschtes Geräusch, während ich verbotenerweise nach Malibu fuhr.

Ich ließ das Fenster auf meiner Seite herunter, damit ich den leichten Wind vom Meer spüren konnte. Das Wasser war ruhig und spiegelglatt. Ich kam am Sunset Boulevard, Topanga und jeder Menge Maklerbüros, Fischrestaurants und Surfshops vorbei, bevor ich schließlich Malibu erreichte. Es war zum Meer hin von schmalen, dicht nebeneinandergebauten Holzhäusern gesäumt, deren Eigentümer bei Ebbe durch die Hintertür auf den handtuchbreiten Sandstrand spazieren konnten.

Die Nacht war ausgesprochen klar, und über mir schimmerten die Sterne. Der Mond war zu drei Vierteln voll. Ich hatte die Adresse der Party dadurch in Erfahrung gebracht, dass ich mich vor dem Sportunterricht im Umkleideraum eine Weile in der Nähe der beliebten Mädchen herumgedrückt und das Haus dann bei Google gesucht hatte. Laut einer Immobilien-Website wurde die Villa, die Abigail mit ihrer Anwesenheit beehren wollte, seit elf Monaten für schlappe 2,4 Millionen Dollar zum Verkauf angeboten – genug, um ein paar Dutzend Angelgeschäfte in South Carolina zu kaufen, aber nicht genug, um auf dem Immobilienmarkt in Kalifornien für Aufsehen zu sorgen.

Ich war ein ziemlicher Immobilien-Freak. Was nicht nur daran lag, dass meine Mutter in einem Maklerbüro arbeitete. Einsame Menschen brauchen ein Hobby, und ich hatte mir eben Immobilien ausgesucht. Und zwei andere Hobbys: im Fernsehen Discovery Channel sehen und ganz allein zu Just Dance 4 auf meiner Wii zu grooven, mit Bewegungen, die so ähnlich aussahen wie die einer Giraffe, die in einem Fass voll Gelatine herumzappelt.