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Friederike Schmöe

Dohlenhatz

Katinka Palfys 11. Fall

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Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Von Zimtsternen und Zimtzicken (Hrsg., 2016), Die viel zu lange Lüge (E-Book Only, 2016), Die Bernsteinburg (E-Book Only, 2016), Stille Nacht, grausige Nacht (2015), Kirchweihleichen (2015), Zuträger (2015), Ein Toter, der nicht sterben darf (2014), Wer mordet schon in Franken (2014), Schaurige Weihnacht überall (2013), Du bist fort und ich lebe (2013), Still und starr ruht der Tod (2012), Rosenfolter (2012), Oberfranken (2012), Wasdunkelbleibt (2011), Wernievergibt (2011), Süßer der Punsch nie tötet (2010), Wieweitdugehst (2010), Bisduvergisst (2010), Fliehganzleis (2009), Schweigfeinstill (2009), Spinnefeind (2008), Pfeilgift (2008), Januskopf (2007), Schockstarre (2007), Käfersterben (2006), Fratzenmond (2006), Kirchweihmord (2005), Maskenspiel (2005)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Pecold / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5338-0

Zitat

Der Schwache kann nie vergeben. Vergebung ist ein Merkmal der Starken.

Mahatma Gandhi

Prolog 

29.12.1989

Es scheint alles möglich! Seit vier Tagen! Vier Tage ohne Regeln!

Am 25. Dezember haben sie die Mauer für die Westler eingerissen. Endlich dürfen die BRDler auch reisen. Nur den Pass vorzeigen und rübermachen, in umgekehrter Richtung! Davon hat er geträumt, sein Leben lang. Und gerade jetzt, wo er studiert, Gefallen findet an den verrücktesten Zukunftsplänen, machen sie die Grenze auf. Das verspricht Geschäfte. Alles ordnet sich von selbst!

Am Straßenrand bieten die Thüringer Begrüßungsbratwurst für BRD-Bürger an. Reichen Weihnachtsschmuck ins Auto. Man redet kurz, ist sich fremd, der Dialekt aber kommt ihm ähnlich vor wie drüben im nördlichen Oberfranken. Das sind ja nur wenige Kilometer, du liebe Zeit! In der Euphorie schwingt die Angst. Es ist noch zu ungewohnt, einfach in den Osten zu fahren. Das dunkle Land hinter dem Zaun.

Er macht sich nichts aus Weihnachtsschmuck, und der kommt auch ein bisschen spät, aber egal, alles ist neu, alles anders, und haben sie hier nicht von alters her so eine Christbaumkugeltradition? Scheiß drauf. Er ist im Land hinter der Grenze, er fährt, er tritt aufs Gas!

Wie gern wäre er jetzt allein. Der Schnee drückt harsch auf die Äste der Bäume, in den tiefen Talfalten versickert das Licht, im Schein des Abblendlichts wirkt die gebirgige Landschaft wie eine unterbelichtete Fotografie. Graue Schemen, die Straße, die Bäume. Weiße Flecken, der Schnee. Dörfer. Städtchen. Berge, ein Schneepflug im Straßengraben, auch nicht im Sinne des Erfinders. Kein Wunder, im Osten kriegen sie das nicht so gebacken. Oder die Ersatzteile fehlen. Oder …

Die Clique wollte unbedingt rüber nach Thüringen, gegen Mittag haben sie das ausbaldowert, nach einem Katerfrühstück, zu fünft sind sie, haben die Nacht durchgemacht und den Vormittag verpennt. Er besitzt den Wagen seit einem halben Jahr, Ehrensache, ihn zur Verfügung zu stellen. Restalkohol hin oder her, er hat sich sofort ans Steuer gesetzt.

Sie sind ohne Proviant losgezogen, da kam die Begrüßungsbratwurst gerade recht. In langen Schlangen standen sie auf den schmalen Sträßchen in der Kälte. Zur Bratwurst wurde Glühwein durch die Fenster gereicht, trinkfest ist man hier, und er hat natürlich auch einen Becher runtergezischt, man kann ja nicht schlappmachen vor den anderen. Außerdem, in diesen Tagen machen die doch keine Alkoholtests, und nachher, an der Grenze, da hat er längst Kaugummi gekaut und Kräuterli gelutscht.

»Lass uns mal halten! Da geht was ab!«

Sie rollen durch eine Ortschaft, eine Straße, gesäumt von meterhohen Schneewänden rechts und links, und Häusern, die sich an steile Hänge ducken. Ein Feuer brennt in einem Vorgarten. Leute stehen im Schnee und winken ihnen zu.

Er bremst vorsichtig. Der Wagen rutscht ein Stück. Verdammt glatt! Sein Kopf schmerzt ein wenig, nur ein leichtes Pochen im Hinterkopf, aber das stört ihn nicht, er verträgt schon was.

»Kommt mal rüber! Wir machen Party!« Ein Mädchen beugt sich zum Beifahrerfenster herein, dunkle Locken spielen um ihre Schläfen. Sie hat eine Schnapsfahne. »Für euch reicht das Grillgut noch.«

Sie steigen aus. Er hat weiche Knie. Grillgut klingt nicht übel, nur eine Bratwurst seit Stunden, davor ein Katerfrühstück, das für ihn aus einem Knäckebrot bestand.

»He, da sind ein paar Freunde von drüben!«, ruft das Mädchen. Das Kieksen in ihrer Stimme markiert das Ausrufezeichen.

»Immer her mit denen, die kriegen wir schon satt!«, ruft ein Kerl.

Sie mischen sich unter die Leute. Gut zwei Dutzend. Keiner älter als Mitte 20. Es wird gelacht, Bierflaschen werden geköpft, man stößt an. Verbrüderung zwischen Ost und West. Heiseres »Hallo!« und »Hurra!«.

Das Bier ist bitter und eiskalt, frisch rinnt es seine Kehle hinunter. Die Kopfschmerzen lösen sich auf. Es beginnt, leicht zu schneien. Das Mädchen stülpt sich eine Kapuze über den Kopf. Lachend und kieksend reicht sie ihm eine Bratwurst. »Gefällt’s euch im Osten?«

»Klar doch!« Mein Gott, wie hungrig er ist.

»Sören hat heute Geburtstag. Der Knabe mit dem roten Bart. Unser Wikinger.« Sie zeigt zum Feuer, von wo ihr ein Typ zuwinkt, dessen Gesicht hauptsächlich aus Haaren und einer Pudelmütze besteht.

»Ist er dein Freund?«

»Interessiert dich das?« Jemand reicht Schnaps herum. Das Mädchen drückt ihm ein Glas in die Hand. »Prost, auf Volk und Vaterland. Bist ein Schnuckelchen.« Sie küsst ihn auf die Wange. Er kippt den Schnaps.

»Noch eine Runde!«, ruft jemand. »Auf Sören! Auf das erste Vierteljahrhundert deines Lebens, Mann! Das dir von der Stasi verpestet wurde. Ab jetzt geht’s aufwärts!«

Ein großes Hallo, es wird angestoßen, jemand gießt die Schnapsgläser wieder voll. Das Feuer prasselt.

Ihm wird plötzlich schlecht. Das Mädchen wendet sich ab, wankt auf Sören zu und küsst ihn auf den Mund. »Glückwunsch, Sören, alter Knabe! Jetzt kommen neue Zeiten. Die können dich nicht mehr fertigmachen. Nie mehr!«

Ein anderes Mädchen lacht schrill auf. Jemand stimmt ein Lied an. »Zum Geburtstag viel Glück«.

Niemand achtet auf ihn. Er geht ein paar Schritte, hockt sich hinter einem Busch in den Schnee. Kämpft den Würgereiz nieder. Er friert, die Nässe kriecht ihm in die Knochen, aber nach und nach beruhigt sich sein Magen. Das Lachen, das Prasseln des Feuers und Klingen der Gläser kommen ihm weit weg vor. Es hört auf zu schneien. Der Mond kriecht zwischen den Wolken hervor. Er sieht die schartigen Spitzen der Berge, hätte nie gedacht, dass sie im Thüringer Wald so hoch sind und das Klima so rau. Er greift in den Schnee, reibt sich das Gesicht ab.

»Na, bläst du Trübsal?« Einer seiner Kumpel ragt plötzlich neben ihm auf. »Die Kleine ist süß. Ran an den Speck! Ich würde vorschlagen, wir übernachten hier. Sören sagt, sie haben Platz genug.«

»Klingt ziemlich gut.« Er rappelt sich auf. Sucht das Mädchen. Sieht die Locken neben ihren Schläfen auf und ab hüpfen. Ihre Kapuze hängt auf Halbmast. Jemand spielt Gitarre und singt »Take me home, country road«. Ob das hier in Thüringen schon als subversiv gilt? Das Mädchen hüpft und hüpft, die Schnapsflasche in der Hand.

»He, singen wir unseren Brüdern aus dem Westen mal was aus der Taiga vor«, kichert ein Mädchen mit Pudelmütze.

Dunkle Männerstimmen steigen in den Nachthimmel. Töne, die wie Träume umherschweifen und Tränen in die Augen steigen lassen. Ganz plötzlich.

Das Lockenmädchen kommt auf ihn zu, mit kurzen Tanzschritten, schwingt den Oberkörper, streicht sich die Locken aus dem Gesicht. Sie lässt die Schnapsflasche in den Schnee fallen. Greift nach seinem Nacken. Eiskalt umschließen ihre Finger seine Haut. Er küsst sie. Sie schmeckt nach Schnaps und Bratwurst, nach dieser denkwürdigen Dezembernacht, in der keine Regeln gelten, nicht mehr, er küsst sie heftiger, tastet mit der Zunge durch ihre Mundhöhle, die Jungen singen noch, finstere Lieder von weit im Osten. Viel weiter, als es ihn je treiben wird, dieser Gedanke schießt ihm mit einem Mal durch den Kopf, und er wird sich ein Leben lang daran erinnern.

Er bemerkt, dass etwas nicht stimmt, weil die Gitarrenmelodie mit einem Mal verstummt. Dann setzen auch die Stimmen aus. Nur einer, ein tiefer, röhrender Bass, singt ungerührt weiter.

»Lass mein Mädchen in Ruhe!«

Er wird weggerissen von der warmen, weichen, schnapsigen Mundhöhle, der feuchten Zunge, dem Alles-ist-möglich-und-es-gelten-keine-Regeln-Gefühl. Eine Faust trifft ihn an der Wange, nicht fest, denn da sind plötzlich andere, greifen nach ihm, nach dem anderen, trennen sie, noch bevor sie prügelnd im Schnee liegen. Manuel spuckt aus.

»Bilde dir bloß nicht ein, weil du mit deinem Westwagen hier rüberkommst, kannst du dir nehmen, was du willst!«, brüllt der Mann ihn an, der behauptet hat, das Mädchen mit den dunklen Locken gehöre zu ihm. Ein Gigant mit wild um den Kopf stehendem schwarzen Haar.

Jetzt ist es still hier im Garten. Irgendwo schlägt ein Fenster. Das lauteste Geräusch in der Nacht.

»Nein«, murmelt er. Schlagartig ist er nüchtern. Die Übelkeit kommt zurück, aber nicht zu stark. Ihm ist kalt, er zittert. Wo sind die anderen? Was machen sie eigentlich hier? Er wischt sich übers Gesicht, die Haut ist ganz nass.

»Kriegt euch mal wieder ein«, sagt jemand.

Matt dreht er sich um, lässt alle stehen. Für Momente ist er orientierungslos. Dann taumelt er zur Straße. Hinter ihm nehmen die Gespräche Fahrt auf, Gelächter, die lachen über ihn, klar, weil er es nie schafft, mit Mädchen was anzufangen, immer funkt ihm ein anderer dazwischen, wenn er mal eine findet, die er wirklich mag.

»Warte doch mal! Wo willst du denn hin!« Einer von den Kumpels.

»Ich fahre heim.«

»Jetzt? Bist du blöd? Es wird gerade erst interessant.«

»Für dich vielleicht.«

»Mimose! Du hast was getrunken. Du kannst gar nicht mehr fahren!«

»Schließ nicht von dir auf andere.« Er hat den Autoschlüssel in der Hand und stapft auf seinen Wagen zu.

»Spinner!« Der Kumpel wendet sich ab.

Er sinkt auf den Fahrersitz. Lässt den Motor an. Das sanfte Schnurren tut gut. In diesem Auto ist alles so, wie er es kennt. Wie es sein soll. Er stellt die Heizung auf höchste Stufe. Schneeflocken fallen. Ganz viele, urplötzlich.

Langsam gibt er Gas. Die Reifen schlittern kurz, dann greifen sie.

Jemand ruft nach ihm. Es klopft an das Fahrerfenster. Ein roter Bart flammt auf.

Er tritt aufs Gaspedal. Der vom Feuer erleuchtete Garten gerät außer Sicht. Dann erkennt er schon das Ortsschild. Nur weg hier.

Die Frauenbeine sieht er zu spät.

Was für ein Schlag! Etwas Dunkles, Massiges wirbelt an ihm vorbei. Er verreißt das Lenkrad, der Wagen prallt gegen einen Schneehaufen, der weiß im Scheinwerferlicht aufstrahlt. Das Auto hat sich einmal um die eigene Achse gedreht.

Er tritt das Gaspedal durch. 100 Meter vor ihm leuchtet das Ortsschild im Licht der Scheinwerfer auf.

1. Kapitel

13.6.2017, früher Abend

Es wurde immer schlimmer. Anders konnte man die Nachrichten nicht nennen.

Europa gab es nicht mehr. Zerfallen. Von einer Union nichts zu ahnen. Nur noch Zank. Entzweiung. Nationale Interessen und jeweils eigene Interpretationshoheit.

Frustriert schaltete Philipp Heller den Fernseher aus. Mit großem Tamtam hatte er das Gerät hier zu Hause aufgebaut! Natürlich selbst, die Technik anzuschließen, stellte für ihn doch kein Problem dar! Sandra sollte stolz auf ihn sein. Nach Martins Auszug litt sie am leeren Nest. Er, Philipp, hatte angenommen, ein paar neue Dinge im Haus würden ihr Freude machen. Schließlich war es nur normal und mithin wünschenswert, dass ein junger Mann in die weite Welt zog. Philipp knurrte unwillig vor sich hin. Für seinen Sohn wünschte er sich etwas Besseres als einen Hilfsjob in einer Möbelfirma und ein Zimmer zur Untermiete. Aber gut, gut – jeder hatte mal klein angefangen.

Der Korken ploppte aus der Weinflasche. Ein guter, ein teurer, ein ausgezeichneter Chardonnay. Das Geld war nichts mehr wert, daher investierte man am besten in die Genusswerte. Wofür rackerte man sich auch dermaßen ab? Gluckernd floss der Wein ins Glas. Spezialbeschichtete Gläser hatte er für Sandra und sich gekauft. Vor allem für Sandra. Sie war ja so eine Weinliebhaberin, eine, die viel wusste. Ihr Onkel Peter hatte kürzlich einen Weinberg gekauft, drüben in Unterfranken, nur eine Parzelle, aber sein Eigen. Ein Hobby für einen frühverrenteten Finanzbeamten. Ts.

Philipp trank einen Schluck. Unglaublich, wie diese Gläser den Duft und den Geschmack steigerten. Nur nahm Sandra immer noch den alten, angeschlagenen Römer aus dem Schrank, wenn sie sich spätabends einen Schluck gönnte. Zu einer Zeit, in der Philipp längst im Bett lag. Zum Henker, er hatte einen Job, er hatte zu tun, seine Tätigkeit war anspruchsvoll, schon seit Jahren in Vorbereitung der Bayerischen Landesausstellung, und vor allem seit einigen Wochen, da die Gäste nach Coburg strömten. Es wurden täglich mehr, Philipp war als Guide beliebt, er konnte gut erklären, humorvoll, er überschlug sofort, wo die Schwachstellen im Wissen seiner Gruppen lagen, er glich das aus, hakte ein, schob Hintergrundinformationen nach … Vor allem die Schulklassen lagen ihm zu Füßen. In seinen Führungen gab es kein Herumalbern, er nahm die Jugendlichen ernst und erreichte dadurch, dass sie auch ihn respektierten. Das war belebend. Nach den langwierigen Editionsaufgaben, die hinter ihm lagen, tat ihm der direkte Kontakt mit Besuchern gut. Sein schauspielerisches Talent kam ihm dabei sehr zupass. Wobei er natürlich auch die Schreibtischarbeit zuvor gemocht hatte. Ausgerechnet ihm war die Herausgabe dieser Mordgeschichte, die sich zu Luthers Zeiten auf der Veste zugetragen hatte, zugemutet worden; er hatte Tage und Wochen an den alten Texten gearbeitet, um sie für den heutigen Ausstellungsbesucher nicht nur verständlich, sondern auch spannend zu machen. Er würde es Sandra gegenüber nie zugeben, aber er war stolz, dass man ihn mit dieser Aufgabe betraut hatte. Zumal in der letzten Samstagsausgabe der Zeitung ein Ausschnitt abgedruckt worden war.

Der Wein belebte ihn. Sandra würde schon noch merken, wie toll die neuen Gläser waren. Vielleicht räumte er die Römer einfach weg, ab ins Altglas damit. Wenn er dazu kam. Nur nicht gerade jetzt. Sandra surfte im Netz, in ihrem Zimmer, das war ihr altes gemeinsames Schlafzimmer. Vor einem halben Jahr war Philipp ins Gästezimmer gezogen, hatte es sich dort gemütlich gemacht, die alten Möbel raus, die waren noch von seinem Vater, unglaublich, wie lange man bereit war, den alten Schrott anzusammeln! Statt der von Würmern angenagten Schränke aus dunkler Buche hatte er moderne Kunststoffmöbel angeschafft, mit Milchglastüren für den Kleiderschrank und gelben Blenden für die Kommode. Sein Reich! Nur seins. Tja. Er und Sandra, sie waren beide der Ansicht, dass es besser so war. Das mit den getrennten Zimmern.

Philipp beschloss, sich in den Garten zu setzen. Der Sommer fing gerade erst an. Die letzten Tage hatten die Wolken ihn bedrückt, obwohl er doch gefühlte 20 Stunden am Tag in der Veste verbrachte, in der Ausstellung, in seinem Büro, mitten unter den Gästen. Er sehnte sich nach frischer Luft. Ganz plötzlich. Das lag wahrscheinlich an den erstickenden Nachrichten. Nur Krisen! Wie Mega-Trucks rollten sie auf einen zu. Die Medien heizten das Grauen noch an, indem sie rund um die Uhr über Scheußliches berichteten, das aber mit einem selbst kaum zu tun hatte. Das Leben ging doch immer weiter, oder? Insofern konnte er auf die Nachrichten wirklich verzichten. Sie vermittelten einem nur das Gefühl, in wenigen Tagen, vielleicht sogar Stunden, unter die Räder zu kommen. Einfluss hatte man sowieso auf so gut wie nichts.

Er stellte die Flasche in einen Cooler. Der Terrassentisch draußen war übersät mit Sandras Sachen. Rasch räumte Philipp gekappte Zweige, Sandras Arbeitshandschuhe und die Gartenschere weg und setzte sich. Der Zeitungsstapel störte ihn nicht. Vielleicht würde er noch ein paar Takte lesen. Köstlich, der Chardonnay, wirklich, Weißwein sollte ja kaum dick machen. Er musste mal wieder joggen. Irgendwas tun für sich und seinen Körper. Er war 45, das Haar wurde schütter, der Bauchansatz trat sichtbar hervor, obwohl er sich ansonsten gut hielt. Aber er kam ja nicht zum Sport. Und jetzt noch durch die Gegend rennen, wo die Nacht so samten den Festungsberg herabsank? Nein danke. Dann lieber dem Wein zusprechen. Kurz flammte in Philipp Neid auf Sandras Onkel auf. So einen Weinberg zu pflegen, würde ihm, Philipp, gewiss auch Spaß machen. Noch mal ein ganz neues Gebiet, in das er sich einarbeiten könnte …

Er schloss die Augen, genoss den Chardonnay, und als er die Lider wieder aufschlug, wurde drüben auf dem Festungsberg die Beleuchtung der Veste angeschaltet, und er fühlte sich glücklich. Was für ein Blick für ihn, den Historiker! Diese mächtige, uneinnehmbare Festung, diese Trutzburg, dieses wunderbare Stück Geschichte, gebaut aus Steinen, die heute noch von Mut und Tapferkeit, Kampf und Entschlossenheit zeugten. Und von der Liebe … Philipp lächelte. Ja, die Liebe. Da war auch einiges gewachsen in letzter Zeit, und wenn es nur ein schnelllebiges Kraut war, so doch eines, das ihn aufmöbelte, sein Selbstvertrauen polierte.

Ja, er liebte die Geschichten, die die Steine jenen erzählten, die hinzuhören verstanden. Für das Lauschen in die Historie war Philipp prädestiniert. Er, der seine Leidenschaft für vergangene Zeiten zum Beruf gemacht hatte. Geschichte hatte er studiert, gegen den Willen der Eltern, die sein Fach als brotlos ansahen, als sinnlos, als nutzlos. Sein Vater war Handwerker gewesen, Klempner, das brachte was, Klempner wurden immer gebraucht.

Philipp schenkte nach. Er wurde gebraucht. Dort oben. Auf der Veste, die über der Stadt saß wie ein Thron. Ein sehr alter Thron, die ersten Schutzanlagen um das seinerzeit auf dem Berg befindliche Kloster waren vermutlich gegen Ende des 11. Jahrhunderts entstanden. Er lächelte. So war das Leben. Eine endlose Abfolge von Geschehnissen, von denen manche noch Einfluss auf die Menschen späterer Jahrhunderte nahmen. Ähnliches befürchtete er von den Ereignissen, die zurzeit von den Medien aufgerührt wurden. Das mühevoll erarbeitete Geld verlor seinen Wert, Menschen anderer Herkunft begehrten Einlass in Europa, dem Kontinent ihrer Hoffnungen, und man fürchtete als Alteingesessener die anstehenden Veränderungen, wagte jedoch gleichzeitig nicht, die Hoffnungen der Geschundenen zu enttäuschen. Immerhin war man doch Mensch! Man gehörte zu denen, die alles hatten. Durfte nicht Nein sagen, wenn andere um Hilfe baten.

Wie lange würden all diese Krisen und Zerwürfnisse noch hingeschleppt werden können, bevor es zur Explosion kam? Alles hatte seine Sollbruchstellen. Jedes Jahrhundert, jedes Jahrzehnt wartete auf den einen kleinen oder großen Umbruch. Selbst eine winzige Verschiebung der Lebensumstände konnte Gewaltiges auslösen. Philipp sprach ja täglich darüber, wenn er Gruppen führte. Über die Zeit um 1500, die die Landesausstellung zum Thema hatte, über die damals bahnbrechenden Erfindungen wie Globus und Taschenuhr, über die drastisch gestiegenen Bevölkerungszahlen, Menschen, die ernährt werden wollten, das erinnerte ihn doch sehr an heute. Wer sollte in der erforderlichen Schnelle für all diese Leute sorgen? Verantwortungsvoll? Er trank und goss nach. Umbrüche gab es zu allen Zeiten. Zu schnelle, zu krasse Veränderung trieb die Leute in die Panik. Panik war der schlechteste Ratgeber überhaupt. Sie funktionierte nur für Sekunden. Danach musste man planvoll vorgehen. Um 1500 hatten die Mächtigen nichts anderes zu tun, als den Druck zu verstärken, um die Kontrolle zu behalten. Die Zwangsallüren der Kirche hatte alsbald ein Augustinermönch auf dem Kieker. Einer, dessen persönliches Leben eng mit dem der Stadt Coburg und vor allem seiner Veste verbunden war: Martin Luther. Ein halbes Jahr hatte er hier gelebt, zwei Dutzend Psalmen übersetzt, Briefe geschrieben, Texte verfasst … Seine Intelligenz und seine Schöpferkraft hatten dazu beigetragen, die Welt zu verändern. Wo waren heute die Menschen, die etwas Substanzielles beitrugen? Nicht nur Empörungsrhetorik, damit war man ja heutzutage schnell bei der Hand. Die Politiker ritten auch nur auf Stimmungswellen. Eine vernünftige Position überlegte sich keiner mehr, geschweige denn, dass er sie vertrat … und die Risse in der Gesellschaft taten sich längst auf, selbst im engsten Umfeld nahm er das wahr!

Die Flasche war halb leer. Wut stieg in Philipp auf. Die Welt wirkte so getrieben auf ihn, und er trieb mit, wirbelte, strudelte, tat sein Bestes, aber er kam ja nicht mal mehr an Sandra heran! Vielleicht war es eine gute Idee, was sein Kollege Rolf ab und zu vorschlug: Nachrichtenfasten. Einfach nicht mehr fernsehen, keine Zeitung mehr lesen, nicht mehr im Internet herumkriechen. Man erstickte doch fast an Tristesse und Belanglosigkeit. Gereizt stieß Philipp gegen den Zeitungsstapel. Weg mit dem Müll! Alles nur Abfall. Absonderung von Worten, die morgen bereits nichts mehr galten!

Die Zeitungen rutschten vom Tisch, aufreizend langsam, eine nach der anderen, und fächerten sich auf den Terrassenfliesen auf. Fotos, Schlagzeilen, Werbung. Verdammt! Philipp kickte mit dem Fuß nach dem Wust von Papier.

Da lag ein Zettel. Eher ein Text. DIN A4. Ordentlich bedruckt. Sandra arbeitete seit drei Jahren nicht mehr in der Schule. Eine Unterrichtsvorbereitung konnte es nicht sein! Philipp griff danach.

Ich habe deine Daten gehackt. Du hast eine schöne Zeit mit affaerchen.de. Ich gebe die Daten raus. An deinen Arbeitgeber. Deine Frau. Deinen Sohn. Man wird sich für dich interessieren. Es sei denn, du tust, was ich dir auftrage. Töte Gerald Höchst.

Philipp erstarrte. Daten gehackt? Konfus sah er sich um. Das war ja lächerlich.

Er goss Wein nach und trank das Glas in einem Zug leer. Sein Kopf schwirrte. Okay, er hatte diesen Account bei dem Datingportal. Seit ein paar Wochen. Okay, er hatte eine Nacht mit dieser Blonden verbracht, in Erfurt, das schien ihm sicherer, in Coburg kannte ihn ja jeder. Aber wer konnte das wissen? Übelkeit übermannte ihn. Das panische Gefühl, beobachtet zu werden. Jetzt. In diesem Augenblick.

Daten gehackt?

Pah! Wo war der Beweis? Kopfschüttelnd knüllte Philipp das Papier zusammen. Ein säuerlicher Geschmack saß in seinem Mund fest. Eine Amsel hüpfte über den Rasen und tschilpte. Weiter weg spielten ein paar Kinder Fußball. Ab und zu krachte der Ball gegen einen Zaun. Leise zauste der Abendwind den Bambus, der den Weg vom Gartentor zum Haus umrahmte. Nicht allzu fern, die Straße runter, lachten Leute. Die typischen, geliebten, geachteten Geräusche eines Sommerabends. Sie wurden übertönt vom brutalen, schmerzenden Schlag seines Herzens.

Gehackt. Töte.

»Philipp?« Sandra erschien in der Tür.

»Schatz!« Er bückte sich und sammelte hektisch die Zeitungen auf. »Ein Schlückchen Chardonnay?«

»Warum nicht.« Sie kam barfuß über die Fliesen auf ihn zu.

Unauffällig schob Philipp die Papierkugel in die Taschen seiner Shorts. Er rappelte sich auf. Es knackte in seinen Knien, als er die Zeitungen zusammenraffte.

»Warte, ich hole dir ein Glas!«

Sandra setzte sich.

»Lass doch die Zeitungen«, sagte sie. »Ich lese die sowieso nicht mehr. Die nehme ich nur noch für den Kompost. Zum Einwickeln.«

»In Ordnung.« Er warf den unordentlich zusammengerafften Papierhaufen auf einen Stuhl. »Ich bin gleich wieder da.«

Im Haus zerriss er das Blatt und warf die Fetzen in die Toilette. Er spülte und wartete darauf, dass der Tank sich erneut füllte. Spülte noch mal. Geschafft, jetzt war wirklich jedes Krümelchen weg.

Er kehrte in den Garten zurück, und erst, als Sandra ihn erwartungsvoll ansah, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, ein Glas für sie mit hinauszunehmen.

2. Kapitel

19.6.2017, vormittags

»Es ist so eine Sache mit der Einsamkeit.«

Katinka sah verdutzt auf. Sie hatte es sich vor zehn Minuten vor der Eisdiele am Markt bequem gemacht, genoss das Plätschern des Brunnens und ihren Latte macchiato und spielte an ihrem Handy herum.

»Ich will nur sagen: Einsamkeit hat viele Gesichter.« Die Alte kam näher heran. Sie war gebaut wie ein Bus, trug ausgebeulte Jeans, Crocs und eine weite Bluse. Ein Kopftuch umspannte ihren breiten Schädel. Unter dem Stoff quoll drahtiges graues Haar hervor. Am auffälligsten jedoch war eine Narbe, die sich schräg über die Stirn bis unter ihr Kopftuch erstreckte. Feuerrot. Bösartig.

Katinka blickte sich um. Ein warmer Frühsommervormittag umhüllte sie. Leute mit Einkaufstüten schlenderten über den Markt, zwei Jungs rannten mit hüpfenden Ranzen den Gehsteig die Gasse hinunter. Ein Pärchen stand vor der Eistheke und konzentrierte sich auf die Geschmacksauswahl. Doch auf der Freischankfläche war sie der einzige Gast. Die Frau konnte also nur mit ihr gesprochen haben.

»Ja, manche wollen es nicht wahrhaben. Sie sind todeinsam. Merken es erst mal nicht. Jahrelang. Aber dann ist Schluss. Plötzlich bricht es über sie herein, stimmt’s?« Und als habe sie eine außerordentlich wichtige Mission beendet, navigierte sie mitten durch die Ansammlung von Cafétischen und -stühlen, schob einige unsanft mit der Hüfte beiseite und marschierte davon.

»Wer war das denn?«, fragte Katinka die Chefin der Eisdiele, die eilfertig an Katinkas Tisch kam.

»Mit denen müssen wir leben.«

»Mit denen? Sie meinen – ist sie eine Pennerin?«

»Nein, nein. Sie hat ein Haus draußen im Itzgrund.«

»Verstehe.« Katinka verstand nichts.

»Möchten Sie nicht doch noch ein Eis? Oder ein Tiramisu?«

»Danke, mir ist nicht danach.« Katinka trank den Kaffee aus.

War sie einsam? Wie ein quirliger Floh begann der Gedanke in ihrem Kopf zu tanzen. War sie nicht. Blödsinn! Sie hatte Hardo!

»Sie hat bestimmte Fähigkeiten. Hat sogar vor einem halben Jahr oder so einen Kriminalfall aufgeklärt.«

Katinka zog die Augenbrauen hoch.

»Sagen wir mal so: Sie hat dabei geholfen, den Fall zu lösen. Wäre ohne sie übel ausgegangen.« Die Eisfrau tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn.

Katinka stutzte. »Sie meinen die Narbe?«

»Genau die. Sie hat einen Gangster aufgehalten, der eine andere Frau umbringen wollte. Der Irre hat ihr einen Knüppel auf den Kopf geknallt. Sie ging k. o., hat aber eine Minute Zeit schinden können. Bis dahin war die Polizei da und hat die Frau gerettet.«

Katinka schüttelte den Kopf. Überall Prekäres!

Ein Mann mit Laptoptasche ließ sich an einem Tischchen nieder, rief: »Einen Espresso!«, und die Chefin eilte, die Bestellung auszuführen.

Auf ihrem Handy klickte Katinka sich zu den Infos der Stadt Coburg über die Bayerische Landesausstellung durch. Endlich fand sie die Öffnungszeiten. Als gelernte Historikerin und Archäologin verpasste sie ungern Veranstaltungen, in denen sie sich wie früher im Studium voller Elan in eine andere Zeit werfen konnte.

Dass Hardo sie in die Ausstellung begleiten würde, brauchte sie nicht anzunehmen. Sie war mit dem Zug nach Coburg vorausgefahren. Hardo würde am Nachmittag nachkommen, damit sie anschließend durch den Thüringer Wald weiter nach Berlin fahren konnten, wo Katinkas Schwester Melissa nach eigenem Dafürhalten das Glück gefunden hatte. Das Glück hieß Hotte, war 1,97 Meter groß und arbeitete als Basketballtrainer. Katinka seufzte. Melissa war jünger als sie und hatte einiges an Anläufen gebraucht, um eine längerfristige Beziehung hinzubekommen. Was mit Hotte noch wurde, wusste niemand, aber Melissa schwärmte von ihm in höchsten Tönen. Katinka fand, es war Zeit, den Knaben kennenzulernen, immerhin bestand die Möglichkeit, dass die Flamme der Liebe bald wieder verlosch.

Sie grinste in sich hinein. Hardo war leitender Polizeihauptkommissar bei der Bamberger Mordkommission. Heute wollte er vor dem Kurzurlaub als letzte Amtshandlung seinen Büroschreibtisch aufräumen. Was bei dieser Aktion alles noch aus den Papieren der letzten Monate an Durcheinander aufsteigen und ihre Pläne durchkreuzen könnte, war ihr nur allzu bewusst. Ein paar Stunden blieben ihr also für sich. Sie würde zusehen, einen Bus zu erwischen, der sie auf die Veste Coburg zur Ausstellung brachte. Sie griff nach ihrem Portemonnaie.

Ein Schatten fiel über sie. Ein knochiger Arm tauchte in ihrem Gesichtsfeld auf, legte etwas auf ihren Tisch und verschwand rasch wieder.

»Was zum …« Schon war sie aufgesprungen. Ein Mann rannte ein paar Meter Richtung Hofapotheke und bog dann rechts ab. Katinka setzte ihm nach. Doch als sie um die Ecke des Optikerladens bog, war der Mann außer Sicht.

Sie rief sich das Aussehen des Unbekannten in Erinnerung. Ein Kapuzenpulli. Und die Kapuze natürlich tief in die Stirn gezogen. Joggingschuhe. Jeans.

Katinka seufzte. Die Eisfrau stand misstrauisch neben ihrem Rucksack, als Katinka zu ihrem Tisch zurückhastete.

»Alles in Ordnung. Ich dachte nur, ich hätte einen Bekannten getroffen.«

Ein argwöhnischer Blick funkelte hinter den Brillengläsern. Katinka setzte sich. Unauffällig schob sie das Latteglas über den Fetzen, den ihr eigenwilliger Besucher zurückgelassen hatte. Der Mann mit dem Laptop bestellte noch einen Espresso.

Kaum wandte die Chefin ihr den Rücken zu, schnappte sich Katinka das Blatt. Ein aus einem DIN-A5-Block rausgerissener Zettel. Kariert. Blauer Kugelschreiber. Spitze Buchstaben.

Melden Sie sich bei mir. In einer halben Stunde hinter der Morizkirche bei dem Brunnen. Ich zahle.

Na vielen Dank, dachte Katinka nur.

3. Kapitel

19.6.1530, später Abend

Sie sah ihn nun schon den dritten Abend auf der Löwenbastei umherstreifen. Die Hitze schien hier oben weniger mörderisch. Ein sanfter Wind kam von den Bergen herübergeweht. Es wurde nicht richtig dunkel. Veronika hatte den Eindruck, der Doktor liebe diese Zeit des Tages besonders. Nun, da die Nacht nur wie ein flüchtiger Schatten über allem lag – über der Burg, dem Städtchen, den Feldern. Graublau schimmerte die Landschaft, bevor sie in Dunkelheit versank.

Sie mochte ihn, wie er da so ging, in wehender Kutte, den Kopf gesenkt. Sie bewunderte seine Versunkenheit, die Gabe, ganz mit sich allein sein und sich seinen Gedanken hingeben zu können. Stundenlang hätte sie ihn beobachten können. Am liebsten verbarg sie sich gleich bei der Kapelle, von wo aus sie all seinen Bewegungen voller Sehnsucht folgte.

»Ist es nicht vielmehr so«, hörte sie ihn murmeln, »dass es darauf ankommt, die Menschen heute fühlen zu machen, was jene damals fühlten?«

Veronika wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie war barhäuptig, sogar die Zöpfe ließ sie heute locker herabhängen. Ihr war heiß, sie hatte beim Brotbacken geholfen, hatte den Sauerteig gerührt, Teig angesetzt, gehen lassen, geknetet und geknetet, bis ihr Tuch vor Schweiß an der Stirn klebte. Zusammen mit Gesche hatte sie die Laibe in den Holzofen geschoben, blind vor Hitze die Brote bewacht, schließlich alle mit dem Brotschieber herausgeholt und neue eingeschossen. Keines war ihnen verbrannt. Sie arbeiteten gut zusammen, sie und Gesche. Dabei schwiegen sie zumeist. Anders als früher, da sie hofften, beim Plappern verginge ihnen die Zeit schneller. Nun spielte die Zeit keine Rolle mehr. Sie, Veronika, würde vor ihren Schöpfer treten und sein Urteil hören, und da wäre kein Erbarmen. Die ewige Verdammnis drohte ihr. Es sei denn, der Doktor hätte recht.

Heilige Veronika, bitte für mich beim Herrn, der mein Richter ist, dass er mich nicht der ewigen Verdammnis anheimgibt. Heilige Maria, Muttergottes, bitte für uns Sünder …

Früher, vor der Sache mit Daniel, da hätten sie und Gesche beim Backen geplaudert, sich dem Klatsch und Tratsch des Lebens auf der Burg hingegeben. Dem beständigen Kichern der Mägde, den Gerüchten über Liebschaften, Besucher und dies und das. Über den Tod des Wachmanns hatten sich alle für eine Weile gar nicht beruhigen können, doch mittlerweile war die Aufregung gewichen, und andere Geschehnisse drängten sich in den Vordergrund. Die Hitze aus dem Backofen mochte die Gefühle eine ganze Weile zudecken, machte jedoch das, was sich in Veronikas Augen gebrannt hatte, niemals unsichtbar. Die Dämonen blieben. Und mit ihnen tropfte das Gift der Angst Nacht für Nacht in ihr Blut.

»Denn wem ist geholfen, wenn wir die gleichen Wendungen, die gleichen Sätze auswählen, dem Vorgefundenen gerecht werden, nicht vom ihm abweichen, jedoch«, der Doktor blieb stehen und betrachtete seine Handflächen, »niemand zu verstehen imstande ist, was wir damit meinen?«

Der Doktor kam nun ganz nahe an Veronika vorbei. Ob auch er wusste, wie es war, Bilder zu sehen, die man nie loswurde? Die einem anhafteten, die einen quälten, zerrissen, vor allem dann, wenn der Mantel der Nacht alles andere zudeckte?