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Regine Kölpin

Mörderisches Usedom

11 Krimis und 125 Freizeittipps

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Impressum

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3. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Karte zu Beginn: Ann-Christin Dinser

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © giftgruen / photocase.de
ISBN 978-3-8392-5362-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Karte

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Vorwort

Als ich gefragt wurde, ob ich nach meinen kriminellen Freizeitführern über Ostfriesland Wer mordet schon am Wattenmeer? und über Mecklenburg Vorpommern Wer mordet schon an der Mecklenburger Bucht? auch ein solches Buch über Usedom verfassen möchte, war ich sehr erfreut, denn es gibt nur wenige Inseln, die mich in ihrer Vielfalt so sehr begeistern konnten. Also auf nach Usedom!

Auf der Insel findet man alles, was zu einem ausgewogenen und vielseitigen Küstenurlaub gehört. Auf der einen Seite wunderschöne weitläufige und einsame Strände, auf der anderen Seite verwunschene Ecken wie die Halbinsel Gnitz. In krassem Gegensatz dazu stehen wiederum die einzigartigen Seebäder, die mit ihrer mondänen Architektur und Lebendigkeit unübertroffen sind.

Ich hatte die Qual der Wahl, elf Orte und Städte zusammenzufassen und mit 125 Freizeittipps zu bespielen. Die Freizeittipps sind im Text mit Nummern versehen und nach den Geschichten nachzulesen.

Auch wenn ich Usedom bereits kennen- und liebengelernt hatte: Ich musste noch einmal dorthin und eine umfassende Vor-Ort-Recherche betreiben. Nach einer Hotelreise im Winter packten wir nun unser Wohnmobil und machten uns auf die mörderische Reise. Etwas Vorabplanung war nötig, von den unterschiedlichen Standorten aus waren Sternfahrten mit dem Rad geplant, denn dabei bekommt man am meisten zu sehen und kann die Umgebung mit allen Sinnen in sich aufsaugen.

Wenn man über Usedom schreibt, kommt man an der DDR-Vergangenheit nicht immer vorbei. Danke an meinen Schwiegersohn Ingo Mindemann und an Sigrid Mindemann aus Bad Doberan, dass ich euch mit vielen Fragen löchern durfte, damit die Begriffe und Umstände stimmen.

Gleich zu Beginn der Reise hatte ich das Vergnügen, Elke und Wolfgang Mante im »Runge Haus« kennenzulernen, die mir Wolgast auf eine unglaublich interessante und liebevolle Art und Weise nähergebracht haben. Sie betreuen für den Förderverein die Museen »Rungehaus« und das »Stadtgeschichtliche Museum Kaffeemühle«, außerdem die Dampffähre »Stralsund«. Alle Einrichtungen sind überaus sehenswert. Einen ganz lieben Dank an die beiden. Von dort fuhren wir direkt auf die Insel. Nun musste nur noch das Wetter mitspielen, und los ging es mit Wer mordet schon auf Usedom?

11 Reiseziele und 125 Freizeittipps

1. Wolgast

2. Peenemünde

3. Karlshagen/Trassenheide

4. Zinnowitz

5. Halbinsel Gnitz

6. Koserow

7. Loddin/Kölpinsee

8. Bansin

9. Heringsdorf

10. Ahlbeck

11. Usedom

1. Wolgast

Wenn man Usedom bereisen will, kommt man an Wolgast, dem »Tor nach Usedom«, nicht vorbei. Aber auch sonst lohnt es, dem historischen Wolgast einen ausgiebigen Besuch abzustatten und durch die kleinen Gässchen zu flanieren, die St.-Petri-Kirche zu besichtigen, das alte Rathaus mit seinen Legenden zu entdecken oder staunend an der beeindruckenden Peenebrücke zu stehen und nach Usedom zu schauen.

Wolgast liegt direkt am Peenestrom und wurde 1257 gegründet. Der ursprüngliche Grundriss ist fast unverändert erhalten geblieben, sodass man sich mit etwas Fantasie durchaus vorstellen kann, in eine andere Zeit zurückversetzt zu sein. Die Herkunft des Stadtnamens ist ungeklärt. Vermutungen gehen in erster Linie dahin, dass er aus dem Slawischen stammt: »Gastlicher Ort«.

Nach Ende des Dreißigjährigen Krieges gehörte Wolgast zum schwedischen Regierungsbereich. 1731 wurde ein beträchtlicher Teil der Stadt vom russischen Zaren im Großen Nordischen Krieg niedergebrannt. Die meisten Gebäude, wie auch das Rathaus, wurden anschließend im barocken Stil neu errichtet, der Grundriss Wolgasts aber blieb in der ursprünglichen Form erhalten. Im 18. Jahrhundert baute man Speicherhäuser, der Getreidespeicher am Stadthafen ist ein Beispiel für diese Architektur.

Wolgast ist in den beiden Weltkriegen weitgehend verschont geblieben, zerstört wurden aber die Peene- und die Amazonenbrücke. Von wirtschaftlich großer Bedeutung war die Peene-Werft zu DDR-Zeiten.

Wolgast ist auf jeden Fall mehr als einen Zwischenstopp wert und hat mich mit seiner Gemütlichkeit in den Bann gezogen.

Alle Infos unter:

Touristinformation Wolgast

Rathausplatz 10

17438 Wolgast

Tel: 03836/6600118

www.wolgast.m-vp.de

Tod im Strom

Kim wartete im Stadtgeschichtlichen Museum  1  im »Roten Raum«. Sie sah auf die Uhr. Eigentlich wollte Mike längst da sein. Sie hatte es zwar von vorneherein als eigenartig empfunden, sich in einem Museum zu treffen, noch dazu, wo sie kein großer Fan solcher Einrichtungen war, und Mike das ganz genau wusste. Aber es war ihr erster gemeinsamer Urlaub, da wollte sie die Stimmung nicht schon zu Beginn verderben. Seit drei Monaten war sie nun mit Mike zusammen, und diese Reise war für Kim ungeheuer wichtig. Sie hatte gehofft, dass Mike das genauso sah. Der Vorschlag, nach Usedom zu reisen, war von ihr gekommen, aber seitdem das Ziel klar war, hatte Mike sich verändert. Je näher die Abreise rückte, desto unruhiger wurde er. Und als er dann noch vorgeschlagen hatte, Kim solle doch mit dem Zug vorausfahren, war sie ziemlich irritiert gewesen. Jedes andere Liebespaar reiste gemeinsam in den Urlaub, und tat es das nicht, gab es dafür einen triftigen Grund. Auf ihre Nachfrage hin hatte Mike aber nur argumentiert, er hätte noch beruflich zu tun. Kim war das leichte Zittern in seiner Stimme nicht entgangen, und sie hielt es für eine Ausrede. Immerhin hatte er ihr Gepäck mitgenommen, sodass sie sich zumindest damit nicht herumquälen musste. Nun, sie würde bald Gewissheit haben, ob alles in Ordnung war.

Erneut warf Kim einen Blick auf die Uhr. Mike hatte sich bereits um 15 Minuten verspätet. »Dann schau ich mich halt doch mal ein bisschen um«, seufzte sie und schlenderte durch die Ausstellung. Sie betrachtete die Exponate des »Roten Raums«, die den Betrachter in eine fremde Zeit zurückversetzten. Speckkloßverpackungen reihten sich neben Pyramidenkerzen in einer roten Regalwand, vor der ein altertümlich anmutender Puppenwagen stand. So weit war das, obwohl es die DDR-Vergangenheit aufzeigen sollte, gar nicht von den Fotos aus der Kindheit ihrer Mutter in den 60er-Jahren entfernt. Auch das Röhrenradio und der Fernseher ähnelten dem, was sie einst in der guten Stube stehen gehabt hatte. Im »Braunen Raum«, mit dem Rückblick und Exponaten aus einer Vergangenheit, auf die man wirklich nicht stolz sein konnte, überkam Kim Gänsehaut, und so stapfte sie weiter ins Dachgeschoss, wo ein altes Klassenzimmer und verschiedene Fachräume, wie ein Experimentierzimmer, aufgebaut waren. Sie fand sogar einen großen Rechenschieber. Am schönsten aber war der Blick, der sich durch die Dachfenster über Wolgast bot.

Trotzdem war es nicht das, was Kim sich unter ihrem Liebesurlaub vorgestellt hatte. Sie nahm das Handy erneut zur Hand und rief Mikes WhatsApp Status auf. Doch er war seit einer Stunde offline. Wo zum Teufel steckte ihr Freund?

Kim überlegte hin und her. Schließlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und schrieb ihn an:

Wo bist du? Das Museum Kaffeemühle hab ich durch. Soll ich jetzt weiter auf Museumstour gehen und mich auch noch im Rungehaus  2  weiterbilden? Du weißt, wie sehr ich mich auf den STRANDURLAUB gefreut habe. Was soll der Mist? Ich will keine weitere Museumssafari. Weiß Gott nicht!

Der Hinweis auf das Rungehaus sollte ein Scherz sein, denn Kim hatte absolut keine Lust, sich mit dem Leben eines Malers auseinanderzusetzen, selbst wenn er noch so brillant und illuster war. Kim wollte nach Usedom zum Baden. An den Strand. Mit Mikes 5er-BMW.

Vermutlich denkt er nun, ich bin eine Zicke, dachte Kim. Bislang hatte sie vermieden, sich so zu verhalten, nur das, was Mike jetzt gerade abzog, empfand sie als zu viel des Guten.

Dieses Mal antwortete er endlich.

Bei mir dauert es noch, bin aber bald da. Das Rungehaus ist doch eine super Idee, bevor du dich langweilst.

Idiot, dachte Kim. Bin gespannt, ob wir heute noch in Heringsdorf ankommen. Bevor sie das Museum verließ, machte sie einen Schlenker zur aktuellen Ausstellung im Erdgeschoss. Nicht, weil sie sich sonderlich dafür interessierte, eher, um Mike ein bisschen warten zu lassen, falls er sich tatsächlich auf den Weg gemacht hatte. Er kam allerdings auch in den nächsten zehn Minuten nicht. »Dann lass es sein, du Spinner!«, grummelte Kim und zog die Kapuze über den Kopf, denn mittlerweile regnete es. Sie trat vor die Tür, durchquerte die Burgstraße  3  und kam an der alten Stadtmauer  4  vorbei. Die Reste wirkten durchaus interessant und vermittelten einen unverfälschten Eindruck von dem, was Wolgast einmal gewesen war. »Trotzdem bin ich nicht zum Sightseeing hierher gekommen! Und nun macht mir der blöde Regen auch noch den Badeurlaub zunichte.« Nein, es lief gar nicht gut an. Überhaupt nicht. Sie hatte so etwas befürchtet, aber bis zum Schluss gehofft, sie irrte sich.

Kim beschleunigte ihren Schritt, denn der Regen wurde heftiger, und sie wollte nicht völlig durchnässt in Mikes Auto sitzen, falls er sich endlich bequemte, doch noch anzureisen. Irgendwie glaubte sie nicht mehr so recht daran. Mike belog sie offensichtlich nach Strich und Faden. Vor dem Rungehaus klingelte das Telefon erneut, und Mike schickte Kim eine weitere WhatsApp.

Bin gleich am Museumshafen  5 .

»Mir reicht es langsam«, zischte Kim. »Hab ich eine Schnitzeljagd mit ihm gebucht, oder was denkt er sich?« Sehnsüchtig wanderte ihr Blick in Richtung der Peenebrücke  6  und streifte dabei auch die Peene-Werft  7 . Dahinter lag Usedom mit seinen wunderbaren Stränden. Am liebsten wäre sie jetzt allein auf die Insel gefahren. Mike konnte bleiben, wo der Pfeffer wuchs. »Und wo wächst der?«, grummelte sie. »Egal, Hauptsache weit weg.« Kim hämmerte eine weitere Nachricht ins Handy:

Ich habe absolut keine Lust mehr auf diese Spielchen und setze mich nun ins Restaurant am Hafen, diesen Speicher  8 , bestelle mir was Feines zum Essen. Wenn du deinen Hintern nicht binnen einer Stunde hierher bewegst, fahre ich allein ins Hotel. Und das war es dann mit uns. Alles klar?

Kim drückte auf »senden«, steckte das Telefon ein, zog es aber sofort wieder aus der Tasche.

Und ich hasse es, von einem Ort zum nächsten gelotst zu werden. Alles klar?

Sie drückte rasch auf »senden« und bemerkte erst dann, dass sie gleich zweimal hintereinander »Alles klar« geschrieben hatte. Das war nicht nur Zickenalarm pur, das war auch ein kleines bisschen peinlich. Aber eben nur ein kleines bisschen. Zumindest ging es ihr anschließend erheblich besser. Wichtig war nur, jetzt Tacheles geredet zu haben. Bevor sie weiter durchnässt wurde, sollte sie sich einen Schirm zulegen. Vermutlich gab es am Rathausplatz einen Laden, wo das möglich war. Wer wusste schon, ob das Wetter auf Usedom mitspielen würde. Schaden konnte es jedenfalls nicht, einen parat zu haben. Mike würde sie aber nicht mit darunter lassen. Jetzt nicht mehr! Ein leises gehässiges Lächeln huschte über Kims Gesicht, während sie in die Innenstadt eilte. »Hätte mir auch früher einfallen können, dann wäre mir bei dem Sauwetter der Weg erspart geblieben.« Die St.-Petri-Kirche  9  dominierte die Stadt, und wegen des schlechten Wetters strömten etliche Menschen in Richtung des alten Gemäuers. Kim schnappte Wortfetzen auf, wie: »Du musst mal in die Herzogsgruft  10  gehen, das ist interessant.«

Was sollte sie in der Gruft?

»Ach nein, ich finde die Gertrudenkapelle  11  besser, aber die hat heute geschlossen«, riss sie eine andere Stimme aus den Gedanken.

Kim spazierte zum Rathausplatz. Am Alten Rathaus  12  sah sie sich um. Der farbenprächtige Brunnen  13  plätscherte vor sich hin. Ein Geschäft, wo sie einen Schirm kaufen könnte, entdeckte sie zunächst nicht, aber dann fiel ihr Blick auf einen Angelladen, wo sie tatsächlich fündig wurde. Zumindest das Problem war gelöst.

Mit aufgespanntem Schirm spazierte Kim in Richtung Schlossinsel  14  zum Museumshafen und suchte sich im Speicher ein Plätzchen am Fenster, von wo aus sie die Hafenstraße gut beobachten konnte. Sollte Mike erscheinen, würde sie ihn von Weitem sehen. Sie bestellte einen Kaffee und wartete darauf, dass Mike erneut antwortete. Doch es tat sich nichts. Nach etwa einer halben Stunde schrieb Kim ihm eine weitere Nachricht.

Nun sei bloß nicht eingeschnappt. Manno, ich warte hier auf dich. Natürlich hau ich nicht einfach so ab!

Im zweiten Anlauf schoss sie noch einen küssenden Smiley hinterher.

Weil Mike weiterhin nichts von sich hören ließ, schrieb sie Karsten, ihrem besten Freund.

Der Blödmann lässt mich hier echt sitzen. Hallo?

Karsten antwortete sofort.

Okay. Halt durch! Der kann was erleben!

Über Kims Gesicht huschte ein Grinsen. Auf Karsten war einfach immer Verlass. Er war ein feiner Kerl und von Kindesbeinen an für sie da. Immer!

In der folgenden halben Stunde tat sich nichts. Mike war nicht einmal ON gewesen. Kim zahlte, denn nun wurde sie doch unruhig. Schließlich hatte er geschrieben, er sei auf dem Weg. Sie wollte nicht recht haben. Sie wollte, dass sie sich geirrt hatte und alles gut wurde mit ihnen. Sie liebte ihn, und es gab nichts, was sie sich sehnlicher wünschte, als dass er ehrlich zu ihr war. Was sollte nun also dieses dämliche Schweigen? Darauf konnte sie getrost verzichten.

Hast ja selbst Schuld! Das liegt nur an deiner blöden und beleidigenden WhatsApp, dachte Kim. Er ist doch sauer und meldet sich deshalb nicht. Alles würde sich aufklären. So, wie sich immer alles aufklärte.

Sie fröstelte, als sie am Museumshafen stand und ihre Augen rechts zum großen Hafen  15  schweifen ließ. Vielleicht würde Mike, wie immer breit und gewinnend grinsend, gleich von dort unbeschwert entlangkommen. Aber ein prüfender Blick sagte Kim, dass nichts dergleichen geschah. In welche Richtung sollte sie sich nun halten? Kim entschloss sich, besser in die Altstadt zu gehen. Sie ließ die legendäre Dampffähre Stralsund  16  links liegen und steuerte geradewegs auf die Amazonenbrücke  17  zu. Eigentlich lief sie planlos umher, denn warum sollte Mike ausgerechnet in der Wolgaster Innenstadt herumlaufen? Kims Herz begann zu rasen. Verdammt, was passierte hier gerade? War ihre Entscheidung, nach Usedom zu fahren und ihn, nachdem er so eigenartig reagiert hatte, mit diesem Urlaub auf die Probe zu stellen, richtig gewesen? In ihr stieg die Ahnung auf, einen riesengroßen Fehler begangen zu haben.

Der Regen hatte sich noch mehr verstärkt, dazu blies der Wind und trieb Regenschwaden vor sich her. Kim spannte den Schirm auf, musste ihn aber wieder zusammenklappen, weil der Wind ihn sofort nach oben drückte. Der Kai war wie leer gefegt, nun hatte es sämtliche Touristen endgültig in die Museen und die Kirche vertrieben. Wenn Kim nicht weiter frieren wollte, war es am besten, sie würde dasselbe tun. Sie ahnte, dass Mike nicht mehr kommen würde. Sie wusste nicht, ob die Wut oder die Angst über sein Verschwinden überwog.

»Ohnmacht«, flüsterte sie. »Es ist ein Gefühl der Ohnmacht.« Sie wischte sich die Regentropfen aus dem Gesicht. »Mike ist ein Idiot.«

Sie hatte die Holzbrücke fast erreicht und war fest entschlossen, den nächsten Zug zurück nach Hause zu nehmen, denn was sollte sie allein in Heringsdorf, wo sie sich ganz bestimmt die Augen ausheulen würde, weil ihr Traum, romantisch zu zweit am Strand zu sitzen, nicht in Erfüllung ging? Mit gesenktem Kopf eilte sie auf die Amazonenbrücke zu, als sie stutzte. Erst glaubte Kim an eine Täuschung, doch auch beim zweiten Blick veränderte sich die Situation nicht. Im Peenestrom trieb ein Toter, und es gehörte nicht viel Fantasie dazu, um zu erkennen, dass es sich um einen jungen Mann handelte. Kim weigerte sich eine ganze Weile, sich einzugestehen, dass es nicht irgendein Mann war, sondern Mike. Sein Haar, seine Gestalt. Es bestand kein Zweifel. Er trieb mit dem Gesicht nach unten auf der Wasseroberfläche, sein kariertes Hemd blähte sich mit jeder Schaukelbewegung auf und ließ ihn kräftiger erscheinen, als er in Wirklichkeit war.

»Es gibt ihn in Wirklichkeit nicht mehr«, flüsterte Kim. »Er ist tot. Weg.« Sie fummelte nach ihrem Handy, das sie wie immer in die vordere Hosentasche gesteckt hatte. Zitternd rief sie die letzte Nachricht von ihm auf. Seitdem er sie zum Museumshafen bestellt hatte, war er tatsächlich nicht mehr ON gewesen, es war eindeutig das letzte Lebenszeichen von Mike. Der Weg zu ihr war sein Todesgang gewesen.

Die Gedanken purzelten durch Kims Kopf, aber sie konnten nicht verhindern, dass sie immer stärker zitterte. Dass ihr Kopf plötzlich schmerzte und ihre Knie weich wurden. Kim lehnte sich an den Pfeiler der Brücke. Das Handy hielt sie noch immer unentschlossen in der Hand.

»Du musst die Polizei anrufen, Kim«, befahl sie sich selbst. »Du musst …« Viel weiter kam sie nicht, denn ihr fiel das Telefon aus der Hand, und sie sackte endgültig in sich zusammen.

Irgendwann kam ein Mann, der die Polizei anrief. Kim wurde mit Decken umhüllt und in einen Rettungswagen geschoben. Der Duft von warmem Kräutertee erreichte ihre Nase. »Kannten Sie den Toten?«

Kim schaute in das besorgte Gesicht einer Polizistin, die sich ihr mit Maja Berg vorstellte.

Der Tote, schoss es Kim durch den Kopf. Ja, der Tote. Das war Mike. Diese Frau sprach von Mike. Von ihrem Mike. Kim konnte das nicht denken, nicht, dass er tot war. Dennoch nickte sie langsam, als sie einen Seitenblick zum Wasser warf. »Ja, das ist mein Freund. Ich wollte mit ihm nach Usedom. Urlaub machen.« Sie wunderte sich über die zusammenhängenden Sätze, über die Klarheit ihrer Stimme. Oder war es gar nicht sie, die gesprochen hatte?

»Was wollte er hier? Warum waren Sie nicht zusammen unterwegs?«

Ja, warum waren sie nicht gemeinsam gefahren? Das wollte Kim auch gerne wissen, hatte aber keine Antwort darauf. Sie nippte am Teebecher. Die warme Flüssigkeit tat ihr gut. Was sollte sie der Polizistin erzählen? In erster Linie wollte Kim keinen Fehler machen. Also besser, erst die Gedanken sortieren, sich erinnern. In der Realität ankommen. Das würde das Beste sein. Zunächst druckste sie nur herum, danach glitten ihr die Worte leichter über die Lippen. »Ich habe keine Ahnung. Es war ganz eigenartig. Erst wollte er nicht, dass wir in einem Auto herfahren, dann hat er mich von einem Museum und einem Standpunkt zum nächsten gescheucht. Und am Ende ist er einfach nicht aufgetaucht.«

Maja Bergs Gesicht versteinerte. Sie glaubte Kim offenbar nicht. »Wer von Ihnen hatte die Idee, nach Usedom zu reisen?«

»Na ich«, sagte Kim. »Usedom ist doch eine tolle Insel, ich habe schon so viel darüber gelesen, und deshalb lag es nah, hier den Urlaub zu verbringen, zumal es von Berlin aus ja beinahe ein Katzensprung ist. Frieden, eine schöne Landschaft …« Jetzt brach sie schluchzend zusammen. »Ich konnte schließlich nicht ahnen …« Kim spürte die Hand der Polizistin auf ihrem Arm. »Wussten Sie, dass Ihr Freund öfter auf Usedom zu tun hatte? Außerhalb der Urlaubspläne, meine ich.«

Kim zog fragend die Brauen hoch und schüttelte dann unmerklich den Kopf. Mike hatte behauptet, er kenne die Insel nicht. Aber Mike war ein Lügner gewesen. Ein gottverdammter Lügner.

»Er ist uns bekannt. Als Auto-Mike.« Maja Berg räusperte sich. »Wir haben ihn schon länger im Visier. Er ist uns kein Unbekannter, nur konnten wir ihm final nie etwas nachweisen.«

»Auto-Mike?«, wiederholte Kim. »Was soll das denn heißen?«

»Er verschob Autos von der Insel in den Osten. Er war kein großes Licht, aber er koordinierte das Geschehen.«

Kims Herz raste. Sie wollte nach Hause. Nur noch nach Hause. Auto-Mike, das klang nicht gut. Das klang tatsächlich nach dem, was sie kürzlich über einen Autodealerring auf der Insel gelesen hatte. Sie hatte Mike darauf angesprochen: »Stell dir vor, die knacken Wagen am helllichten Tag, wenn die Leute sich am Strand in der Sonne aalen.«

Mike hatte nur abgewinkt und war nicht sonderlich interessiert gewesen. »Wo ist der Unterschied, ob man ein Auto in der Nacht oder am Tag knackt?«

»Ich meine auch nicht die Tageszeit. Ich finde es grausam, das den Menschen im Urlaub anzutun. Sie freuen sich das ganze Jahr über auf die Ferien, und die sind ihnen dann vermiest. Das ist unfair. Ich glaube, ich hätte ein echtes Trauma.«

Mike hatte lediglich mit den Schultern gezuckt. »Der Markt in den Osten ist von der Insel aus gut. Jeder macht halt seine Geschäfte und muss von irgendwas leben. Es trifft ja keine Armen, einen dicken Mercedes oder Audi zu knacken, das musst du bedenken.« Beim letzten Satz hatte er gegrinst, und Kim das Kissen nach ihm geworfen. »Mach dir über so etwas doch keinen Kopf. Die sind außerdem alle versichert.«

Das alles war offenbar kein Scherz, sondern die bittere Wahrheit gewesen. Und dann war es gekommen, wie es hatte kommen müssen, auch wenn Kim die ganze Zeit versucht hatte, es zu verdrängen.

Maja Berg legte tröstend den Arm um Kim, aber die rückte ein Stück ab. Die Polizistin verstand gar nichts. Überhaupt nichts. Sie bemerkte Kims Abwehr nicht, zumindest sprach sie einfach so weiter:

»Es ging um eine recht große Sache, die sie in Heringsdorf durchgezogen haben. Drei BMWs und ein Passat Kombi. Heute war in Wolgast die Übergabe geplant. Wir hatten den Deal im Visier, wollten zuschlagen. Aber …« Maja Berg zuckte bedauernd mit den Schultern.

Kim sah aus dem Augenwinkel, wie man Mike aus dem Wasser fischte und an Land zog. Der Bestatter steckte ihn in einen weißen Sack und verfrachtete den Leichnam in einem Blechsarg.

»Ich würde Sie nun gern mit auf die Polizeiwache nehmen«, sagte Maja Berg. »Das Wetter ist so ungemütlich, und die Befragung dort ist erheblich angenehmer. Wir hätten auch bestimmt trockene Klamotten für Sie.«

Kim war es egal. Ihr war grad alles egal. Sie hatte sich mit einem Kriminellen eingelassen. All die schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt. Alle.

Auf der Wache gab man Kim ein Shirt und eine Hose zum Wechseln. Zusätzlich durfte sie sich mit einer Decke umhüllen, denn so richtig wurde ihr nicht warm. Daran änderte auch der heiße Tee nichts.

»Sie sprachen vorhin davon, dass Ihr Freund sie von einem Ort zum nächsten zitiert hat«, begann Maja Berg, als Kims heftiges Zittern ein wenig nachließ.

»Ja, das war schon eigenartig.«

»Wohin hat er Sie als Erstes bestellt?«

»Ins Stadtgeschichtliche Museum Kaffeemühle.«

Die Polizistin notierte sich ihre Aussage und kaute am Ende des Stiftes herum. »Und anschließend zum Rungehaus?«

Kim nickte. »Als letztes Ziel hat er den Museumshafen angegeben, danach ist der Kontakt abgebrochen.« Ihre Stimme brach. »Und ich habe ihn noch so angezickt. Wollen Sie es sehen?« Kim hielt der Beamtin das Handy mit ihren WhatsApps unter die Nase, die Maja Berg interessiert studierte. »Sie hatten ja wirklich keine Ahnung, was er vorhatte, oder?« Maja Berg wartete Kims Antwort nicht ab, sondern nickte ihrem Kollegen zu, der eben dazugekommen war. »Es ist, wie wir vermutet haben.«

»Was haben Sie vermutet?«, schnellte Kim vor. »Was?«

»Er hat tatsächlich versucht, Sie zu schützen.«

Kim verstand nicht recht. »Wovor?«

»Nun, bei solchen Diebstählen geht es um viel Geld, und ihm war es wichtig, dass Sie nicht in die Schusslinie gerieten. So wie es scheint, wollte er aussteigen.« Er sah Kim mit ruhigem Blick an. »Wir haben da so unsere Informanten.«

»Deshalb hat er mich mit dem Zug kommen lassen? Weil er fürchtete, dass seine – ich nenne sie mal Kollegen – nicht besonders freundlich reagieren würden und ich deshalb in Gefahr geraten könnte?«

Die Polizistin nickte. »Ja, so ist es. Er hat Sie absichtlich von einem Museum ins nächste geschickt, weil er Sie so vom Schauplatz weghatte.« Maja Berg machte eine Pause. »Vier Fahrzeuge waren von Heringsdorf aus auf dem Weg hierher. Diese Wagen sollten ausnahmsweise mal nicht in den Osten gebracht werden. Bei der Übergabe wollten wir die Bande mit seiner Hilfe schnappen. Aber er ist nicht aufgekreuzt, und wir wissen momentan auch nicht, wo sich die Autos befinden.«

Kim schüttelte fassungslos den Kopf. »Dann ist im Vorfeld also was schief gelaufen, und vermutlich ist er einem Bandenmitglied begegnet, das Wind von seinem Plan bekommen hatte«, resümierte sie. »Das war sein Todesurteil.« Kim senkte den Kopf. Es war Zeit zu verschwinden. »Ich kann doch gehen, oder?«

Die Polizistin nickte ihrem Kollegen zu. »Was ist ihr Plan?«

»Mal schauen«, entgegnete Kim. »Erstmal zur Ruhe kommen und begreifen, was passiert ist. Das wird dauern.« Ihr zitterten die Hände. Verdammt, es fühlte sich nicht gut an. Sie hatte sich das alles einfacher vorgestellt.

»Dann auf Wiedersehen! Halten Sie sich trotzdem bitte zur Verfügung, falls wir weitere Fragen haben, obwohl es bislang ja eindeutig scheint. Warum er nun sterben musste und die Bande uns zuvor gekommen ist, wissen wir noch nicht. Vielleicht hat unser V-Mann eine falsche Info bekommen.«

Vor der Polizeiwache atmete Kim tief durch. So langsam wurde sie ruhiger. Aussteigen wollte ihr werter Freund also. Wer sollte denn das glauben? Er war ein Schuft! Der noble Ausstieg wäre nicht lange von Erfolg gekrönt gewesen. Einmal Verbrecher, immer Verbrecher. Das kannte man schließlich. Mike würde von nun an niemandem mehr den Urlaub zerstören. Den Menschen nicht, die er beklaut hatte, und ihr auch nicht. Sie zückte ihr Handy und tippte eine WhatsApp ein.

Hallo Karsten. Sie haben die Kiste geschluckt. Hast du gut gemacht, wenngleich du etwas übertrieben hast. Und Glück hast du gehabt, dass sie dich nicht erwischt haben. Verdammtes Glück! Ich mag übrigens keine Wasserleichen, auch nicht von Schwerstkriminellen. Fürs nächste Mal, okay?

Kim steckte das Handy weg und spazierte in Richtung Peenebrücke. Ein bisschen frische Luft würde ihr gut tun. Vorhin hatte sie gedacht, es sei ein Problem, eine Auftragsmörderin zu sein. Vor allem, als Mike leblos im Wasser trieb. Sie hatte noch zu fest in ihrer besorgten Rolle gesteckt, schließlich sollten sich alle nur an die nervöse und aufgelöste Frau erinnern. Das war bühnenreif gewesen. Aber dann war es doch schwer, wieder zurückzufinden. Das hatte sie aber nun im Griff.

Mike hätte sein Handy eben nicht so vertrauensvoll herumliegen lassen sollen. Nicht, wenn er solche Sprüche über Autodiebstähle machte, die auf Usedom in der letzten Zeit arg zugenommen hatten, und Kim eins und eins zusammenzählte. Ihr Handy piepte. Karsten war dran.

Ging leider nicht anders. War die einfachste Lösung. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Alles gut, hab ich gern gemacht, jederzeit wieder. Die Welt muss sauber bleiben, da bin ich ganz bei dir.

Kim schickte Karsten ein Smiley. Wenigstens einer, der sie verstand. Vielleicht sollte sie sein Angebot annehmen und mit ihm nach Malle fliegen. Ihr schien, sie passten wunderbar zusammen. Kim setzte noch eine WhatsApp nach:

Wann geht dein Flieger?