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Hartwig Schmidt

Nichts und Zeit

Metaphysica dialectica – urtümliche Figuren

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
eISBN (PDF): 978-3-7873-2106-3
eISBN (ePub): 978-3-7873-3117-8

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INHALT

VORREDE

EINFÜHRUNG

Differenz von Differenz und Unterschied

Es ist – Unterschiedenheit resp. Entität

Es ist nicht – Negation

Es ist nicht, was es ist – Antinomie. Neufassung des Satzes vom Widerspruch

Es ist doch, wenn es nicht ist – das Nichtseiende

Das Etwas – eine stoische Inspiration

Etwas und SPF – die Beschaffenheit

Offenheit und Geschlossenheit – die paradoxe Wendung

Differieren und Negieren – die Andersheit

Es gibt – das fragwürdige Es, das gibt

DAS NICHTS

Das Nichts ist nicht?

Das Nichts ist nichts?

Das Nichts gibt es?

Nichts gibt Etwas

Neutralität, Jenseitigkeit und Transzendenz

Die Aporie des Nichts

Nichten selbst, Nichten an sich und nichten-ohne-sich

individuus, individuieren und adindividuieren

Das Nichts: adindividuieren

Performative Denkweisen

Das Nichts: daß Etwas gegeben

Das genuine Individuum

Die Individuation

Das Individuum mit der Individuation als Individualität

DIE ZEIT

Zeit, Ereignis und Zeitigen

Anders als Bewegung

Die sogenannte Uhrzeit

Physikalische Chronometrie

Daßheit und Washeit – Entscheidung eines augustinischen Aporems

Die implosive Offenheit der Gegenwart – Entscheidung eines zweiten augustinischen Aporems

Unmittelbares Wiederholen – Dissens mit Hegel

Leere Sinnlichkeit – Dissens mit Husserl

Kreative Gegebenheit – Dissens mit Bergson

Zeitliche Nihilität – Dissens mit Heidegger

Das Ereignis par excellence – das Werden und sein Luxurieren

Anmerkungen

Personenregister

VORREDE

Das Nichts will weder wie ein Etwas noch einfach wie nichts genommen werden, will mit irgendeinem Etwas genausowenig verwechselt werden wie mit irgendeiner Negation, und handle es sich um die äußerste, die kurz nichts heißt. Jenseits von Etwas und nichts hat man es zu denken – das ist die Richtung, die mein Text dem Denken des Nichts gibt. Von der Tradition weicht er ab, soweit sie das Nichts in der einen oder anderen Weise auf Negation zu reduzieren bemüht war. Zumeist tat sie das. Das Nichts als eine besonders ausladende Negation und diese Negation als das sogenannte Nichtsein, darin besteht nachgerade ein Stereotyp der abendländischen Philosophiegeschichte. Keineswegs allein der älteren, wenn man daran denkt, wie noch mitten im 20. Jahrhundert Jean Paul Sartre zwischen den Begriffen des Nichts und des Nichtseins übergangslos wechselte, als bildeten sie Synonyme1. Aus der bedrückenden Enge solcher Gleichsetzung verdient der Gedanke ans Nichts erlöst zu werden. Dabei kann trotz übermächtiger Traditionslinien an theoriegeschichtlich bereits verfügbare Einsichten angeschlossen werden. Vor allem im neuzeitlichen Philosophieren wurden die Gegenstimmen vernehmbar – als Hegel zwischen Nichts und Nichtsein zu unterscheiden suchte2, Schelling die Negation erst im Übergang vom Nichts zum Etwas auftauchen sah3 und Heidegger schließlich das Nichts sowohl gegen das Nicht als auch gegen die Negation verwahrte4. An die inspirierenden Einsichten läßt sich allerdings nur anschließen. Von der durch Heidegger vorangetriebenen Emanzipation aus der Enge der Negation profitierte die Aufmerksamkeit für Gestalten, in denen uns das Nichts begegne, ungleich mehr als der Begriff des Nichts. Je gediegener die begegnenden Gestalten gedacht wurden, desto mehr muß die dem Begriff gegenüber geübte Zurückhaltung auffallen. Diese Reserve aufzugeben, blieb Aufgabe, und ist das auch nach neueren Arbeiten zum Thema geblieben. Bis auf den Tag müht man sich, den Begriff des Nichts als einen der Negativität zu deuten und unter bloß extensional radikalisierenden Titeln wie schlechthinnige Negation5 zu reinternieren.

Während der Begriff der Negation in gewissen Diskursregionen bis heute die maßlose Anwendung findet, für die symptomatisch die angestrengte Reduktion des Nichts steht, geriet er in anderen Regionen in Verruf. Unbehagen an der Negation breitete sich aus, und keineswegs nur dort, wo es in dem schrillen Urteil eklatierte, die Negation habe – mit einem bekannten Ausdruck von Octavio Paz – aufgehört schöpferisch zu wirken. Darauf ließ und läßt sich nun auf mannigfache Weise reagieren. Eine Möglichkeit wurde darin gesehen, die Negation aus dem Kreis der denkmächtigen, Denkweise prägenden Kategorien zu entlassen und durch einen anderen Begriff zu ersetzen. Etwa durch den der Differenz, wie das in besonders leicht nachvollziehbarer Weise Gilles Deleuze verheißen hat6. Eine andere Aussicht eröffnet sich, wenn man die guten Gründe, die für jenes Unbehagen sprechen, weniger in der Eigentümlichkeit der Negation als vielmehr in ihrer Paradigmatisierung, Dogmatisierung oder Prinzipialisierung findet. Sodann gilt es die Negation, statt sie an den Rand der Terminologie drängen zu wollen, in der Mitte der Denkweise zu relativieren, sie gerade unter dem Begriff der Nichtheit oder Nihilität zu relativieren, sie also vor Dogmatisierung zu bewahren, indem sie als eine und nur eine Gestalt der Nichtheit erkannt wird. Dieser Aussicht hat sich der vorliegende Text verschrieben. Er folgt der Erwartung, daß die Negation weder als das einzige, noch gar als das führende nichtende Verhalten7 gelten kann. Nichten und Verneinen, Nihilität und Negativität werden sich näher besehen als different erweisen. Ganz so wie das lateinische non nur bedingt nein bedeutet, das eine Mal mit nein, das andere Mal mit nicht übersetzt werden will. Eine vertraute Regel, die zur theoretischen Erwartungshaltung ermuntern darf. Die Erwartung einmal ausgebildet, springen einschlägige Phänomene ins Auge. Allererst an der Zeit. Das Noch-nicht und Nicht-mehr, ohne das die Zeit kaum denkbar, gibt ein solches Phänomen her. Hegel tat ihm Gewalt an, als er in der Zeit blanke Negativität wüten und zur ganz abstrakt auf sich bezogenen schrumpfen sah.8 Dabei widersetzt sich das Nichtmehr einer Deutung unter Begriffen der Negation wie kein und nichts auf fühlbare Weise. Was nicht mehr geschieht, ist dennoch alles andere als kein Geschehen und in diesem Sinne ungeschehen, nicht geschehen. Unter Umständen werden wir sogar darauf pochen, daß es niemals wie ungeschehen gemacht werden darf, niemals mit tilgender Negation zu rechnen hat. Innerhalb der Figur des Nicht-mehr bedeutet nicht offensichtlich etwas anderes als im Falle der Negation oder Verneinung. So zeichnet sich an der Zeit eine Nichtheit ohne Negativität ab. Und man braucht noch nicht einmal zu unterstellen, in Phänomenen wie diesem begegne einem das Nichts, um zu sehen, wie sehr ihr Begreifen einer grundbegrifflichen Vergewisserung bedarf, die schon das Nichts gleichgültig gegen Negation denkt. Von daher muß es sich verstehen lassen, was die in Negativität unauflösliche Nihilität ausmacht, inwiefern sie derart irreduzibel ausfällt, daß unser Wort nicht nur bedingt zur Verneinungspartikel taugt. Das Nichts und die Zeit, bis an diesen Punkt will ich die Untersuchung führen.

Für die Wahl des Themas gibt es noch ein Hintergrundmotiv. Es betrifft das Schicksal der Dialektik. Es betrifft mithin eine ganze Familie von Denkweisen; wenn im vorliegenden Text der Begriff der Dialektik fällt, ist durchweg an eine Vielfalt geistverwandter Denkungsarten gedacht.9 Bis heute wirken wenigsten drei Konzeptionen der Dialektik fort. Zum einen die topische Dialektik. Hierzulande ist es vor allem Rüdiger Bubner, der die Dialektik als Topik konzipiert hat.10 Das ideengeschichtliche Vorbild liefert die aristotelische Topik, insbesondere mit ihren ersten beiden Kapiteln.11 Eine Kunst des Erfindens nennt Aristoteles dort die Dialektik. Ein Erfinden von ersten Prinzipien für sämtliche Wissenschaften, das sich dazu spezifischer Schlüsse mit gewissermaßen lebensweltlich gestützten Prämissen bedient. Zum anderen die hermeneutische Dialektik, als deren Stammvater Friedrich Daniel Schleiermacher gilt. Hans-Georg Gadamer hat sie als die Kunst konzipiert, im Wechselspiel von Fragen und Antworten, im Auffinden der eigentlichen Fragen das Denken ins Offene zu stellen, es zu öffnen und offen zu halten, auf daß sich uns tiefere Wahrheit offenbare.12 Schließlich, aber nicht zuletzt: Dialektik in jener Gestalt, die ihr vornehmlich Hegel gegeben hat, die man gemeinhin Widerspruchsdialektik nennt, die mir am treffendsten allerdings als Dialektik der Negativität bezeichnet zu werden scheint. Denn ihr Element ist das Prinzip der Negativität. Alles hat notwendig sein Negatives an sich – was es ist, kann es nur sein, indem es ebensogut nicht das ist, was es doch ist – so treibt es von sich aus über sich hinaus. Diese Konzeption der Dialektik ist von der Absicht, über Nichts und Zeit, Nihilität und Negativität nachdenken zu wollen, am direktesten betroffen. Dem Prinzip der Negativität verdankt sich die enorme Beweglichkeit, die an Hegels Denken erstaunt, und im Vergleich mit der sich die Denkungsart der Kritiker zumeist wie eine intellektuelle Immobilie ausnimmt. Ihm sind aber auch gewisse Schranken geschuldet. So bleibt seine Dialektik eine dichotomische, darin hält sie es mit der von ihr so oft verschmähten traditionellen Logik. Dialektik muß dichotomisch bleiben, solange sie der Negation huldigt, deren Zweiwertigkeit das Logiklehrbuch per Matrix beteuert. Es blamiert die Dialektik nicht, daß man ihr Schranken vorhalten kann. Wie sollte ausgerechnet von ihr die fertige Form erwartet werden dürfen? Dialektik tendiert dazu, sogar ihr Wesen zu ändern. Diese Neigung läßt zumal das Prinzip der Negativität erkennen. Seine Figur – daß ein Jedes das Negative seiner an sich hat und ebendeshalb über sich hinausweist – muß das Prinzip selbst auch durchlaufen. Negativität wäre alles andere als dialektisch, triebe sie nicht von sich aus über Negativität hinaus. An dieser Stelle setzt besagtes Hintergrundmotiv ein: Wenn etwas über eine Dialektik, deren Grenzen das Prinzip der Negativität gezogen hat, hinausführt, dann das Sinnen auf die in Negation keinesfalls aufgehende Nihilität. Und es käme alles andere als verwunderlich, wenn einem in dieser Suchrichtung die anderen dialektischen Figuren – die Kunst des schlüssigen Erfindens und die Kunst, fragend das Denken ins Offene zu stellen – auf neue Weise begegneten. Aber das soll einstweilen ein hintergründiges Motiv bleiben.

Bevor ich nun anfange, erklärte Absichten auszuführen, stellt sich noch die alte Frage nach dem Anfang in der Philosophie. Sie zielt eigentlich auf das Anfangen des Philosophierens. Jeder philosophische Gedankengang hat dort anzufangen, wo Philosophieren anfängt. Womit fängt es an? Damit, etwas Selbstverständliches als unselbstverständlich zu gewahren, um sich schließlich seiner vergewissern zu müssen. Indem von etwas Selbstverständlichem gewahr wird, wie unselbstverständlich es sich näher besehen ausnimmt, wie rätselhaft, merkwürdig, fragwürdig, entsteht jenes Staunen, mit dem nach Meinung der Alten alles Philosophieren beginnt. Durch ein Staunen vermittelt, ist Philosophieren lustvoll. Daß es sich in dieser einen Bestimmung so wenig erschöpft wie in jeder anderen, versteht sich. Es genügt an dieser Stelle, das Philosophieren von seinem Anfang her zu charakterisieren. Der aber liegt darin, Selbstverständliches unselbstverständlich zu machen und dieserart die Vergewisserung heraufzubeschwören. Die Philosophie kennt keinen aparten Gegenstandsbereich, schon gar nicht einen von größter Allgemeinheit. Philosophieren kann man über ein einziges Individuum, sogar mit Befunden, die allein seiner Einzigartigkeit gerecht zu werden suchen. Genuin philosophische Fragen lassen sich weder gegenständlich eingrenzen noch gleichsam dingfest machen. Worin besteht zum Beispiel ein philosophisches Fragen nach der Zeit? Selbst nach dem Wesen der Zeit wird nur allzuoft hoffnungslos unphilosophisch gefragt. Von welcher Art der Bewegung die Zeit ihrem Wesen nach sei, von der Art der Kinesis oder der Metabole? Das ist so eine Frage – Ilja Prigogine hat sie zugunsten der Metabole entschieden13 – eine von den ganz und gar unphilosophischen Wesensfragen; arglos nimmt sie die ausgesprochene Selbstverständlichkeit hin, daß die Zeit halt vergeht, verrinnt, verläuft und schon deshalb irgendeine Art von Bewegung ausmachen muß, wenn nicht die eine, dann die andere, auf alle Fälle eine der Bewegung. Aber wenn die Zeit für eine Bewegung gehalten werden dürfte, müßte sie doch wie jede Bewegung in der Zeit geschehen. Die Zeit müßte dann noch ihrerseits eine Zeit haben. Und soweit man die Zeit selbst wieder in der Zeit geschehen sieht, hat man die Frage nach ihr offenkundig mehr vor sich hergeschoben als beantwortet. In Überlegungen wie dieser geriet für Aristoteles, Plotin, Bolzano eine Selbstverständlichkeit von besonderer Hartnäckigkeit höchst unselbstverständlich. Erst die daraus entspringende Frage gehört zu den eigentlich philosophischen. Wie läßt sich die Zeit anders als Bewegung begreifen, mithin anders auch als jene Bewegung, die Ruhe genannt wird, obwohl es jenseits von Bewegung und Ruhe gar nichts geben zu können scheint? Erst die erlebte und in Erstaunen versetzende Fragwürdigkeit des bis dahin fraglos Gewissen stiftet genuin philosophische Fragen. Unter den kunstvollen Weisen des Philosophierens verdanken viele ihre geistesgeschichtliche Wirkungsmächtigkeit namentlich der Kraft, die sie gegen den Sog des Selbstverständlichen aufzubieten helfen. Die Antinomik etwa, die Immanuel Kant gerne im Kanon der Philosophie etablieren wollte, weil sie die Vernunft zur Selbstprüfung nötigt, sie mit der Nase darauf stößt, wie tief sie noch in gemeinen Menschenverstand verstrickt ist, vor allem in die ihm so selbstverständliche Annahme, bloße Erscheinungen für Dinge an sich selbst halten zu dürfen.14 Oder die transzendentale Epoché, die Edmund Husserl praktiziert hat, um sich des Selbstverständlichen in der Form des natürlichen Seinsglaubens zu enthalten.15 Oder der von Ludwig Wittgenstein aufgegebene Kampf gegen die Verhexung unseres Denkens durch die Sprache16, der doch gerade deshalb geführt werden muß, weil das Selbstverständliche sein mitunter schon grauenhaftes Beharrungsvermögen nicht zuletzt aus der Festschreibung, aus sprachlicher Fixierung bezieht. Des Thomas methodische Antithetik, Hegels Anspruch, das Bekannte erst noch erkennen zu müssen, Martin Heideggers Art, die philosophischen Auffassungen im Hinterfragen und Überschreiben vulgärer Auffassungen zu gewinnen – alles Weisen der Verunselbstverständlichung. In der Haltung zum Selbstverständlichen differiert Philosophie von vornherein mit Wissenschaft. Wissenschaft strebt danach, sich gleichsam wie ein Hochhaus auf bebensicherem Fundament aufzutürmen. Ihre Legitimation steht und fällt damit, ihr Anspruch auf Exaktheit, auf Beweiskraft, auf überlegenes Expertenwissen. So trachtet sie nach gesicherten Grundlagen, sucht nach Ausgangspunkten von einer über allen Zweifel erhabenen Gewißheit. Solche Gewißheit läßt sich allein in zwei Sphären finden. Beim Glauben oder beim Selbstverständlichen. Aufgeklärt wie man ist, hat man sich für das letztere entschieden und verleiht ihm seriöse Taufnamen, nennt es die Axiome, die Lemmata, das Evidente, die gesicherten Protokollsätze, die absoluten Daten, die zuverlässigen Quellen. Natürlich hat die Wissenschaft in ihrer ertragreichen Geschichte so manche Selbstverständlichkeit überführt – etwa die von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang auf das Sinnfälligste bezeugte Bewegung der Sonne um die Erde – ja, strenge Wissenschaft muß einfach jeweils bestimmte Selbstverständlichkeiten überführen, um das Ihrige zu vollbringen, sie kann das aber nur zu dem Preis leisten, dafür bei jeweils anderen ihre fraglos gewissen Ansätze zurückgewinnen zu wollen. Die Philosophie geht anders vor. Sie trachtet nicht nach Ausgangspunkten und Grundlegungen von unzweifelhafter Gewißheit. Es sei denn, man versucht sie wissenschaftlich zu betreiben, wie das René Descartes mustergültig vorgegeben hat, mit seinem Versuch, beim Ich-denke eine gegen Zweifel resistente Urprämisse festzuschreiben, um dabei prompt einer Selbstverständlichkeit aufzusitzen, die inzwischen von einer echten Wissenschaft mit unverkennbarer Süffisanz demontiert wird, der Unterstellung nämlich, daß ich es bin, der denkt, wenn ich sage und meine, daß ich denke. Anstatt bei Grundlegungen von zweifelsfreier Gewißheit zur Ruhe kommen zu wollen, ist Philosophie die Furie unentwegter Vergewisserung. Die Sicherheit, die sie zu bieten hat, besteht vornehmlich in der Aussicht, ihr vergewisserndes Tun mit Sicherheit fortzusetzen. In der Wissenschaft darf man unbehelligt einen Ansatz damit rechtfertigen, daß er von selbst einleuchtet, daß er evident ist. In der Philosophie gibt es kaum etwas, das so unlauter anmutet wie dies. Noch in ihren Gefilden auf Selbstverständlichkeit zu pochen, grenzt an Dummheit, an die Manier, Grenzen zu verkennen, die zu erkennen man eigentlich intelligent und gebildet genug ist. Das Selbstverständliche versteht sich gern von selbst, d. h. grundlos. Philosophie läßt den klammheimlich erhobenen Anspruch, grundlos gelten zu dürfen, nicht gelten, indem sie erst dem Unselbstverständlichen traut. Dadurch ist sie von Anfang an rational. Gleichwohl sie am Ende sogar die selbstverständlich gewordene Formel Nihil est sine ratione unselbstverständlich machen wird, um womöglich doch noch auf etwas Grund- und Bodenloses zu stoßen. So ist sie rationalen Geblüts, aber nicht rationalistisch. Wie sie schon lustvoll ist aber nicht unbedingt hedonistisch. Wissen ist Macht, sonderlich wenn es sich von selbst versteht. Auf das selbstverständliche Wissen stützt sich mancherlei Macht, zumal die Diktatur des Man, die im trendbewußten Diskursbetrieb leichtes Spiel hat. Mit der bekommt Philosophie, die auf sich hält, zu tun.

Das Selbstverständliche hat seinen angestammten Platz, seinen typischen Ort, nicht überall ist es zu Hause. Wenn ich Gedankenstränge, theoretische Netzwerke oder die mentalen Strukturen ganzer Lebenswelten durchmustere und auf Selbstverständliches hin inspiziere, finde ich es weniger in Konsequenzen, Konklusionen und Ausläufern als vielmehr in den jeweiligen Denkeinsätzen, Ausgangspunkten und Fundamenten. Richtig heimisch ist es in den eher stillschweigend als ausdrücklich gemachten Voraussetzungen derselben. Dort breitet sich seine einheimische Sphäre aus, in alldem, was ausgesprochene Grundsätze, Grundüberzeugungen, Grundbegriffe, unausgesprochen unterstellen. In der natürlichen Einstellung, im kulturgeschichtlich sedimentierten Apriori, im Horizont von Lebenswelten und anderen Kulturräumen. Dort liegt es verborgen, verborgen durch entrückende Ferne oder blind machende Nähe. Die Philosophie, die ihm von Anfang an nachstellt, hat schon deshalb über kurz oder lang mit Fundamentalem, mit sogenannten letzten Dingen zu schaffen. Allerdings, und das erheischt mindestens gleichstarke Betonung, sie befaßt sich mit ihnen doch nicht geradezu, nicht auf schlicht definierende, klassifizierende, kompilierende Weise, sondern so, wie sie gerade in ihrer Fundamentalität, im Status des Grundlegenden durchsetzt und untersetzt sind mit lauter von selbst einleuchtenden, fraglos gewissen Unterstellungen, und sei es nur mit der Unterstellung, daß es sich bei ihnen um Grundlegendes handelt. Begriffe, die wie der des Seienden als grundlegende gelten, kann man auf das Genaueste definieren, kompilieren und klassifizieren ohne eine einzige philosophische Überlegung angestellt zu haben. Keiner dieser Begriffe verbürgt von sich aus den philosophischen Gebrauch. Philosophisch statt bloß weltanschaulich werden sie gebraucht, nicht ohne sie als Hort und Bastion der Selbstverständlichkeit auszumachen und in eine vergewissernde Bewegung hineinzuziehen. Beides zusammengenommen, der einheimische Ort der hartnäckigsten Selbstverständlichkeiten einerseits und der typisch philosophische Umgang mit ihnen andererseits, macht das Philosophieren zu einem Tun, das am treffendsten das alte Wort metaphysika herauskehrt. Die Fügung von meta und physika verstand sich urtümlich vordergründig örtlich und durchdringend gegenständlich, indem sie zunächst dasjenige auszeichnet, was nach der physis komme und als solches zum Gegenstand einer aparten Disziplin erhoben zu werden verdiene. Später dann verstand sie sich eher inhaltlich, als eine eigentümliche Figur, als eine gewisse Wendung; ganz ähnlich dem Umschlagen und Hinausgehen, das der Begriff der Metabole assoziiert. 17 Diesen Sinnes meint sie das Sichabwenden von der physis und gleichzeitige Sichhinwenden zu etwas anderem. Vom Seienden der physika sich abzuwenden, wegzuwenden, und zugleich zu einem anderen sich hinzuwenden; hin zu einem anderen Seienden und zum Seienden überhaupt, hin vielleicht auch zu einem eigentlich Seienden, hin schließlich aber zu alldem, was es jenseits vom Seienden zu denken gibt. Dies meinend, kehrt die alte Wortfügung in der Tat eine Wendung und Figur heraus, die das Philosophieren von Anfang an vollführt und durchläuft. Es ist, als würde man die typisch metaphysische Figur näher ausformulieren, wenn man sie eingedenk dessen, wie Philosophieren anhebt, folgendermaßen überschreibt: Vom Seienden der physika in seiner ganzen Selbstverständlichkeit sich abwenden, zugleich sich ihm erst zuwenden, sich ihm als einem anderen, weil unselbstverständlich gewordenen zuwenden – so wie es eben anders als von selbst sich versteht, anders als fraglos gewiß sich darbietet – sich mithin seiner vergewissern, um in der Vergewisserung seiner selbstevidenten Aura bei etwas ganz anderem anzulangen, jenseits des Seienden nämlich. In der Richtung solcher Wendung winkt dem Denken die unselbstverständliche Wahrheit18, die Wahrheit der Vergewisserung, die kurz Weisheit heißt. So ist Philosophieren von vornherein metaphysisch und der Begriff der Metaphysik der passende Beiname für klassisches (oder neoklassisches) Philosophieren.

Meine Untersuchung wird konsequenterweise bei einer besonders hartnäckigen, um nicht zu sagen, ordinären Selbstverständlichkeit einsetzen. Mich ihrer vergewissernd, stoße ich auf ein eher unselbstverständliches Gebilde. Auf die Differenz von Differenz und Unterschied. Innerhalb dieser Differenz findet sich das Seiende und Nichtseiende plaziert, aber nicht allein das, sondern auch etwas, das zu beiden neutral, ja jenseitig steht, und das nach einer auf die Stoa zurückgehenden Anregung als das Etwas bezeichnet werden soll. All das, was ist bzw. nicht ist einerseits, und das Etwas, das es gibt, andererseits. Dieser Teil des Buches trägt den traditionellen Titel Einführung, treffender wäre er als Heranführung bezeichnet. Er führt an den Punkt heran, an dem sich begründet die Frage nach dem Nichts stellt. Bei der Figur Es-gibt-Etwas drängt sie sich auf. Ein durch seine Selbstverständlichkeit fast unmerkliches Es, jenes Es, das gibt, wenn es Etwas gibt, steht mir für das Nichts. Davon handelt dann der zweite Teil des Buches. Nachdem ich vom Seienden zum Etwas und von diesem wiederum zu der Frage nach dem Nichts vorgedrungen bin, steht im dritten Teil eine Art Reise rückwärts an. Sie führt zurück zu etwas, das es anders als das Nichts in der Tat gibt, zu dem Etwas namens Zeit.

EINFÜHRUNG

Differenz von Differenz und Unterschied

1 Um wie angekündigt bei einer Selbstverständlichkeit einzusetzen: Alles Seiende – alles, was existiert, was ist – unterscheidet sich, findet sich von seinesgleichen und in sich unterschieden. Überall Unterschied. Sogar Identitäten könnte es hier nicht geben, ohne sich voneinander zu unterscheiden und wenigstens dieserart den Unterschied an sich zu haben. Allenthalben Unterschiedenheit. Nicht, als würde diese Feststellung eine eherne Gewißheit hergeben, einen über allen Zweifel erhabenen Ausgangspunkt markieren. Es handelt sich wirklich bloß um eine Selbstverständlichkeit; fraglos gewiß und von selbst einleuchtend. Vor allem in folgendem Sinne. Selbstredend ist das, was auf Anhieb Unterschied genannt wurde, genau genommen vielerlei: Verschiedenheit, Kontrast, Divergenz, Disproportion, Distanz Andersheit, Abweichen und Abheben, Gegensatz, Dissonanz, Dissens, Dissimination usw. usf. Aber selbstredend zieht sich durch all dies eines hindurch, eines kommt in allem vor, spielt in allem mit. Daß dem so ist und was das ist, trägt der Sprachgebrauch vor sich her. Ein Kontrast, eine Ungleichheit, ein Dissens usw. macht selbstredend zugleich einen Unterschied aus, während ein Unterschied nicht unbedingt zugleich einen Kontrast, eine Ungleichheit, einen Dissens usw. ausmacht. Gleichviel also, ob jene Vielheit durchweg aus den besonderen Formen einer allgemeinen Beziehung besteht, oder aus den zahlreichen Abkömmlingen eines Grundverhältnisses, oder ob sie eine Familie von vielen nahen und entfernten Verwandten bildet, so oder so ist sie die Vielheit von Einem, und dieses Eine heißt im Deutschen Unterschied. Die Vielheit von Einem, das Unterschied heißt – das ist die einschlägige von Selbstverständlichkeit gezeichnete Figur. Allenthalben der Unterschied in seiner ganzen Vielgestaltigkeit. Dazu paßt es, wenn Hegel von der Verschiedenheit über den Gegensatz bis zum Widerspruch lauter verwandelte Formen des Unterschieds ausmacht19, lauter Formen, die zwar keineswegs vollständig sich zurückführen lassen auf den einfachen Unterschied, aber doch gleich Metamorphosen auf ihn zurückgehen. Von selbst versteht sich sicherlich nicht die schon recht anspruchsvolle Idee der Metamorphose, wohl aber die schlichte Figur, die sie auf ihre Weise ausführt. Was immer auch nur entfernt an ein Scheiden, ans Diskontinuierliche erinnert, wird unbedingt eine Form, eine Gestalt, einen Abkömmling jenes Einen darstellen, das als Unterschied bezeichnet gehört. Es gibt ganz selbstverständlich die Unterschiedenheit mit ihrer schier unübersehbaren Vielgestaltigkeit, und einschlägig gibt es nur sie, so daß alles, was einschlägig überhaupt in Betracht kommt, zu ihren Formen oder Gestalten und Ablegern gehören muß. Das mag erklären, weshalb der von romanischen Philosophien inspirierte emphatische Differenzbegriff innerhalb deutschsprachiger Diskurse weithin wie ein bloßes Synonym für den angestammten Begriff des Unterschiedes gehandelt und hantiert wird, wie das passende Fremdwort zum urtümlich deutschen Ausdruck, bestenfalls aber zur Auszeichnung besonders tiefgehender Unterschiede. Das kommt, weil selbstverständlich auch der Begriff der Differenz nur einen Unterschied bzw. eine Art von Unterschied meinen kann. Allein, die Selbstverständlichkeit hat etwas von Hinfälligkeit an sich; so massiv sie sich prima vista aufdrängt, so unselbstverständlich gerät sie zu Ende gedacht.

2 Man braucht lediglich bei dem angesprochenen Seienden, das sich allenthalben unterscheidet, weiterzudenken, braucht nur einige wenige Denkschritte weiterzugehen, um auf eine Frage zu stoßen, in Gestalt derer die so selbstverständliche Allgegenwart von Unterschied höchst unselbstverständlich wird. Auf eben die Frage war Martin Heidegger gestoßen, bei einem wiederholt angestellten Gedankengang über Sein und Seiendes, der üblicherweise unter dem begrifflichen Titel der ontologischen Differenz gelesen und gedeutet wird. Heidegger hat nämlich nicht nur besagte Differenz behauptet, um sie begreifen zu können, hat er sich zudem in besonders lichten Momenten gefragt, ob sie noch einen richtiggehenden Unterschied ausmacht, ob sie vielleicht jenseits von Unterschied gedacht werden muß, jenseits der ganze Unterschiedenheit samt ihrer Formenvielfalt. Um den Punkt zu erinnern, an dem die Frage aufbricht. Offenkundig läßt sich Seiendes ohne Sein unmöglich denken. Ebenso unmöglich kann das Sein seinerseits sein. Das Sein will mithin anders als ein Seiendes, anders als ein bloßer Spezialfall des Seienden gedacht werden. Seiendes ist, das Sein hingegen gibt es. Wenn sich das so verhält, dann muß der Unterschied, der Seiendes gegen Seiendes abhebt, ganz anders ausfallen als die Differenz von Sein und Seiendem. Diese Differenz und jener Unterschied müßten sich dann sogar als von ganz anderer Typik, ja von anderer Wesensart erweisen. Der Unterschied zwischen Seiendem und Seiendem bleibt stets einer zwischen zwei im Grunde gleichen Gegenständen, er bleibt ihrer Identität untergeordnet. Anders die Differenz von Sein und Seiendem. Die gilt es gerade in der nämlichen Hinsicht anders zu denken, wenn denn das Sein vor Verwechslung mit einem Seienden bewahrt gehört. Aber darf sie dann überhaupt noch wie ein Unterschied gefaßt werden? Mit dieser Frage ist die Selbstverständlichkeit einer Allgegenwart von Unterschiedenheit bereits dahin. Freilich liegt es immer noch verführerisch nahe, die Frage bejahend zu beantworten und einfach zwei Arten des Unterschiedes anzunehmen, bei den sezierten Bezügen von zweierlei Sorten der Unterschiedenheit zu sprechen. Der Unterschied zwischen Seiendem und Seiendem als die eine Sorte, die Differenz von Sein und Seiendem als die andere. Mit einer solchen Deutung wäre die gerade fragwürdig geratene Selbstverständlichkeit noch einmal bekräftigt, und es entspricht der Sogkraft des Selbstverständlichen, zu seiner Apologetik zu verführen. Heidegger widersetzt sich der Verführung, geht einen begriffsstrategisch bedeutsamen Schritt weiter. Eine Passage in seiner Hegellektüre20 zeigt das besonders deutlich. Dort legt er sich die Frage vor, ob man von einem Unterschied zwischen Sein und Seiendem sprechen kann, ob also die ontologische Differenz ebensogut als ein bestimmter Unterschied aufgefaßt werden darf. Die Antwort fällt abschlägig aus. Im gegebenen Fall von einem Unterschied zu sprechen, heißt es, würde bedeuten, eine nur vordergründige und in Wahrheit verderbliche Fassung des Verhältnisses von Sein und Seiendem zu wählen. Solche Rede verbiete sich, weil der Unterschied, und zwar jeglicher, die Unterschiedenen gleichsetze. Man kann nicht unterscheiden, ohne die Unterschiedenen vorab schon in einer Hinsicht gleichgesetzt zu haben und ihre Gleichheit als wesentliche, grundsätzliche oder sonstwie fundamentale zu unterstellen. Sein und Seiendes im Verhältnis des Unterschiedes zu wähnen, bedeutete daher unweigerlich, die beiden unterderhand gleichzusetzen, sie als im Prinzip gleichartige zu unterstellen, um gerade auf diese Weise das Sein doch noch dem Seienden zuzuschlagen.21 Was aber doch tunlichst vermieden werden sollte. Nimmt man die nachgelassene Entscheidung an, muß man sich auf folgende Konsequenz einlassen. Die Beziehung des Seins zum Seienden gilt es dann als eine Differenz zu denken, die keineswegs mit einem Unterschied verwechselt werden will, von der es vielmehr heißen muß: Differenz statt Unterschied. Wenn die terminologische Entscheidung aufrecht erhalten werden kann, müßten wir eine unverwandt anmutende Konstellation allen Ernstes ins Auge fassen: Wir hätten dann eine Differenz von Differenz und Unterschied anzunehmen bzw. einen Unterschied zwischen Unterschied und Differenz. Womit Differenz natürlich aufhörte, als bloßes Fremdwort für Unterschied zu dienen.

3 Tatsächlich läßt sich jene terminologische Entscheidung aufrechterhalten, sie empfiehlt sich sogar der Kanonisierung. Das deutsche Wort Unterschied, mit der ihm eigentümlichen Verknüpfung von unter und scheiden, taugt ja sinnfällig dazu, eine ebenso eigentümliche Geschiedenheit auszuzeichnen. Unter-Scheiden, das bezeichnet doch die Scheidung unter Einem, die untergeordnete Geschiedenheit. Erst in dieser eingeschränkten Bezugnahme erfüllen sich die vorgängigen Bedeutungen der zusammengefügten Worte. Unterschied, so darf es heißen, ist das der Identität subsumierte Scheiden. Dagegen läßt sich die Differenz als eine abheben, die der Subsumtion zuvorkommt. Nach alldem wirkt es abgeschmackt, das Denken der Differenz mit einer Vorliebe für tiefere Unterschiede zu verwechseln. Vielmehr verheißt und verlangt es, etwas zu denken, das noch mit der Unterschiedenheit differiert. Gerade auf die Differenz von Differenz und Unterschied kommt es an. Allerdings macht die sprachliche Wendung Unterschied und Differenz allein im Deutschen einen Sinn, sie steht nicht zu Gebote, wo mit romanischer Zunge philosophiert wird. Aber die Idee, das Scheiden seinerseits geschieden zu sehen, und zwar so, daß es in einem Falle der Identität untergeordnet ist, während es im anderen Falle solcher Unterordnung zuvorkommt, diese Idee entwickelte sich gerade in der französischen Philosophie zur Blüte. Dafür steht vor allem der von Gilles Deleuze unternommene Vorstoß, eine reine Differenz gegen, sozusagen, unreine Differenzen abzusetzen22, sowie Jacques Derridas berühmte Begriffs- und Lautbildung différence / différance.23 Es liegt nun nahe, eine Synonymität zu vermuten, das romanisch gestimmte Paar différence / différance und die an einer deutschen Lautung festgemachte Begrifflichkeit von Unterschied und Differenz für quasi synonym zu erklären. Immerhin heißt es über die différance, sie sei kein gegenwärtig Seiendes und falle unter keine der Kategorien des Seienden24, während der différence die Bindung zum Seienden gleichsam auf der Stirn geschrieben stehe, und dieser Vergleich stimmt mit dem artikulierten Sinn des Paares Differenz / Unterschied auffällig gut zusammen. Deshalb gleich von Synonymität zu sprechen, als ließen sich die nämlichen Begriffspaare verlustlos ineinander übersetzen, bedeutete allerdings eine gewisse Roheit gegen das jeweils eigentümliche muttersprachliche Klangmaterial, mit dem in beiden Fällen erklärtermaßen gearbeitet wird. Aus dem gleichen Grund kann es sich viel weniger noch um konkurrierende Begrifflichkeiten handeln. Es wird eine Verwandtschaft bestehen, von Synonymität und Konkurrenz gleichermaßen weit entfernt.

4 Die geläufige Gleichsetzung von Unterschied und Differenz wird im vorliegenden Text also aufgegeben – zugunsten der Differenz von Differenz und Unterschied. Aber dieser Schritt läßt sich nur gehen, indem eine weitere Differenzierung mitgedacht wird. Wiederholung und Identität müssen gleichfalls auseinandergedacht werden, und zwar so, daß diese mit der Unterschiedenheit korreliert und jene mit der Differenz. Unterschied und Identität einerseits, Differenz und Wiederholung anderseits – eingebettet in die beiden Korrelationen lassen sich die in Rede stehenden Begriffe der Geschiedenheit gegeneinander absetzen. Die deutsche Lautung Unter-Scheiden vermag sinnfällig zu stehen für die Geschiedenheit unter Einem. Unterschied, das kann und soll die untergeordnete Differenz bedeuten. Untergeordnet worunter? Der Punkt muß genauer formuliert werden, als das zuvor geschah. Der Unterschied ist die der Wiederholung subsumierte Differenz. Und sofern die Wiederholung diese Rolle spielt, muß sie gleichfalls eine aparte Gestalt annehmen. Die Differenz dominierend und zum Unterschied herabsetzend, gerät die Wiederholung hypertroph, wächst sie zur Selbigkeit aus. Selbigkeit, das soll die dominante Wiederholung bedeuten. Dieser Begriff bildet das Pendant zum altgriechischen Ausdruck tautotes und zu der spätlateinischen Bildung identitas, von der sich im Deutschen das einschlägige Fremdwort der Identität herleitet. Unterschied einerseits und Selbigkeit (oder Identität) anderseits, das ist die eine Korrelation. Wie der Unterschied in der herabgesetzten Differenz besteht, so die Selbigkeit in der überhöhten Wiederholung. Aber diese Korrelation unterstellt offenkundig, es ließen sich Differenz und Wiederholung auch ohne das vertraute Antlitz des Unterschiedes und der Selbigkeit denken, es gebe ein Differieren und Wiederholen, dem das Unter- und Überordnen per se abgeht. Das ist gemeint. Wo Differieren und Wiederholung stattfindet, handelt es sich nur bedingt um Unterschied und Identität. Was sie per se ausmachen, worin sie unmittelbar bestehen, davon wird ausführlicher noch zu reden sein. Zunächst hält sich der Gedankengang vordergründig an die vertrauten Gesichter, die sie uns gemeinhin zuwenden. Deren Begriffe beziehen sich auf ein und nur ein Verhältnis. Dasjenige Verhältnis, das von Seiten der Wiederholung die Selbigkeit genannt zu werden verdient, muß von Seiten der Differenz als Unterschied bezeichnet werden. Die Selbigkeit, also die der Differenz obwaltende Wiederholung, macht dasselbe Verhältnis aus wie der Unterschied, dieselbe Beziehung wie die der Wiederholung unterworfene Differenz. Was sollte die Selbigkeit auch anders vermögen, als im Vergleich mit allem Vergleichbaren dasselbe zu sein? Der Unterschied als solcher dagegen muß sich von der Selbigkeit unterscheiden; er kann in jeder Hinsicht nur halten, was sein Name verspricht, er vermag sich von allem immerfort nur zu unterscheiden. Insoweit fällt das Verhältnis, das allein eines ist, asymmetrisch aus und verrät darin die edlere Herkunft. Schließlich und endlich erweist sich der Unterschied zwischen Unterschied und Selbigkeit aber doch als die bunte Vorderseite einer tristen Kehrseite, als die schillernde Front der fahlen Selbigkeit von Selbigkeit und Unterschied.

Es ist – Unterschiedenheit resp. Entität

5 Weil und insofern etwas unterschieden ist, ist es überhaupt. Nur das Unterschiedene ist – in dem emphatischen Sinne des Seienden. Etwas ist, ist da, ist so oder so bzw. es hat Sein, hat Sosein und Dasein, es existiert, wie man nicht selten und in durchaus problematischer Weise zu sagen pflegt, sobald und solange es sich unterscheidet. In der Unterschiedenheit liegt das Bleiben, das etwas zu etwas Seiendem macht. Darin, daß die Wiederholung dominiert und das Differieren sich also unter der Wiederholung hält, im Rahmen der Wiederholung bleibt, liegt jenes Bleiben, das dazu berechtigt zu sagen: es ist. Den Namen Seiendes trägt etwas mit Fug, weil und insofern es sich unterscheidet und dieserart bleibt. Was man in der Tradition Dasein genannt hat, das liegt also hinlänglich in einem So, in dem So der Unterschiedenheit. Dieses So, und nur das, stiftet Dasein. Und ein So, das Dasein verbürgt, macht jene Figur aus, die traditionell Sosein genannt ward. Parmenides sagt, nur Seiendes ist.25 Das besagt viel mehr als die tautologische Versicherung, daß all das, was ist, in der Tat ist. Der Spruch des Eleaten meint, es verbiete sich, allem Erdenklichen zuschreiben zu wollen, daß es sei. Im Falle des Nichts beispielsweise ginge die Zuschreibung fehl. Allein das Seiende ist. Und weil es sich verbietet, allem Erdenklichen einzuräumen, zu sein, erhebt sich die Frage, wann es sich denn um dasjenige handelt, von dem sich mit Recht behaupten läßt, daß es ist, wann und wo oder unter welchen Bedingungen es sich bei etwas um etwas Seiendes handelt. Daß allein Seiendes ist und keineswegs alles Erdenkliche, darf a priori für wahr gelten26, nur, wann macht etwas allen Ernstes etwas Seiendes aus? Die vorgeschlagene Antwort lautet: Wenn es etwas Unterschiedenes ausmacht, also etwas, das kraft subsumierter Differenz ein Bleiben hat. Ausschließlich dieses ist. Auf Augustinus27 geht eine Denkfigur zurück, die in der Kurzfassung namentlich René Descartes bekannt gemacht hat. Voller Zweifel fragt man sich: existiere ich überhaupt, bin ich? Schon um daran zweifeln zu können, muß ich allerdings zweifelsfrei denken, und denke ich, so bin ich doch. Der Schluß unterstellt, wer denkt, müsse deshalb auch sein, damit er denken kann, müsse er erst einmal existieren. Der Denkende ist notwendigerweise, das wird unterstellt. Mit welchem Recht jedoch? Soweit Denken als eine Lebensäußerung vollzogen und Denkkraft als Lebenskraft verausgabt wird, müssen die Denkenden sicher leben, aber wieso soll Leben unbedingt Existenz verbürgen, warum sollte zu leben unbedingt heißen, zu sein? Die Frage mag als überflüssig erscheinen, weil das Erfragte selbstverständlich anmutet, für den Fall machte es sich der Vernunft gerade durch seine Selbstverständlichkeit verdächtig. Nach der vorgeschlagenen Konditionierung für den Begriff des Seienden müßte das Leben, um durch seinen Vollzug Entität zu verbürgen, typischerweise in niederbeugenden Unterschieden und fixierenden Identitäten verlaufen. Aber kaum etwas erliegt dieser Fixierung weniger als das Leben. Und was das Denken als solches betrifft, unabhängig von einer unter Umständen ausbedungenen Lebendigkeit denkender Wesen: an Entität gebunden findet es sich allein in einer Form, in der Form des Bewußtseins, soweit es als Element oder Teil oder Gestalt des Bewußtsein sich vollzieht. Ausschließlich in dieser Form läuft das Denken vordergründig in den Bahnen des Unterscheidens und Identifizierens ab, innerhalb derer es an Seiendes gebunden ist und seinerseits richtiggehend ist. Nur ein ganz engherziges Denken über das Denken kann dieses so unentrinnbar zwischen Unterscheiden und Identifizieren eingeklemmt sehen, daß sein zweifelsfreier Vollzug hinlänglich dazu berechtigen dürfte, es selbst wie schon das Gedachte für seiend zu halten, und den Denkenden gleich inklusive. Eine Formel wie esse est percipi28 läßt sogar den Versuch einer Antwort auf die Frage nach dem Zu-sein vermissen, es sei denn, Wahrnehmen und Empfinden geschehen unbedingt als Unter-Scheiden. Von sich aus impliziert das Es-ist weder Objektivität noch Subjektivität, notwendigerweise unterstellt es nur die Unterschiedenheit, die ihrerseits zur Objektivität und Subjektivität völlig gleichgültig steht. Wer sagt, die für seiend gehaltenen Dinge würden subjektiv fingiert, imaginiert, konstruiert, oder aber, diese Dinge existierten doch objektiv, sagt über das, was sie zu seienden macht oder machen könnte, kein Wort. Auch kein einschränkendes Wort. Das fingierte Seiende gar für ein eigentlich Nichtseiendes zu nehmen, bedeutete ein vollständiges Mißverständnis der Entität. Man hat am Gebrauch des Wortes ist Gebrauchsweisen ausdifferenziert. Gottlob Frege schied seinen Gebrauch als bloße Kopula von seinem Gebrauch als Ausdruck logischer Gleichungen29, Bertrand Russell differenzierte zwischen seiner prädikativen und seiner existentiellen Verwendung30, Ludwig Wittgenstein sah es in dem Satz, Die Rose ist rot, auf andere Weise gebraucht als in der Gleichung, 2 mal 2 ist 4.31 In welcher Richtung immer das Ausdifferenzieren diverser Gebrauchsformen von ist unternommen und weitergetrieben werden mag32, es unterscheidet Unterschiedenheit, scheidet solche von solcher Unterschiedenheit. Die Aussage, S ist, die soviel meint wie, S existiert, und die damit die sogenannte existentielle Anwendungsform des Wortes ist bildet – sie bedeutet, daß etwas überhaupt als ein Unterschiedenes figuriert. S ist P – die sogenannte prädikative Verwendungsform – bedeutet dagegen näher und bestimmter schon: Etwas unterscheidet sich von etwas wie von sich selbst, oder wie von einem anderem an ihm. Etwas unterscheidet sich also von etwas als es selbst vom anderen an ihm. So figuriert dieses als ein Prädikat, das jenes an sich hat.

6 Ohne Unterschiedenheit also keine Entität – kann man dafür auch sagen: Ohne Identität keine Entität? Letztere Formulierung gab Willard Van Orman Quine33 einem Gedanken, um dessen willen sich zahlreiche Autoren zitieren ließen.34 Die zitierte Formel hat ihre Richtigkeit. Ohne Selbigkeit keine Seiendheit, darin faßt sich der vorstehende Gedankengang sehr wohl nach einer Seite hin zusammen. Allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die Selbigkeit wahr gedacht wird – als Schatten der Unterschiedenheit. Die Herabsetzung der Differenz, ihre Erniedrigung zum Unterschied macht das ontische Grundgeschehen aus, das die Kultur des seßhaften Menschen charakterisiert. Von daher versteht sich Selbigkeit resp. Identität, allein von daher. Unter-Scheiden wirft Identität ab. Und wie schon die Identität von der Unterschiedenheit her gedacht werden will, so erst recht die Entität. Interessanter als Quines Formel wirkt ohnehin die Umkehrung, die Donald Davidson vorgenommen hat: Ohne Entität keine Identität35. Nachgerade verheißungsvoll erscheint sie im Kontext der vorstehenden Thesen über Differenz und Unterschied. Vor diesem Hintergrund mündet sie in eine Konsequenz ein, die ihrem Autor allerdings nicht vorgeschwebt haben muß. Mit einer zur epigrammatischen Intonation berechtigenden Emphase zu sagen, ohne Entität keine Identität, macht erst Sinn, wenn es etwas gibt, das Entität vollständig vermissen läßt, wenn sich also etwas denken läßt, das man unter dem Seienden vergeblich sucht, dem Entität vollends abgeht, und das es dennoch gibt. Bar aller Entität und doch gegeben. Angesichts seiner kann dann sinnvoll betont werden, ohne Entität auch keine Identität; soweit jenes etwas die Entität vermissen läßt, insoweit auch eine Identität. Um danach mit der Folgerung fortzusetzen: Was es in der Tat gibt, obschon ihm Entität abgeht, das müßte sich anders verstehen als etwas Identisches und Unterschiedenes. Ein richtiggehendes Gegebenes und doch anders als ein Unterschiedenes / Identisches. Eine wirklich verlockende Aussicht, der ich mich allerdings nicht sogleich hingeben kann; vorerst habe ich mich noch an das Unterschiedene und mithin seiende zu halten.

Es ist nicht – Negation

7 Zur Selbigkeit verfestig und überhöht, zieht die Wiederholung Grenzen. Das Wiederholte, das sich im Differieren identisch beharrend durchhält, wenn es dieses dominiert und zum Unterscheiden erniedrigt, setzt ihm damit eine Grenze. Vor allem im Begrenzen offenbart die Selbigkeit den Charakter der Dominanz, namentlich in der Begrenztheit verrät das Unterscheiden den Charakter der Unterordnung. Alles Unterschiedene, alles Seiende hat ein begrenztes und in diesem Sinne geschlossenes So. Als Grenze und Begrenztheit zeigen sich Selbigkeit und Unterschied zugleich um eine nennenswerte Bestimmung erweitert. Was auswendig von seiner Grenze, ist das Seiende nicht. Indem etwas unterschieden ist, ist es überhaupt, kennt es die Grenze, und all das, was auswendig von der Grenze, ist es nicht. So impliziert jegliche Unterschiedenheit zusammen mit der Grenze ein Es-ist-nicht. Unterschieden von etwas bedeutet zugleich nicht dieses. Was selbst bei denkbar behutsamen Umgang mit der Partikel nicht wenigstens soviel besagt: unveräußerlich eingelassen in die Unterschiedenheit findet sich ein Nichten. Dafür steht die Partikel ja zweifelsfrei, für ein Nichten. Per se verquickt damit zeigt sich die Unterschiedenheit erst recht als die prozessierende Unterschiedenheit, die den Namen VeränderungnichtnichtNegation