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Georg Kreis

Vorgeschichten
zur
Gegenwart

Ausgewählte Aufsätze

Band 5, Teil 1: Zum Metier des Historikers

Schwabe Verlag Basel

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel

Ferner hat sich der Swisslos-Fonds, Basel-Stadt, dankenswerterweise an den Projektkosten beteiligt.

Umschlag: Auguste Piccard vor seinem Aufbruch zu neuen Höhen am 27. Mai 1931 (Copyright: Solar Impulse SA, Lausanne)
 
© 2011 by Schwabe AG, Verlag, Basel
Bildredaktion: Georg Kreis
Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel
ISBN 978-3-7965-2799-9
eISBN ePUB 978-3-7965-3568-0
eISBN mobi 978-3-7965-3576-5
 
www.schwabe.ch

Inhalt

Vorwort

Teil 1
Zum Metier des Historikers

Vom Nutzen der Geschichte

Zeitgeschichte
Die Vergangenheiten der noch Lebenden

Historiker als Richter?
Eine alte Frage im neueren Kontext der Abklärungen zum Zweiten Weltkrieg

The official screening of Switzerland 1939-1945: an unmerited gift and a missed opportunity
The experience with the Independent Commission of Experts (ICE)

Outside History
On Swiss participation and non-participation in world affairs

Erinnerungen gegen Erinnerungen
Vergangenheitsreproduktion in der Schweiz nach 1945

Alles ist Netzwerk
Isaak Iselin, Heinrich Pestalozzi und das Phänomen der interaktiven Weltverbesserer

Textnachweis

Nach Band 4 weiterführende Bibliographie

Georg Kreis bei Schwabe

Vorwort

Der 5. Band umfasst wie die vorangehenden einen Teil der inzwischen angefallenen Texte. Die Rubriken sind teilweise die gleichen, teilweise auch etwas akzentuierter überschrieben: «Europa» und die «Schweiz» sind wiederum mit von der Partie. Premieren sind die Kapitel «Zum Metier des Historikers», «Katastrophengeschichte» und «Erinnerungsorte». Auch «Tagesfragen» ist neu, obwohl Beiträge in früheren Bänden der «Vorgeschichten zur Gegenwart» naheliegender Weise so hätten rubriziert werden können.

Es ist schwierig, in einem 5. Vorwort – nicht im weiteren Inhalt dieses Bandes – überhaupt etwas Neues zu sagen. Bereits früher ist, mit anderen Worten, gesagt worden, dass diejenigen Menschen, die mich zu Vorträgen und/oder Aufsätzen eingeladen haben, Wesentliches zu meinen Verlautbarungen beigetragen haben und beinahe so etwas wie Co-Autoren sind. Sie haben mich zum Autor bestimmter Äusserungen gemacht. Auf die eine oder andere Einladung habe ich auch mit etwas zögernder Verwunderung reagiert: Warum soll ich mich beispielsweise über «Netzwerke» auslassen, warum soll auch ich mich über das «Armenwesen in Basel» äussern? Ich habe mich anregen lassen und halte es wie mein geschätzter Generationenkollege Iso Camartin, der in seinem «Lob der Verführung» (1987) dargelegt hat, dass ein Eingehen auf Lockungen der Welt stets eine Bereicherung ist. Die Buntheit der Themen, die so unvermeidlich entsteht, aber auch der Disziplin der Geschichte bis zu einem gewissen Grad entspricht, lässt sich dann mit den überdachenden Kapitelüberschriften wiederum bündeln.

Im Vorwort des 3. Bandes wurde die Wahl der Umschlagmotive erläutert. Die damals aufgezeigte Linie wird mit dem 5. Band nun weitergeführt: von der Innerschweiz (Bd. 1), nach Bern (Bd. 2), an die Rheingrenze (Bd. 3), vom Schiff beinahe im Weltformat (Bd. 4) nun zur ‹Weltraumkapsel› des schweizerischen Explorers Auguste Piccard, der 1931 vor dem Aufbruch zu «neuen Horizonten» – das könnte auch die Situation eines Historikers sein – von seiner Kapsel aus zu Menschen spricht. Das Bild lässt uns auch an die «Bodenmannschaft» denken, darum hier sogleich ein herzlicher Dank an die Lektorin Barbara Handwerker Küchenhoff, den Verlagsdirektor David M. Hoffmann und den Verleger Ruedi Bienz. Grosser Dank geht an die Institutionen, welche die Herstellung des Buches finanziell in grosszügiger Weise unterstützt haben (vgl. Impressum). Gedankt sei schliesslich auch dem Mann der 3. Forschergeneration, Bertrand Piccard, für das Bild und das Bildrecht; ihm sei zugleich für die nächste Solar-Weltumsegelung alles Gute gewünscht.

Basel, im August 2011Georg Kreis

Teil 1
Zum Metier des Historikers

Geschichte als Verarbeitung zahlloser Daten? Daten interessieren, wenn sie durch Fragestellungen aktiviert werden. Es gibt indessen sogar Daten – und Quellen – die entstehen nur dann, wenn man nach ihnen fragt. (Foto: Archiv eines Anonymos, in: Claudia Opitz / Regina Wecker (Hrsg.), Vom Nutzen der Geschichte. Nachbardisziplinen im Umgang mit Geschichte. Basel 2009.)

Vom Nutzen der Geschichte

«Vom Nutzen […] der Historie» – das ist nur der erste Teil des Titels der bekannten und darum öfter zitierten als gelesenen Abhandlung von Friedrich Nietzsche aus dem Jahr 1874. Dieser Teil soll uns beschäftigen und nicht der zweite, Nietzsche eigentlich wichtigere Teil des Titels, der ankündigt, auch vom «Nachtheil der Historie für das Leben» handeln zu wollen. Nietzsche problematisierte darunter unter anderem das, was er «historische Krankheit» nannte1 und meinte, zu viel Geschichte würde das Leben ersticken.2 Dem cogito, ergo sum stellte er das vivo, ergo cogito gegenüber.3 Neben der Unterscheidung von drei verschiedenen Arten der Nutzung, galt Nietzsches Hauptinteresse vor allem der Frage nach dem «Wieviel» an Geschichtlichem.4

Nutzen und Nachteil? Ich hätte diese Gegenüberstellung trotz ihrer formalen Vorzüge nicht gewählt, sondern eher von vorteilhafter und nachteiliger Nutzung gesprochen. Die Frage aber bleibt: Wofür und inwiefern vorteilhaft und nachteilig? Für das Leben, wie Nietzsche sagt, kann als Antwort nicht genügen. Auf eine Diskussion der Frage nach den sogenannten «Nachtheilen», die sich aus dem behaupteten «Übermass von Historie» für die lebendige Gegenwart ergeben, muss im Folgenden aber verzichtet werden – es würde an dieser Stelle zu weit führen.

Anerkennend sei immerhin bemerkt, dass seine Ausführungen insofern aktuell sind, als sich manches wie eine berechtigte Kritik am unkritischen Umgang mit einer bestimmten Art von Historie im World Wide Web lesen lässt. Er kritisiert die «flüchtige[n] Spaziergänger in der Historie»5, und er vergleicht diese mit dem Wolf aus Grimms Märchen, der als Fremdkörper eine Menge mehr unverdauter als wirklich unverdaulicher Steine in seinem Bauch trägt.6

Nietzsche ist ganz entschieden der Auffassung, dass Geschichte für das Leben nützlich sein müsse, dass sie dem Leben «dienen» soll. Gegen Nützlichkeitserwartungen ist nichts einzuwenden. Und für die Geschichtswissenschaft ist dies nur darum ein Problem, weil die Nützlichkeit anderer Wissenschaften offensichtlicher ist, obwohl sie grundsätzlich ebenfalls um ihrer selbst willen betrieben werden, aber soliden Anwendungsnutzen als fassbare Nebenwirkung generieren. Es gibt zwar den Lockvogel der applied history. Die Applikation bezieht sich aber nur wiederum auf sich selbst (auf investigation, museum studies, archival work). Diese Anwendungen müssten sich ebenfalls mit einer übergeordneten Zweckbestimmung rechtfertigen.

Den allgemeinen Zweck könnte man unter Zuhilfenahme einer Formulierung umschreiben, die von Jacques Le Goff stammt. Für Le Goff ist es eine ausgemachte Sache, dass der Umgang mit Vergangenheit einen dienlichen Zweck hat: «Servir à la libération et non à l’asservissement des hommes».7 Dies sind aber pauschale und präzisierungsbedürftige Kategorien. Man darf Le Goff in diesem Punkt nicht ernster nehmen, als er sich wahrscheinlich selbst genommen hat: Das war bloss eine sehr offene Schlussbemerkung, die sich grandios davor drückte, inhaltlich wie formal zu präzisieren, wie «mémoire» denn beschaffen sein müsse, damit sie zur Befreiung (oder Emanzipation) und nicht zur Knechtschaft der Menschen führe. Le Goffs raisonnement hörte in diesem Fall da auf, wo es, was unsere Fragestellung betrifft, eigentlich hätte einsetzen sollen. Müssen wir es also selbst tun.

Will man die Nützlichkeit von Geschichte diskutieren, muss man sich mit mindestens drei konkreten Fragen auseinandersetzen:

1. Mit der Frage, ob es Epochen und Episoden der Geschichte gibt, die nützlicher sind als andere. Für Nietzsche ist Geschichte zeittypisch in erster Linie antike Geschichte (eher griechische als ägyptische). Aus professioneller Sicht gibt es weder zu Gunsten der Antike noch zu Gunsten der Zeitgeschichte eine Hierarchie der Epochen. Alle sind es gleich wert, studiert zu werden – das haben andere vor mir (indirekt zum Beispiel Leopold von Ranke) schon besser formuliert.8

2. Mit der Frage, ob es bestimmte Themen gibt, deren Behandlung dienlicher ist als die anderer. Nietzsche markiert hier, was nicht überrascht, Unwillen über die Erweiterung sowohl der Themen als auch des Publikums. Er klagt über das «Popularisiren, Feminisiren und Infantilisiren» der Wissenschaft, «das heisst das berüchtigte Zuschneiden des Rockes der Wissenschaft auf den Leib des ‹gemischten Publicums›».9 Im Sinne eines Nachholbedarfs und eines basisorientierten Gesellschaftsverständnisses hat man in unseren Jahren versucht, zum Beispiel die Alltagsgeschichte als besonders wichtig (und nützlich) zu verstehen.

3. Mit der Frage, ob bestimmte Regionen wichtiger, weil nützlicher seien als andere. Weltgeschichte, Europäische Geschichte, Nationalgeschichte, Lokalgeschichte? American, African, Asian Studies? Was gehört zur eigenen Area, was ist fremde Geschichte? Ist so genannt «fremde» Geschichte, auch der eigenen Area, nicht besonders wichtig? Herbert Lüthy, mein Doktorvater und «Habilitationsgötti», hat, schon in den 1970er Jahren von «Bologna» avant la lettre belästigt, einer kurzen, wohl etwas zu kurz geratenen Vorlesungsankündigung zur Geschichte Algeriens die Bemerkung beigefügt: Es geht im Übrigen immer um das Gleiche, nämlich um Geschichte.

Der Nutzen, das Dienlichsein der Geschichte ergibt sich auch aus der richtigen Art der Dienstbarmachung. Methodologische Fragen haben Nietzsche wie die Nachgeborenen bis in die 1960er Jahre nicht oder wenig interessiert.10 Methodologische Fragen habe auch ich während meines ganzen Studiums kaum vorgesetzt bekommen. Es war um 1968, also vor vier Jahrzehnten, da habe ich in einer Sprechstunde, während draussen mindestens zwanzig andere Studierende ungeduldig warteten, einmal juvenil (wie der Jüngling, der in den Himmel kommen wollte und den Meister fragte, wie er dies bewerkstelligen könne) die Frage aufgeworfen, was eigentlich Geschichte sei. Edgar Bonjour, mein Lehrmeister der ersten Stunden, gab die nachsichtig-paternalistische Antwort und Anweisung, Geschichte doch einfach so zu betreiben, wie sie präsentiert werde, später könne man dann schon einmal darüber reden.11

Sicher wurden wir eingeführt in die Methode der Quellenkritik. Das war aber Kritik an anderen Äusserungen und nicht an uns selbst. Dass eine kritische Beobachtung auch des eigenen Tuns nötig sei, dass es ein Erkenntnisinteresse gebe und dies deklariert werden sollte, habe ich erst später entdeckt, unter anderem in den nicht immer einfachen Auseinandersetzungen mit Markus Mattmüller, der als Jungmeister den historiographischen Entwicklungen der jüngeren Zeit (École des Annales) in Basel vorübergehend dominant zur Geltung verhalf.

Das Offenlegen von Erkenntnisinteressen konnte indessen leicht dazu führen, dass man Wahrnehmung, weil positioniert, hemmungslos in den Dienst von bestimmten Interessen und Thesen stellte. In den frühen 1970er Jahren hatte dies im Dienste der Arbeiterklasse, später im Dienste von anderen Unterdrückten und Marginalisierten zu geschehen. Der Nutzen bestand in diesen Fällen darin, die Machtverhältnisse aufzudecken und einen Beitrag zu deren Überwindung zu leisten.

Die Geschichte ist ein immenser Steinbruch, aus dem Blöcke für den Bau je eigener Überzeugungsgebäude herausgebrochen und Wurfgeschosse für tagespolitische Argumentationen bezogen werden können. Die Geschichte kann sich dagegen nicht wehren. Es können sich nur andere wehren, entweder aus gegenläufigen Interessen, oder, was eher Sache des wissenschaftlichen Umgangs mit Geschichte ist, gleichsam als Advokaten für die strapazierte Geschichte.12

Im professionellen Milieu der Historikerinnen und Historiker gibt man sich nicht mehr der Illusion hin, dass Geschichte eine Lehrmeisterin sei und dass einzelne Episoden nützliche Handlungsanleitungen enthalten könnten.13 Ich kann hier bloss als Ausdruck meiner grossen Wertschätzung auf einen Aufsatz verweisen, den Reinhart Koselleck schon 1967 zum Topos der Historia magistra vitae verfasst hat.14 Mit oder ohne Jacob Burckhardt ist klar, dass Geschichte nicht «klug für ein ander Mal», sondern allenfalls «weise für immer» machen kann.15 In meinen bescheidenen Worten: Geschichte ist ein Anschauungsfeld, auf dem man seine analytische Wahrnehmungsfähigkeit trainieren kann, die sich unter Umständen dann auch anderen, sogar die Gegenwart betreffenden Fragen zuwenden kann.

Geschichtswissenschaft ist, nachdem sie lange vor allem sinnstiftende, legitimatorische Funktion hatte, heutzutage vor allem eine dekonstruierende Disziplin, die anti-ideologisch gerne sagt, wie es nicht gewesen ist.16 Das habe ich vor allem bei Herbert Lüthy gelernt. Und ich habe anlässlich dieses Beitrags sein «Wozu Geschichte» wieder mit so viel Zustimmung gelesen, dass ich hier am liebsten seinen ganzen Text rezitieren, statt etwas Eigenes dazu nachtragen würde. Beinahe eine Gegenposition zu Nietzsche findet sich in seiner Feststellung: «Geschichtslosigkeit, das heisst Nichtbewusstsein der Geschichte ist nicht Freiheit von der Geschichte, sondern blindes Verfallensein in ihr unbegriffenes Verhängnis […]».17

Lüthy war kein Freund langfädiger methodologischer Überlegungen. Man könnte mit seiner Zustimmung rechnen, wenn man sagte, die beste (und somit nützlichste) Geschichte ist diejenige, die ohne Nützlichkeitsüberlegungen ganz nur mit Blick auf die Geschichte betrieben werde, und dass man Geschichte nicht vorweg nach Nützlichkeitsüberlegungen betreiben soll, sondern nur richtig betreiben müsse und sie dann – deswegen – automatisch nützlich werde – auch im Sinne Le Goffs. Dieses Verständnis enthebt uns freilich nicht der Frage, wie man dies denn machen soll.

Man wird verstehen: Gegen Ende eines nun schon längeren Lebens wächst das Bedürfnis zu meinen, während all der Jahre etwas Nützliches gemacht zu haben. Zu beurteilen, ob dies auch zutrifft, das muss man – leider – weitgehend anderen überlassen. Zu unterscheiden bleibt, ob es sich um Nutzen für andere oder für sich selbst handelt.

Nutzen für andere: Es kann vorkommen, dass Staat und Gesellschaft unabhängige Dienstleistungen à la Bergier-Kommission zur schonungslosen Aufklärung von Sachverhalten in Auftrag geben.18 Es darf aber auch vorkommen, dass man von sich aus Dienste leistet, indem man Aufgaben übernimmt, von denen man weiss, dass sie einer gewissen Nachfrage entsprechen, beispielsweise in Form der Mitwirkung an einer Universitätsgeschichte.19 Möglicherweise bestehen aber die wichtigsten Dienste darin, dass man «selbsternannt» ungefragte Beiträge zu irgendwelchen Themen20 erarbeitet, die einem wichtig erscheinen, cum oder sine ira, aber immer cum studio.21 Einfach, weil uns die Fragen interessieren, ob als Teilnahme an einer laufenden Debatte oder komplementär und einsam zu etwas, worüber gerade nicht gesprochen wird. Sollen andere sehen, was sie damit anfangen. Ob etwas interessant ist, hängt davon ab, ob wir interessiert sind. Das habe ich erstmals von Werner Kaegi, meinem dritten Lehrmeister und eigentlichen Patron, gehört, und er hat es von Burckhardt übernommen.22 – Nutzen des Historischen entsteht nicht nur, wenn Druckerschwärze fliesst, Geschichte ist auch nützlich, wenn wir an Diskussionsabenden beispielsweise über die Personenfreizügigkeit debattieren oder an einer öffentlichen Veranstaltung die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser von 1948, zum Thema gemacht wird.

Was den eigenen Nutzen betrifft, kann man uneingeschränkt sagen: Wer sich mit Geschichte beschäftigt, bekommt als return on investments mehr zurück, als er hineingegeben hat. Das mag aber auch für alle anderen hier vertretenen Fächern gelten.

Medienschaffende haben schon mehrfach die durchaus legitime Frage gestellt, warum man Historiker geworden sei. Mich bringt diese Frage jeweils in Verlegenheit, denn ich weiss es nicht wirklich. Dagegen weiss ich mit Bestimmtheit, dass mir Geschichte gefällt. Dies aus verschiedenen Gründen: insbesondere ist es die Chance, soziale Vorgänge im Überblick wahrzunehmen, in Entwicklungsbögen mit so etwas wie Ausgangs- und Abschluss-momenten, und diese von allen Seiten zu betrachten, multiperspektivisch.

Und nicht zuletzt gefällt mir, dass sie auch anderen gefällt, so dass einem auch deswegen ein gewisses Interesse und vielleicht auch Nützlichkeit sicher ist. Oft hatte ich den Eindruck, dass ich etwas vollberuflich betreiben darf, was andere sich nur als Freizeitvergnügen leisten können, wie mein Zahnarzt, der sich jetzt als Pensionierter dem Geschichtsstudium zuwendet. Selber kann ich einen solchen Wechsel nicht vornehmen, kann mit meiner Pensionierung nicht noch Zahnarzt werden, auch nicht freizeitmässig. Mir bleibt fast nichts anderes übrig, als einfach weiterzumachen und das zu betreiben, was inzwischen zu meinem Wesen geworden ist. Mit dieser Bemerkung könnte man eigentlich schliessen. Doch: Wes das Herz voll ist, geht der Mund über. Darum noch eine wirkliche Schlussbemerkung:

Ich habe von meinen akademischen Lehrern viel gelernt, auch wenn ich vieles nicht übernommen habe. Ich war noch jung, als mir Kaegi mitteilte, dass man ein alter Historiker werden müsse, wenn man ein guter Historiker sein wolle. Kaegi war, als er dies sagte, selbst bereits ein alter Historiker, und er war ein guter Historiker. Diesem Wort möchte ich aber eine andere Erfahrung entgegenhalten: Nachdem ich in jüngeren Jahren viel von älteren Kollegen gelernt habe, kann ich inzwischen beinahe tagtäglich Wichtiges auch von viel jüngeren Kolleginnen lernen.

1 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874), in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München et al. 1980, Bd. 1, S. 243–334, in der Folge zitiert als HL, hier HL § 10, S. 329.

2 Leben verstanden als «dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht» (HL § 3, S. 269).

3 Vgl. HL § 10, S. 329. Passivität bedeute fehlenden Entfaltungsraum für die Persönlichkeit und erzeuge einen unguten «Contrast» zwischen Innerlichem und Äusserlichem, zudem würde man dadurch zu einem Passivum (vgl. HL § 5, S. 279). Eine Persönlichkeit wäre oder hätte, wie Nietzsche sie sich idealiter vorstellte, wer im Besitze der «höchsten Kraft der Gegenwart» ist, denn nur diese gestatte einen richtigen Umgang mit Vergangenheit (vgl. HL § 6, S. 293).

4 Nietzsche unterschied «eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie» (HL § 2, S. 258), letztere im Sinne des Verurteilens von Vorkommnissen der Vergangenheit (vgl. ebd., S. 264).

5 HL § 10, S. 327.

6 «Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst.» (HL § 4, S. 272). Und etwas weiter oben: «Das Fremde und Zusammenhangslose drängt sich, das Gedächtniss öffnet alle seine Thore und ist doch nicht weit genug geöffnet, die Natur bemüht sich auf’s Höchste, diese fremden Gäste zu empfangen, zu ordnen und zu ehren». Man gewöhne sich allenthalben «an ein solches unordentliches, stürmisches und kämpfendes Hauswesen» (ebd.). Der Natur bleibe nichts anderes übrig, um das sich überreichlich Aufdrängende zu bewältigen, als «es so leicht wie möglich anzunehmen, um es schnell wieder zu beseitigen und auszustossen» (ebd., S. 274).

7 Jacques Le Goff, Histoire et mémoire, Paris 1988, S. 177 (bereits ältere Beiträge in Einaudis Enzyklopädie).

8

9 HL § 7, S. 301.

10 Von der Methode heisst es bei Nietzsche verächtlich und ironisch, sie führe dazu, dass die «Weisheit mit Geprassel in den Schooss» (HL § 7, S. 300) falle.

11 Zu Bonjour vgl. meinen Text: Edgar Bonjour, in: Zeitbedingtheit – Zeitbeständigkeit. Professoren-Persönlichkeiten der Universität Basel, hg. von Georg Kreis, Basel 2002, S. 27–44.

12 Das wäre Nietzsches Geschäft nicht. Er sprach sich dezidiert gegen die Historie als Wissenschaft aus, weil diese sich als «mächtig feindseliges Gestirn» zwischen Vergangenheit und Leben gedrängt und damit Gegenwart und Vergangenheit exzessiv miteinander verbunden habe. Ihn stört, dass durch das moderne Geschichtswissen mehr verfügbar ist, als der einzelne sich wirklich aneignen kann; Wissen werde ohne Hunger aufgenommen (HL § 4, S. 271).

13 Sich anlehnend an hellenistische Vorbilder von Tullius Cicero, De Oratore, II, 9.

14 Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte (1967). Zuletzt in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 38–66.

15 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. von Jakob Oeri, in: Jacob Burckhardt Werke, Kritische Gesamtausgabe, München/Basel 2000, Band 10, S. 349–558, hier S. 359. In unserem Nietzsche Traktat findet sich übrigens folgende Überlegung: Der Mensch bringe es durch übermässige Beschäftigung mit Geschichte zwar «zur Klugheit: nie zur Weisheit» (HL § 9, S. 323).

16 Bekanntlich hat Ranke hingegen gemeint, seine Geschichtsschreibung beschränke sich auf Darstellungen, die zeigen, «wie es eigentlich gewesen ist».

17 Herbert Lüthy, Wozu Geschichte?, Zürich 1969.

18 Hier ausser dem UEK-Bericht «Schweiz – Zweiter Weltkrieg» als weitere Beispiele dieser Kategorie: Georg Kreis (Hrsg.), Staatsschutz in der Schweiz. Die Entwicklung von 1935–1990, Bern 1993, 671 S. – La protection politique de l’Etat en Suisse. L’évolution de 1935 à 1990, Bern 1993, 661 S. – Georg Kreis, Die Schweiz und Südafrika 1948–1994. Schlussbericht des im Auftrag des Bundesrats durchgeführten NFP 42+, Bern 2005, 542 S. Die französische Ausgabe ist 2007 in Genf erschienen, die englische im gleichen Jahr in Bern.

19 Als weiteres Beispiel dazu: das aus Anlass der 500 Jahre eidgenössischer Bundesmitgliedschaft Basels zusammen mit Beat von Wartburg herausgegebene Werk: Basel – Geschichte einer städtischen Gesellschaft, Basel 2000.

20 Um nur gerade zwei beinahe zufällige Basler Beispiele zu nennen: Georg Kreis, Der Schnauz des Schmieds. Kunst und Kalter Krieg in Basel 1950/51, in: Basler Stadtbuch 2000, Basel 2001, S. 224–241. – Georg Kreis, Die Gebeine des Erasmus. Zur mehrfachen Ein- und Ausgrabung eines Unsterblichen, in: Basler Stadtbuch 2006, Basel 2007, S. 169–175. Beide auch in den ausgewählten Aufsätzen «Vorgeschichten zur Gegenwart», Basel 2003 ff.

21 Sine ira et studio: Tacitus’ bekannte Aufforderung oder Absichtserklärung zur Unparteilichkeit.

22 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. von Jakob Oeri, in: Jacob Burckhardt, Werke, Kritische Gesamtausgabe, München/Basel 2000, Band 10, S. 349–558, hier S. 360: «Sobald die Geschichte sich unserem Jahrhundert und unserer werten Person nähert, finden wir alles viel ‹interessanter›, während eigentlich nur wir ‹interessierter› sind.»