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Georg Kreis

Vorgeschichten
zur
Gegenwart

Ausgewählte Aufsätze

Band 6, Teil 3: Zapfenstreich & Endstreich

Schwabe Verlag Basel

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel

Ferner hat sich der Swisslos-Fonds, Basel-Stadt, dankenswerterweise an den Projektkosten beteiligt.

Umschlag: Vorraum des Konferenzsaals des Medienzentrums des Bundes, im Hintergrund Matterhorn und Katsushika Hokusai «Welle». SRG /SSR, Produktionszentrum. Foto: Klaus Ehret

Copyright © 2013 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.
Bildredaktion: Georg Kreis
Lektorat: B. Handwerker Küchenhoff, Schwabe
Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz
ISBN 978-3-7965-2934-4
eISBN ePUB 978-3-7965-3573-4
eISBN mobi 978-3-7965-3584-0

rights@schwabeverlag.ch
www.schwabe.ch

Inhalt

Vorwort

Teil 3
Zapfenstreich & Endstreich

Begegnungen mit den Großen der Welt
Zum Phänomen der Wachsfigurenkabinette

Den Professor aberkennen
Der «Fall Schavan» nach der «Affäre Guttenberg»

Karl Jaspers: würdiger Abgang

Lebensretter
Flüchtlingsgeschichten aus Pedrinate

Totentänze – Variationen zum «letzten Stündlein»

«Schön und Schwanger»

Anhang

Textnachweise

Nach Band 5 weiterführende Bibliographie

Vorwort

Zur Rechtfertigung des sechsten Bandes lassen sich – zum Glück – ein paar Argumente anführen. Zum einen noch immer dieselben, die bereits für den ersten Band sprechen sollten – dies genau vor zehn Jahren, was indirekt auch auf ein Jubiläum hinweist und ein Zusatzargument ist. Das wichtigste, damals genannte Argument lautete: Der grösste Teil der Publizistik fließt gar nicht in monographische Bücher sondern in verschiedene Sammelbände und erscheint demnach an sehr disparaten Orten, so dass der doch immer bestehende Arbeitszusammenhang innerhalb des durch die gleiche Autorschaft konstituierten Ensembles kaum wahrnehmbar ist. Da seit dem letzten Band doch wieder einige Aufsätze entstanden sind, darf das der Hauptgrund für einen weiteren Band sein. Ein zusätzliches und dem Autor sehr willkommenes Argument ist: Vom letzten Band sind einige Aufsätze gleichsam übriggeblieben, die, bereits «gesetzt» und mit Illustrationen ausgestattet, wieder herausgenommen werden mussten, damit der fünfte Band nicht zu dick wurde.

Und ein letztes Argument: Der sechste Band wird der letzte sein. Dies sei hier auch schriftlich festgehalten, und dies wiederum aus drei Gründen: 1. um die Glaubwürdigkeit bereits mündlich abgegebener Erklärungen etwas zu erhöhen, 2. um die Selbstverpflichtung gegen alle Rückfälligkeitsanfechtungen zu stärken und 3. um das liebe Publikum zu beruhigen, sozusagen nach dem Motto, dass etwas leicht Fragwürdiges nicht so schlimm ist, wenn es das letzte Mal stattfindet! Dies sind die zur Verfügung stehenden Rechtfertigungen. Eine weitere, die darin bestünde, dass nun wiederum ein runder Geburtstag naht, ist für den Schreibenden überhaupt kein Grund. Um dies als irrelevant zu bezeichnen, muss er es immerhin – diskret – aufscheinen lassen. Der vorliegende Band ist grundsätzlich gleich komponiert wie die vorangegangenen. Es sei indessen auf eine kleine, aber nicht unwesentliche Verschiebung hingewiesen: Dem iconic turn folgend, hat die Zahl der Abbildungen zugenommen und es sind einige Bilder, bei denen es wesentlich erschien, sogar farbig reproduziert!

Natürlich ist ein solcher Schlussstrich auch mit Wehmut verbunden, zumal er wenigstens in dieser Produktelinie keine Fortsetzung der angenehmen und gut eingespielten Zusammenarbeit insbesondere mit der Lektorin Barbara Handwerker Küchenhoff bedeutet. Sie wusste Gewissenhaftigkeit mit einer Gelassenheit zu verbinden, was sich sogar ein klein wenig auf den Autor übertrug. Ein besonderer Dank
geht sodann an die sehr geschätzten Förderer dieses Bandes: den Schwabe Verlag (Ruedi Bienz und sein Team), die Berta Hess-Cohn Stiftung (Martin Hug und Christof Wamister) und den Swisslos-Fonds Basel-Stadt (Baschi Dürr und Doris Schaub). Ein abschließender Dank gilt der Leserschaft, sofern sie sich vom einen oder anderen Thema ansprechen lässt, das dem Autor wichtig war und ist.

Basel, im Juli 2013Georg Kreis

Teil 3
Zapfenstreich & Endstreich

In Google erhält man auch ohne Ticket leicht Zugang zu einer elektronischen Ausstellung der wächsernen Ausstellung. Da die Bilder in der Regel keine Legenden haben, kann man nicht mit Bestimmtheit sagen, welchen «Hitler» man gerade vor sich hat. Eine Ortsangabe würde auch nicht immer helfen, weil in London vielleicht mehrere «Hitler» zu sehen sind. Bei diesem Bild, das wohl im Londoner Madame Tussauds gemacht wurde, ist die zweite Figur mindestens so wichtig wie die erste, das heißt: Beide gehören einfach zusammen, obwohl die Unterschiede – bis hin zu den Schuhen und der Stand- und Spielbeinhaltung – nicht grösser sein könnten! Wie ist die Pose der Besucherin zu erklären? Sie kann sich nicht einfach neben «ihn» stellen, weil dies sie zu ähnlich machen würde (trotz der unterschiedlichen Fußbekleidung). Mit der Rechten ahmt sie, vielleicht sich punktuell identifizierend, den Schnurrbart nach, mit der Linken dagegen markiert sie distanzierte Überlegenheit oder ahmt den Hitler-Gruss nach.

Begegnungen mit den Großen der Welt

Zum Phänomen der Wachsfigurenkabinette

Von Zeit zu Zeit machen uns Zeitungsnotizen auf Neuigkeiten aus der Welt der Wachsfigurenkabinette aufmerksam und damit auch darauf, dass es sie gibt – diese doch sonderbare und zugleich so gewöhnliche Einrichtung der Wachsfigurenkabinette. In ihnen kann man beinahe realen Menschen im Modus der elementaren Urnähe gegenüberstehen und bekannten Personen im direkten Vis-à-vis begegnen, die in Wirklichkeit entweder sozial oder zeitlich weit weg sind: Elisabeth II., Churchill oder Shakespeare.

Jedes Jahr pilgern Hunderttausende zu solchen Stätten. Warum entspricht das offenbar einem gewissen Bedürfnis? Zunächst wirkt hier der Reiz der Pseudowirklichkeit. Alle wissen, dass es nicht echte, sondern falsche Echtheit ist und bewundern daran auch die Kunst der Täuschung und den Schein des Künstlichen. Zudem kann man den eigenen Kenntnisstand über die Großfamilie der Weltberühmtheiten rekapitulieren und vielleicht sogar etwas erweitern. Weitere Kenntnisse über die Person sind bei diesem Identifikationsspiel nicht erforderlich, man beschränkt sich in der Regel auf einfache Einordnungen, eben: Königin, Staatsmann, Dichter etc.

Das bekannteste Kabinett dieser Art ist dasjenige von Madame Tussaud in London und geht auf das Jahr 1802 zurück. Es soll seinen Ursprung im Bedarf an Kopien der Köpfe guillotinierter Opfer der Französischen Revolution haben. Madame Tussaud lebte während der Revolutionsjahre in Paris und ging da einem besonderen Metier nach: Bekanntlich wurden die Köpfe prominenter Revolutionsopfer auf Lanzen aufgespießt zur Abschreckung und Ergötzung ausgestellt. Da diese Köpfe aber schnell verwesten, bestand ein Bedarf an Ersatzköpfen – aus Wachs, die Madame Tussaud anfertigte. Etwas ganz anderes war die Tradition des ehrenvollen Gedenkens mittels der zumeist in Gips gegossenen Totenmasken.

Das nun seit über zwei Jahrhunderten bestehende Tussauds Group-Unternehmen erlebte gerade in jüngster Zeit eine bemerkenswerte Expansion mit sieben Zweigniederlassungen in der ganzen Welt. Daneben gibt es zahlreiche andere Schaustellungen ähnlicher Art, in Hamburg zum Beispiel ein Panoptikum, das auf das Jahr 1879 zurückgeht. Seit dem Juli 2008 gibt es ein Madame Tussauds auch in Berlin. Dabei kann nicht unerwähnt bleiben, dass dort unter den 75 Exponaten auch eine 200 000 Euro teure Hitlerfigur zu sehen ist und dieser Figur gleich nach der Eröffnung der Schau der Kopf abgeschlagen wurde. Man fragte sich, ob das eine inszenierte Werbeaktion war. Für Kontroversen war jedenfalls gesorgt: Darf man Hitler ausstellen? Die Meinung, dass dies billige Effekthascherei sei, stand der Meinung gegenüber, dass man das Böse nicht tabuisieren und ihm gleichsam ins Gesicht schauen soll.

Maurizio Cattelan: «Him» von 2011.

Wachsfigurenkabinette sind Geschäfte der internationalen Unterhaltungsindustrie und funktionieren nach deren Regeln. Sie brauchen Aufmerksamkeit und erzeugen darum auch Aufmerksamkeit. Darum bemühen sie sich um Innovationen, die die Presse aufgreift. Beispielsweise: Am 29. März 2012 rauschte die Kurznachricht durch den Medienäther, dass die Queen bei Madame Tussauds in London zu ihrem 60. Dienstjubiläum ein neues Ebenbild bekommen habe und dieses im Mai sogar offiziell eingeweiht werde, dass es ferner so und so viel gekostet habe und dass das Leben der Königin bisher in eine Reihe von 23 Lebensstationen festgehalten worden sei, angefangen 1928 mit der zweijährigen Elisabeth.

Im selben Monat wartete die Berliner Madame Tussauds-Filiale mit einer anderen Neuigkeit auf: Wir erfuhren, dass wir neuerdings auch dem berühmten Holocaust-Opfer Anne Frank1 in deren Versteck beim Tagebuchschreiben gleichsam über die Schultern schauen können. Sogleich gab es «Diskussionsstoff» und entzündete sich eine kleine Bloggerdebatte: Darf das tragisch umgekommene Mädchen lachen oder auch nur lächeln? Darf man es unter dem gleichem Dach aufstellen wie den ebenfalls in Wachs präsenten, aber keineswegs lächelnden Hitler mit dem wieder reparierten Kopf? Im Rahmen einer Meinungsumfrage darf man ankreuzen, ob man das «Okay» findet. Wenn ich das Lächeln des Mädchens nicht gut fände, würde ich zu einer Gruppe von rund 26 Prozent gehören, die dieser Meinung sind. Jedenfalls ist Anne als Wachsfigur auch bei Google zu besichtigen.

Die Herstellung «täuschend» echter Kopien mag eine Kunst sein. Die noch größere, die wirkliche Kunst besteht aber darin, das bekannte Original nur zum Ausgangspunkt zu nehmen und einen eigenen Mehrwert zu leisten, wie dies Maurizio Cattelan zustande gebracht hat, etwa mit der Installation eines «echten» Papst Paul II., der halbwegs von einem Meteoriten getroffen wird (La Nona Ora – Die neunte Stunde,1999) – ein Eindruck, der im Kopf hängen bleibt und eine gewisse Nachdenklichkeit erzeugt. Der gleiche Künstler hat mit Him (2001) eine kindlich und unschuldig wirkende, fromm kniende, betende und bittende Figur von Adolf Hitler geschaffen – ebenfalls bei Google einsehbar. Cattelans Him ist aber leider, leider nicht in den Tussauds der weiten Welt zu sehen. Sie war aber immerhin im New Yorker Guggenheim Museum zwischen November 2011 und Januar 2012 ausgestellt.

1 Anne Frank, vermutet Frank van Vree, könnte neben Hitler die bekannteste Person des Zweiten Weltkriegs sein. Vgl. Frank van Vree, Anne Frank. In: Pim de Boer, Heinz Druchhardt, Georg Kreis, Wolfgang Schmaler (Hg.) Europäische Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2012, S. 345–352, Zit. S. 345.