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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Apostel

Gerhart Hauptmann

Der Apostel


Der Text wurde weder sprachlich modernisiert, noch der neuen geltenden Rechtschreibung angepasst, um das Charaktermerkmal nicht zu verletzen.



Ausgabe im SoTo Verlag, 2017

Bielatalstraße 14, 01824 Königstein

Vollständig und neu gesetzt durch Sandra Oelschläger

Herausgeber der Klassik-Reihe: Sandra Oelschläger

Umschlaggestaltung unter Verwendung von Bildern,

die der Creative Commons CC0 unterliegen.


ISBN Print: 978-1541345164

ISBN Großdruck: 978-1541345171

ISBN EPUB: 9783961640003


www.buch-klassiker.de

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Spät am Abend war er in Zürich angelangt. Eine Dachkammer in der »Taube«, ein wenig Brot und klares Wasser, bevor er sich niederlegte: das genügte ihm.

Er schlief unruhig wenige Stunden. Schon kurz nach vier erhob er sich. Der Kopf schmerzte ihn. Er schob es auf die lange Eisenbahnfahrt vom gestrigen Tage. Um so etwas auszuhalten mußte man Nerven wie Seile haben. Er haßte diese Bahnen mit ihrem ewigen Gerüttel, Gestampf und Gepolter, mit ihren jagenden Bildern; -- er haßte sie und mit ihnen die meisten anderen der sogenannten Errungenschaften dieser sogenannten Kultur.

Durch den Gotthard allein ... es war wirklich eine Tortur, durch den Gotthard zu fahren: dazusitzen, beim Scheine eines zuckenden Lämpchens, mit dem Bewußtsein, diese ungeheure Steinmasse über sich zu haben. Dazu dieses markerschütternde Konzert von Geräuschen im Ohr. Es war eine Tortur, es war zum Verrücktwerden! In einen Zustand war er hineingeraten, in eine Angst, kaum zu glauben. Wenn das nahe Rauschen so zurücksank und dann wieder daherkam, daherfuhr wie die ganze Hölle und so tosend wurde, daß es alles in einem förmlich zerschlug ... nie und nimmer würde er nochmals durch den Gotthard fahren!

Man hatte nur einen Kopf. Wenn der einmal aufgestört war -- der Bienenschwarm da drinnen -- da mochte der Teufel wieder Ruhe schaffen: alles brach durch seine Grenzen, verlor die natürlichen Dimensionen, dehnte sich hoch auf und hatte einen eigenen Willen.

Die Nacht hatte es ihn noch geplagt, nun sollte es damit ein Ende haben. Der kalte, klare Morgen mußte das seinige tun. Übrigens würde er von hier ab nach Deutschland hinein zu Fuße reisen.

Er wusch sich und zog die Kleider über. Als er die Sandalen unterband, tauchte ihm flüchtig auf, wie er zu dem Kostüm, das er trug und das ihn von allen übrigen Menschen unterschied, gekommen war: die Gestalt Meister Diefenbachs ging vorüber. -- Dann war es ein Sprung in frühe Jahre: er sah sich selbst in der sogenannten Normaltracht zur Schule gehen -- der Glatzkopf des Vaters blickte hinter dem Ladentische der Apotheke hervor, die Tracht des Sohnes milde bespöttelnd. Die Mutter hatte doch immer gesagt, er sei kein Hypochonder. Der Glatzkopf und das junge Frauengesicht schoben sich nebeneinander. Welch ein ungeheurer Unterschied! Daß er das früher nie bemerkt hatte.

Die Sandalen saßen fest. Er legte den Strick, der die weiße Frieskutte zusammenhielt, um die Hüften und eine Schnur rund um den Kopf.