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Deutsch sein

Peter Siebenmorgen

Deutsch sein

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Umschlaggestaltung: www.b3K-design.de, Andrea Schneider, diceindustries

ISBN 978-3-7110-0132-0

Inhalt

Deutsch sein?

Deutschland – Requiem und Sommermärchen

Nach dem Gau in Deutschlands Gauen

Das Wunder des Patriotismus

Wie, bitte, liebt man sein Vaterland?

Europäische und deutsche Sonderwege

Er gehört zur mir – Variationen zum Lohengrin-Prinzip

Von deutscher Cellulite

Warum Jérôme Boateng ein vorbildlicher Deutscher ist und Herr Gauland ein schlechter

Warum es zur Modernität keine vernünftige Alternative für Deutschland gibt

Was tun gegen Rechts?

Ein starkes Deutschland soll es sein!

Deutsch sein?

Gut zwei Jahre nach der Bundestagswahl 1965, die Ludwig Erhard, dem Bundeskanzler, und den Unionsparteien ein sehr gutes Wahlergebnis einbrachte, dem Bundestag eine stabile parlamentarische Mehrheit und dem Land eine unaufgeregte Zukunft in Aussicht stellte, notierte Ralf Dahrendorf ein wenig konsterniert: »Das Wahlergebnis hinkte hinter der politischen Realität her: eine in der Theorie der parlamentarischen Demokratie nicht recht vorgesehene Möglichkeit.« Denn aus dem Nichts oder über Nacht gewachsen waren jene Herausforderungen keineswegs, die der juvenilen Bundesrepublik um die Jahreswende 1967/68 unverhofft zu schaffen machten: die später als 68er bekannt werdende studentische Protestbewegung und das Erstarken einer neonazistischen Kraft, der NPD.

Ähnliches kann man von der deutschen Gegenwart im Jahr 2017 behaupten. Denn das Wahlergebnis von 2013 – die AfD scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde – hinkte offenkundig gleichermaßen hinter den sich wandelnden politischen Realitäten her. Dass die neuen politischen Kräfte im vorangegangenen Wählervotum sich nicht angemessen in Prozent und Mandat abgebildet hätten, ist dabei nicht der springende Punkt. Vielmehr sind damals wie heute Subkulturen auf den Marsch in das Zentrum der deutschen Politik aufgebrochen, die eben dieses Zentrum fundamental in Frage stellten oder stellen. Und genau das spiegelten die amtlichen Ergebnisse der scheinbar Stabilität reflektierenden Bundestagswahlen in keiner Weise wider.

Über die politische Substanz und Kompetenz der neuen Rechten ist eigentlich schon alles gesagt, wenn man festhält, dass die zentralen öffentlichen Auftritte ihrer Repräsentanten stets solche sind, die zu keiner einzigen Zukunftsfrage Deutschlands anderes anzubieten haben als den Blick zurück, nicht selten: ins Ressentiment. Nimmt man sich etwa die bislang markanteste Rede eines Vertreters der neonationalen Populisten vor, nämlich die Skandaldarbietung des thüringischen AfD-Vorsitzenden Björn Höcke am 20. Januar 2017 vor der sächsischen Parteijugend, so fällt auf, dass sie nichts zur Wirtschafts-, nichts zur Finanz- und auch nichts zur Sozialpolitik zu bieten hat. Die Außen- und Verteidigungspolitik? Versenkt, sprichwörtlich, in einem schwarzen Loch so wie eigentlich alle konkreten Fragen der praktischen Politik. Statt dessen eine dröhnende Stunde Geschichtspolitik, revisionistisch serviert, und nicht enden wollende schwülstige Nationalbeschwörung: Ach, »unser liebes Deutschland«!

Fast lernt man die Ober-Populisten anderer Länder schätzen; bei einem Donald Trump oder Victor Orbán weiß man wenigstens halbwegs, was sie wollen. Eigentlich ist da also jenseits vom Empfinden einer Gefühlsgemeinschaft nicht sehr viel, was das neurechte Lager in Deutschland zusammenhält und für Wähler, die Unschuldigen wie die Scheinheiligen, attraktiv und wählbar macht.

In dieser Hinsicht haben es die neonationalistischen Kräfte, die Herr Höcke gern in sprachlicher Anlehnung an den Nationalsozialismus »Bewegungspartei« nennt, sehr viel leichter als ihre rechten Brüder im Geiste aus anderen Nationen. Denn anders als in Frankreich oder Britannien, Polen oder Ungarn, Österreich oder der Schweiz bekommen sie das nationale Band der Einigung gratis und frei Haus geliefert.

Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es nur zu verständlich (vernünftig und sympathisch obendrein), dass in der Bundesrepublik – alt wie neu – das Deutsche, was immer das auch heißen mag, keine große Bedeutung mehr in der Formulierung und Begründung von Politik gewinnen konnte. Die Folge freilich, dass Deutschland und seine ganze Begriffsfamilie auf dem Feld der politischen Rede mehr oder weniger heimatlos geworden sind, könnte sich jetzt rächen – in einer Zeit, die teilweise unter den Vorzeichen der Re-Nationalisierung steht und in der der Wille zur internationalen Kooperation schwindet, während nationale Muskelprotzereien sich allmählich zum politischen Breitensport entwickeln.

Auch wenn es viele fremdelt, fröstelt und nicht wenige schaudert: Wir kommen nicht mehr umhin, uns der Frage neu zu stellen, was es heute noch bedeuten kann, Deutsch zu sein. Und sei es nur zur Entlarvung und Bekämpfung unheilvoller Tendenzen und politischer Kräfte, die der Welt und Volk und Vaterland noch niemals Gutes gebracht haben.

Deutschland – Requiem und Sommermärchen

Angela Merkel hat einmal auf die Frage, welche Empfindungen sie mit Deutschland verbinde, geantwortet: »Ich denke an dichte Fenster! Kein anderes Land kann so dichte und so schöne Fenster bauen.« Ergänzend fügte sie noch bodenständige Mahlzeiten und herzhafte Küche an, Laubbäume, Buchen und, natürlich, Eichen. Rasch noch ein paar Vögel aufgezählt, »Kraniche, Störche« – auch so kann sich Deutschland anfühlen.

Nicht nur Konservative in den eigenen Reihen nahmen ihr das seinerzeit, im November 2004, übel, und eine wegen ihrer habituellen Eckigkeit so gar nicht zu Merkel passende Bemerkung in deren Dankesrede zur Nominierung als CDU/CSU-Kanzlerkandidatin ein halbes Jahr später – »Ich will Deutschland dienen« – wurde weniger als redliche national-politische Nachbesserung denn als gefallsüchtiges, hohles Pathos wahrgenommen.

Tatsächlich darf man von jemandem, der sich anschickt, deutsche Regierungschefin zu werden, ein wenig mehr Reflektionsniveau erwarten, wenn sie über das Land spricht, für das sie Verantwortung tragen möchte. Manche haben sich vielleicht über das Unfeierliche ihrer Rede aufgeregt, die meisten freilich haben mutmaßlich nicht einmal das registriert.

Allein, dass Frau Merkel keinen guten Tag gehabt haben könnte, dass ihr eine verunglückte Spontanleistung unterlaufen sei, darf als unwahrscheinlich gelten. Denn das weiträumige Umkreisen jedweden Nationalvokabulars ist eines ihrer Stilmittel geblieben, auch als Kanzlerin. Statt von Deutschen, so hat es Dirk Schümer im Januar 2017 in der Welt festgehalten, spreche die Bundeskanzlerin lieber von »Menschen, die schon länger hier sind«, weshalb er den durchaus witzigen Vorschlag unterbreitet, Deutschland schlicht nur noch als »Hierland« zu benennen.

Eine gute Idee? Ob Leitkultur oder Lebensweise, Tugend oder Zukunft: Sobald dabei das Deutsche ins Spiel kommt, ist die Sache vergiftet. Worin dies gründet, liegt gleichfalls auf der Hand: an jenem Abschnitt der deutschen Geschichte, der alles andere an Verbrechen gegen Mensch und Menschlichkeit in den Schatten stellt – und damit auch für die deutsche Geschichte einen unentrinnbaren Schatten wirft, in dem seither alles liegt. Gänzlich unbefangen ist das deutsche Nationalvokabular hinfort nur noch beim Blick zurück benutzbar.

Wohl hat sich seit Mitte der 1980er-Jahre ein gewisse Selbstbespiegelungskultur in der Bundesrepublik herausgebildet; irgendeine Stiftung von Rang oder eine Akademie in kirchlicher Trägerschaft gibt es immer, die gerade einen Vortragszyklus zum »Nachdenken über Deutschland« oder »Reden über das eigene Land« im Angebot hat. Dass sich dabei der Blick in die Tiefe der deutschen Abgründe weiter schärft, ist nur zu begrüßen. Und dass solche Bemühungen keine »Normalisierung« im Verhältnis der Deutschen zu sich selbst und ihrer Geschichte zeitigen, ist alles andere als zu kritisieren.

Nach wie vor sehen dies auch die meisten Deutschen heute noch so. Allerdings sind nun häufiger und vernehmbarer Stimmen zu registrieren, die den bewährten bundesrepublikanischen Ansatz für falsch halten. »«Spiegel»«»«