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Shamini Flint

Die tödliche Familie Lee

Inspektor Singh ermittelt in Malaysia

Aus dem Englischen von Antoinette Gittinger

LangenMüller

Die englische Originalausgabe erschien 2009 bei Piatkus, London, unter dem Titel »Inspector Singh investigates: A Very Peculiar Malaysian Murder«

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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die deutsche Ausgabe: 2009 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© 2008 für die Originalausgabe by Shamini Flint

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: shutterstock

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8297-2

»Es ist etwas weit, weit Besseres, was ich tue, als was ich je getan habe, und es ist eine weit, weit bessere Ruhe, der ich entgegengehe, als ich je gekannt habe.«

(Charles Dickens: Geschichte aus zwei Städten)

»Merdeka! Merdeka! Merdeka!«

(Unabhängigkeitserklärung von Tunku Abdul Rahman, dem ersten Premierminister von Malaysia am 31. August 1957)

1

Die Angeklagte, Chelsea Liew, war vor Gericht. Sie saß auf einer Holzbank im Zeugenstand, mit Handschellen an eine Polizistin gefesselt.

Der Ankläger, ein großer, aalglatter Malaie, der bis zu seiner eigenen Bestellung zum Richter auf der Stelle trat, beobachtete den Gerichtsbeamten, der langsam und bedächtig die Anklage vorlas: »Dass Sie, Chelsea Liew, am oder um den 18. Juli … einen Mord begangen haben, indem Sie den Tod von Alan Lee verursachten.«

Der Richter fragte: »Bekennt sich die Angeklagte schuldig oder nicht schuldig?«

Der runzlige alte Mann mit dem großen gelben Pferdegebiss und dem vollen, unglaublich schwarzen Haar schaffte es, deutlich zu machen, dass er die Möglichkeit, auf unschuldig zu plädieren, für völlig unwahrscheinlich hielt. In Malaysia wurden viele Richter aus der Beamtenschaft rekrutiert, was hieß, dass sie vorher selbst öffentliche Ankläger gewesen waren. Sie waren konservativ, und ihre Sympathie galt bei Strafprozessen selten den Angeklagten.

Chelseas Anwalt, ein hochgewachsener, hagerer Inder mit einem großen Adamsapfel, der über seinem weißen Hemdskragen auf und ab hüpfte, bemühte sich, seine Worte so zu wählen, dass sie keine der Parteien kritisierten, mit denen der Richter sympathisierte – was im Grunde genommen alle waren, außer seiner Mandantin. »Euer Ehren, der Fall beruht allein auf Indizien. Polizei und Anklage sind vorschnell zu einem Urteil gelangt, weil es sich um einen Fall handelt, der große Beachtung findet. Die Anklage sollte sofort abgewiesen werden.«

Er entblößte bei der Parodie eines Lächelns seine Zähne. Der Richter, der über seinen erhöhten Tisch gebeugt war und dessen schwarze Robe sich an den Schultern bauschte, sah eher wie ein Geier als wie ein Richter aus. Er fragte: »Schuldig oder nicht schuldig?«

Dem Anwalt wurde klar, dass der Fall verloren war. Nervös sah er zu der Frau auf der Anklagebank hin. Schließlich murmelte die Angeklagte: »Nicht schuldig.«

Der Anwalt seufzte erleichtert.

Der Richter klopfte mit seinem Hammer auf den Richtertisch. »Die Angeklagte bleibt bis zur Festlegung des Prozesstermins in Untersuchungshaft.«

Ihr Anwalt unternahm einen letzten Versuch, seiner Mandantin zu helfen. »Euer Ehren, dies ist ein ungewöhnlicher Fall mit einer Mutter von drei Kindern. Obwohl bei einer Mordanklage normalerweise keine Freilassung auf Kaution gewährt wird …«

Er wurde unterbrochen: »Antrag auf Freilassung auf Kaution abgelehnt!«

Der Richter erhob sich, und die Anwälte, das Publikum auf der Galerie sowie die Gerichtsangestellten sprangen schnell auf die Füße. Niemandem war es erlaubt, in der illustren Gegenwart des Gesetzes zu sitzen. Nicht einmal dann, wenn dieses Gesetz von einem inkompetenten, halb senilen Mann mit einem verkümmerten Sinn für Gerechtigkeit verkörpert wurde, dachte der Anwalt wütend. Mit sich bauschender Robe verließ der Richter den Saal – er hatte sein Tagewerk vollbracht.

Chelseas Anwalt ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken, die Schultern nach vorn gebeugt. Die Vertreter der Anklage sahen zufrieden aus. Nur die Angeklagte reagierte nicht. Ihre Wut und ihre Gefühle hatten sich erschöpft, lange bevor ihre Ehe in dem Mord an ihrem Mann gegipfelt war. Sie starrte auf den Boden. Als eine Polizistin sie am Arm nahm und sie hinausführte, leistete sie keinen Widerstand.

Inspektor Singh hatte sich am Flughafen Changi auf einen kleinen Plastiksitz gezwängt. Wie er mit gekrümmtem Rücken dasaß, drückte sein Bauch auf die Lungen. Die fleischigen, schwitzenden Knie hatte er züchtig zusammengepresst, um unbeabsichtigte Berührungen mit den Menschen zu vermeiden, die rechts und links neben ihm saßen. Inspektor Singh mochte körperlichen Kontakt mit Fremden überhaupt nicht. Unglücklicherweise machte sein Umfang es ihm schwer, gebührenden Abstand zu halten. Sein Hemd sah nicht mehr ganz frisch aus, und die Hemdtasche, die voller Stifte war, war an einer Ecke leicht eingerissen. Feuchte Flecken waren unter den Achseln und direkt oberhalb des Bauchs zu sehen. Nur die weißen Turnschuhe sahen noch genauso frisch aus wie in dem Moment, als er sie angezogen hatte, um ins Büro zu gehen – völlig ahnungslos, dass er mit dem Fall betraut werden sollte, von dem er erst am Morgen in der Zeitung gelesen hatte. Singh erinnerte sich, Mitleid mit dem Polizisten empfunden zu haben, der die traurige Aufgabe hatte, den Mörder von Alan Lee zu finden. Jetzt, da er wusste, dass er selbst dieser Polizist war, empfand er noch viel mehr Mitleid.

Inspektor Singh wartete auf einen Flug nach Kuala Lumpur. Er seufzte, ein leicht pfeifendes Geräusch – als starker Raucher atmete er immer schwer. Er brauchte eine Zigarette, doch drinnen und auch fast überall sonst in Singapur war Rauchen verboten. Er fragte sich, ob er es wagen sollte, auf eine Zigarette nach draußen zu gehen. Doch wie unwohl er sich bei dem Gedanken an den Auftrag in Malaysia auch fühlen mochte, er wollte es nicht verpassen, wenn seine Nummer aufgerufen wurde. Singh wusste, dass man ihn nicht mit dem Fall betraut hätte, wäre er nicht derjenige, der im Jahrbuch der Singapurer Polizei inoffiziell unter »möglichst früh angestrebte vorzeitige Pensionierung« eingetragen war. Er seufzte erneut, was seine Nachbarin, eine weiße Frau mittleren Alters, dazu veranlasste, ihm unauffällig einen kurzen Blick zuzuwerfen. Singh wusste, was sie dachte – ein dunkelhäutiger Mann mit einem Turban, der besorgt und in Gedanken versunken aussah? Sie hoffte bestimmt, nicht denselben Flug wie er zu nehmen. Singh hatte weder die Geduld noch die Absicht, ihr zu erklären, dass die sechs Meter schwarzer Stoff, die er sich an diesem Morgen geschickt zu einem spitzen Turban um den Kopf gewickelt hatte, sein Erbe als Sikh widerspiegelten und keineswegs Ausdruck einer terroristischen Neigung waren – ebenso wenig wie der Turban von irgendjemand anderem.

Singh merkte, wie sein Verlangen nach einer Zigarette wuchs. Zum Teufel damit, er würde es riskieren müssen, seinen Flug zu verpassen. Er tastete in seiner Hosentasche nach seiner Zigarettenschachtel und erhob sich schwerfällig von seinem Sitz. Mit dem Handrücken wischte er sich am Turbanband entlang die Stirn; es juckte, wenn ihm warm war.

Als er auf den Ausgang zutapste, ließ ihn der Klang lauter Stimmen innehalten. Ein wenig neugierig sah er sich um. Er brauchte nicht lange, um Quelle und Ursache der Auseinandersetzung zu identifizieren: Zwei Männer, die auf dem Teppich der ersten Klasse in Kampfstellung gingen. Der eine war ein Weißer, der andere Chinese. Sie schienen den Schalter im selben Moment erreicht zu haben und stritten sich nun darum, wer als Erster dran war.

Singh hatte eigentlich keine Lust, sich einzumischen. Er machte einen Schritt auf den Ausgang zu und sah sich dann wieder um. Als er den gequälten Ausdruck auf den Gesichtern der Leute in der Economy-Class-Schlange sah, fasste er einen Entschluss. Lautlos bewegte er sich auf die Männer zu; seine Turnschuhe dämpften seine Schritte. Nicht, dass die Männer ihn sonst gehört hätten. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, einander niederzubrüllen. Der Weiße war kräftig und ungehobelt, seine Nase ein Mosaik kaputter Adern. Der Chinese war schlank und durchtrainiert und trug die aus Polo-T-Shirt und Khakihosen bestehende Yuppieuniform. Das dazu passende teure Gepäck stand neben ihm.

Singh ging auf die Männer zu, die so dicht voreinander standen, dass ihre Fußspitzen sich beinahe berührten, legte jedem von ihnen eine dickfingerige Hand auf den Brustkorb und schob. So wie das Rote Meer sich geteilt hatte, gingen sie auseinander. Der Weiße stolperte über den Rand des tiefblauen Teppichs der ersten Klasse und wäre beinahe gefallen. Wütend sagte er: »Für wen hältst du dich eigentlich, verdammt noch mal?«

Der Chinese nickte bekräftigend, das Gesicht wutverzerrt. Singh amüsierte es, dass die einstigen Kombattanten ihm nun gemeinsam die Stirn boten.

Er lächelte freundlich und sagte: »Inspektor Singh. Polizei Singapur.«

Beide Männer schauten ihn ungläubig an. Singh konnte es ihnen nicht verdenken. Er war ein übergewichtiges, verschwitztes, haariges, wenig überzeugendes Exemplar von einem Polizisten.

»Also, worum geht es hier?«, fragte er.

»Er hat mir meinen Platz in der Schlange weggenommen!«

»Nein! Er hat sich vorgedrängelt!«

Die hübsche Frau hinter dem Abflugschalter sah Singh an und rollte die Augen.

Singh schaute die beiden Männer an, eine Augenbraue nachdenklich hochgezogen.

Dann drehte er ihnen abrupt den Rücken zu und ging ­hinüber zur Schlange der Touristenklasse. Er zählte die ers­ten zehn ab und winkte sie gebieterisch zu sich. Die Passagiere sahen unsicher aus, beugten sich jedoch Singhs Autorität und folgten ihm. Er deutete auf den Abflugschalter der ersten Klasse, und sie reihten sich ruhig davor auf. Nur eine winzige Frau in einem Sari meinte verle­gen: »Ich habe aber nur ein Ticket für die Touristenklasse.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, erwiderte Singh höflich.

Dann wandte er sich an die beiden Männer. »Sie beide … ans Ende dieser Schlange.«

»Was haben Sie gesagt?«, tobte der Weiße.

»Sie haben mich gehört. Stellen Sie sich hinten an.«

»Hinter all diesen Leuten?«

»Genau.«

»Das können Sie doch nicht machen!« Das war der Chinese.

»Habe ich aber gerade …«

»Ich werde Beschwerde gegen Sie einlegen!«, stotterte der Mann wütend.

Singh grinste, mit einem Mal fröhlich. »Da werden Sie auch Schlange stehen müssen!«

Er watschelte zurück zu seinem Sitz, den Ticketabschnitt ­zwischen feuchten Fingern. Es blieb keine Zeit mehr für eine Zigarette. Aber die Sache hatte sich gelohnt.

Fünfundvierzig Minuten später saß er im Flugzeug neben einem älteren Malaien, der ein weißes Hemdkleid, Sandalen und einen sauberen weißen, runden Turban trug. Der Malaie grinste Singh an, als dieser sich setzte, und entblößte spärliche lange Zähne, die an rotem, zurückgehendem Zahnfleisch hafteten. Als er jedoch herausfand, dass sein Nachbar aus Singapur stammte, verlor der ältere Mann das Interesse und ließ sich wieder in seinen Sitz sinken.

Das Flugzeug ruckelte, und Singh schaute nervös aus dem Fenster. Er konnte die Küste der malaiischen Halbinsel sehen. Singapur, eine kleine Insel, vom malaysischen Festland durch einen dünnen Streifen Wasser, die Meerenge von Johor, getrennt und durch zwei Brücken verbunden, war aus seinem Blickfeld verschwunden.

Singh zwang sich, seine Gedanken wieder auf den Fall zu konzentrieren – den Grund für seine unerwartete Reise nach Malaysia. Er hatte die Akte in seiner Aktentasche, nahm sie aber nicht heraus. Im Flugzeug war es ohnehin unmöglich, die Einzelheiten in Ruhe zu studieren. Außerdem kannte er die wenigen Fakten auswendig. Die brodelnde Leidenschaft unterhalb der Oberfläche, die die Zeitungen in Malaysia und Singapur in den letzten Wochen beschäftigt hatte, versprach den Fall zu einem Albtraum werden zu lassen. Inspektor Singhs Vorgesetzte hatten beschlossen, dass der vergiftete Kelch an ihn gehen sollte. Aus ihrer Sicht war dies eine hervorragende Wahl. Wenn es Singh gelang, einen Weg durch das Dickicht der politischen Feinheiten zu finden, die diesen Fall so schwierig machten, würden sie die Lorbeeren einheimsen. Wenn er versagte, würden sie ihn seinem Schicksal überlassen, froh, einen der letzten Einzelgänger der Singapurer Polizei loszuwerden. Das war keine Institution, die es zu schätzen wusste, wenn man den Instinkt der Methode, die Ergebnisse den Mitteln, die Beinarbeit der Schreibarbeit vorzog. Singh war der Elefant im Zimmer, über den niemand sprach, von dem aber jeder hoffte, er würde das einzig Anständige tun: in Frührente gehen. Da er das bis jetzt noch nicht getan hatte, saß er nun in einem kleinen Flugzeug und musste einen unruhigen Flug zu einer äußerst aufgewühlten Stadt ertragen.

Inspektor Singh war davon überzeugt, dass es keinerlei Möglichkeit gab, den Fall, mit dem man ihn gerade betraut hatte, erfolgreich zu lösen. Die gab es nie, wenn die Religion über das rationale Denken siegte und die Politik die Polizeiarbeit beeinflusste. Malaysia und Singapur waren beide ehemalige britische Kolonien, einst Teil desselben Landes, doch nun zwei argwöhnische und unabhängige Nachbarn. Für jedes Land war jeglicher Staatsakt des anderen eine potenzielle Bedrohung oder Beleidigung. Die Boulevardpresse und die Politiker beider Länder kämpften um Sendezeit, indem sie die aufrührerischsten Statements abgaben. Da war die Rede von »ungerechtfertigter Einmischung in innere Angelegenheiten« seitens malaysischer Beamter. Und das Beamtentum in Singapur sprach überheblich davon, dass »der Gerechtigkeit Genüge getan« werde.

Und doch sind die historischen und familiären Beziehungen, die die beiden Nationen miteinander verbinden, stärker als die Streitigkeiten, die sie voneinander trennen, dachte Inspektor Singh. Aber das vertiefte die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ländern nur noch mehr. Zwischen Malaysia und Singapur gab es nicht den höflichen Abstand von Fremden, ließen sich Streitigkeiten nicht formal lösen – jede Meinungsverschiedenheit war eine Familienfehde. Und in den Zeitungen und im Internet wurden nur allzu viele Meinungen über seinen neuen Fall kundgetan.

Das Flugzeug begann seinen Landeanflug über sanfte, mit Ölpalmen bedeckte Hügel. Singh erhaschte einen Blick auf die Formel-Eins-Rennstrecke – ein weiteres Projekt im Bemühen der vorhergehenden Regierung, Malaysia auf die Weltbühne zu zerren. Mahatir, der vorherige Premierminister, war davon überzeugt gewesen, dass Malaysia von der internationalen Gemeinschaft mit Respekt behandelt werden würde, solange er von allem das Größte, Beste und Teuerste baute. Stattdessen war Malaysia jedoch zum Inbegriff der Finanzierung und des Baus nutzloser Dinge geworden.

Singh ging zu den Zügen, die den Terminal des internationalen Flughafens von Kuala Lumpur mit der Ankunftshalle verbanden. Die Decke war mit Hunderten von kleinen Lampen beleuchtet, die an Sterne bei Nacht erinnern sollten. Irgendwo hatte Singh gelesen, dass man die Lampen mittels eines Computerprogramms nach dem Zufallsprinzip platziert hatte, sodass kein Muster erkennbar war. Er machte ein finsteres Gesicht. Programmierte Zufälligkeit war seiner Ansicht nach ein Oxymoron. Er nahm den Anschlusszug und regte sich gleich noch mehr auf. Es war ein Automatikzug, der keinen Fahrer hatte. Singh hatte sein gesamtes Berufsleben damit verbracht, die Fehlbarkeit des Menschen zu erforschen, aber er zog das Risiko menschlicher Fehler der Gewissheit der elektronischen Gleichgültigkeit gegenüber seinem Wohlergehen vor. Nur Augenblicke später trat er aus der klimatisierten Kühle des Terminals in die drückende tropische Hitze.

Singh schlenderte zu den geballten Reihen der Mercedes-Benz-Taxis und stieg auf den Rücksitz des ersten. Der malaiische Fahrer – fast alle Fahrer, die eine Taxilizenz hatten, waren Malaien – hatte einen ungepflegten, dünnen schwarzen Bart. Sein Wagen war jedoch makellos sauber. Ein Vers aus dem Koran klebte auf dem Rückfenster. Singh konnte zwar kein Arabisch, aber er wusste, was dort stand: »Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein einziger Prophet.« Quer über dem Handschuhfach war ein weiterer Aufkleber mit den Worten »You’ll Never Walk Alone« neben einem Logo des FC Liverpool.

Als der Fahrer Singhs Blick bemerkte, fragte er: »Auch Liverpool-Fan?«

Inspektor Singh sah immer die Kricketspiele auf dem Kabel-Kricket-Sender in Singapur. Aber er war irgendwie zu Scherzen aufgelegt, deshalb antwortete er: »Nein, Manchester United.« Er hatte vergessen, dass United nicht länger die Hassfigur der Fußballwelt war.

Der Fahrer nickte mitfühlend. »Ist jetzt sehr schwer für andere Teams. Der Boss von Chelsea hat das ganze Geld.« Er lachte schallend und entblößte zwei Reihen mit Goldfüllungen, die Singh im Rückspiegel glitzern sah. »Früher war es wichtig, wer das Spiel gewinnt. Jetzt ist es wichtig, wer den reichsten Boss hat. Bagi orang kaya trophy sahaja! Da kann man dem reichen Mann auch gleich die Trophäe geben!«

Inspektor Singh lachte, holte dann die Zeitung hervor, die er sich im Flugzeug genommen hatte, und begann, das Neueste über die Angelegenheit zu lesen, die ihn nach Kuala Lumpur gebracht hatte.

2

»Sie können hier rein gar nichts tun! Ich weiß nicht, warum Sie gekommen sind. Die malaysische Polizei hat alles im Griff. Sie sollten jetzt zurückfliegen.« Der mit grauen Tupfern durchsetzte, ordentliche schwarze Schnurrbart des Sprechers sträubte sich, als dieser voller Wut den Mann anschrie, der ihm am Schreibtisch gegenübersaß. Aus einem nussbraunen Gesicht unter geraden, dichten Brauen starrten seine Augen den Inspektor zornig an.

Inspektor Singh blieb unbewegt. Er sagte: »Sie haben keine Wahl, und ich habe keine Wahl. Also können wir uns die Sache leicht oder schwer machen.« Als er sah, dass der malaysische Kommissar von seinem Appell an die Vernunft unberührt blieb, fügte er hinzu: »Schließlich will keiner von uns einen Justizirrtum erleben.«

Der Polizeibeamte antwortete nicht. Er saß da und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf den Schreibtisch. Auf der Arbeitsfläche seines Tisches lag nichts, was irgendetwas mit Arbeit zu tun gehabt hätte. Vielleicht, dachte Singh, warten die höheren Tiere in Malaysia einfach hinter großen, leeren Schreibtischen darauf, dass sie die Gelegenheit erhalten, ihren Einfluss gegenüber einem ausländischen Bullen geltend zu machen. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass es, je höher man auf der Karriereleiter stieg, mehr und mehr um Politik und Statistiken ging statt um Verbrechensbekämpfung.

Der malaysische Polizist wartete auf eine Reaktion seines singapurischen Gegenübers. Singh fragte sich, ob man von ihm erwartete, dass er sich die Klugheit der Bemerkungen dieses Mannes eingestand, seine Koffer nahm und mit eingezogenem Schwanz nach Singapur zurückkehrte. Dass seine Vorgesetzten in Singapur mehr Einfluss auf ihn hatten als der Polizist, der ihn über den Tisch hinweg finster ansah, war aber wohl offensichtlich, oder etwa nicht? Aber wenn hier ein Wartespiel gespielt werden sollte – nun, darin war Inspektor Singh ein Experte. Er saß lässig auf seinem Stuhl und betrachtete die Plastikblumen in einer Plastikvase auf dem Tisch.

Der Malaysier blinzelte als Erster. Er stand auf, ging zu einem Aktenschrank hinüber, öffnete ihn und holte einen großen Ordner heraus.

»Es gefällt mir zwar nicht, doch von bestimmter Stelle wird von mir verlangt, dass ich mit Ihnen kooperiere«, sagte er. »Hier finden Sie alles, was wir bis jetzt unternommen haben. Wir haben die Ehefrau festgenommen. Sie können sie sehen, wenn Sie möchten. Sie können jeden hier in Malaysia befragen, aber nur mit seiner Zustimmung. Wir können niemanden dazu zwingen, mit Ihnen zu sprechen. Ich werde Ihnen meinen Adjutanten schicken. Er wird Ihnen helfen.«

Und jeden meiner Schritte bewachen und dir Bericht erstatten, dachte der Inspektor, sagte aber nichts. Hier ging es um eine – wenn auch widerwillige – Zusammenarbeit auf einer höheren Ebene, als er erwartet hatte. Es musste Druck auf höchster Ebene ausgeübt worden sein. Er bedankte sich mit einem Nicken bei dem finster dreinblickenden Mann und griff nach dem Ordner.

Der Malaysier beugte sich vor und legte seine Hände gespreizt auf den Tisch. »Noch etwas«, sagte er. »Wenn Sie Ihre Autorität überschreiten, stecke ich Sie in die Zelle neben der Angeklagten. Und ich glaube nicht, dass die Regierung von Singapur jemanden zu Ihrer Rettung schickt!«

Inspektor Singh nickte fröhlich, denn er vermutete, dass Heiterkeit sein Gegenüber am ehesten zur Raserei bringen würde. Er fragte sich, wann das malaysische Beamtentum das Bedürfnis, sich in theatralischer Schikane zu ergehen, überkommen würde.

Kurze Zeit später verließ Singh den Raum. Als er hinter sich den Klang gedämpfter Schritte hörte, drehte er sich um und sah, dass ihm ein junger Polizist hinterhereilte. Singh blieb stehen und wartete.

»Sir!« Der Gruß wurde von zackigem Salutieren begleitet. »Ich bin Sergeant Shukor, Adjutant von Kommissar Khalid Ibrahim. Er bat mich, Ihnen bei diesem Fall zu helfen.«

»Gut. Dann zeigen Sie mir erst mal, wo ich mich hinsetzen und diesen Bericht lesen kann«, befahl Inspektor Singh. »Und dann hätte ich gerne einen Tee.«

Inspektor Singh tapste hinter dem jungen Polizisten her, der auf ihn aufpassen sollte, und wurde in einen kleinen Raum mit einem Schreibtisch und einem Aktenschrank geführt. Er ließ sich schwer auf dem einzigen Stuhl im Raum nieder, der aus Protest laut knarrte. Singh drehte sich um und schaute aus dem stark getönten Fenster hinter ihm. Auf einem Feld wurde eine Gruppe junger Männer in blauen Shorts und weißen T-Shirts von einem Trainer auf Trab gehalten, dessen dröhnende Stimme der Inspektor gerade noch hören konnte. Wenigstens wird beim Polizeitraining noch Wert auf Fitness und nicht nur auf Computerfertigkeiten gelegt, dachte Singh. Und so, als wolle er sein eigenes Streben nach Gesundheit demonstrieren, zündete Singh sich eine Zigarette an und machte sich auf seinem Stuhl so richtig breit.

Er sah zu Sergeant Shukor hinüber, der noch immer in Hab­achtstellung stand. Der junge Mann hatte ein sonnengebräuntes, kräftiges Kinn, eine breite, flache Nase und Augen, die ein wenig zu weit auseinanderstanden. Wenn der Sergeant sein Leben lang ein Aktentaschenträger gewesen ist, kann er sich die Hände nicht allzu schmutzig gemacht haben, dachte der Inspektor. Die dunkelblaue Uniform des malaysischen Polizisten war perfekt gebügelt und eng genug, um seine muskulösen Oberschenkel und Unterarme zu betonen. Seine Dienstpistole – glänzend, schwarz und gefährlich – steckte ordentlich in ihrem Halfter.

Singh fragte: »Also wer ist nun tatsächlich für die Ermittlungen im Mordfall Lee verantwortlich?«

»Inspektor Mohammad, Sir.«

»Sollte ich nicht mit ihm sprechen, bevor ich mich an die Arbeit mache?«

Der Sergeant schien sich unbehaglich zu fühlen. Für einen Polizisten war er erstaunlich leicht zu durchschauen. Die Gefühle, die sich in seinem Gesicht spiegelten, waren nicht nur deutlich sichtbar, sondern auch gut zu deuten.

»Was ist los?«, fragte Singh.

»Er sollte eigentlich hier sein, um Sie zu empfangen. Aber er ist nicht aufgetaucht.«

Der Inspektor aus Singapur zog eine Grimasse. »Doch nicht etwa ein weiterer malaysischer Polizist mit schlechtem Benehmen?«

»Nein, so ist er eigentlich nicht, Sir.«

Singh wollte gerade nachbohren, als es leise an der Tür klopfte.

Auf den Blick des älteren Polizisten hin öffnete Shukor die Tür.

Ein hochgewachsener Mann mit dichtem kurzem eisengrauem Haar und einem schmalen, asketischen Gesicht betrat den Raum. Er trug einen schicken dunklen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine Krawatte in einem dunkleren Blau, und seine Manschettenknöpfe waren mit einem Collegewappen verziert. Er sah aus, als gehöre er auf eine Bühne, um in einer Shakespeare-Tragödie zu spielen, oder in einen Sitzungssaal mit vielen ehrerbietigen Untergebenen, die allem zustimmten, was er sagte.

»Inspektor Singh? Ich bin Inspektor Mohammad. Danke, dass Sie gekommen sind, um uns armen Malaysiern dabei zu helfen, bei diesem Fall im Dunkeln herumzutappen.«

Seine Stimme passte zu seinem Aussehen – sanft und ungezwungen vornehm. Und seine Feindseligkeit würde ganz subtil sein, sodass man schwer dagegen ankam. Singh, der sich mit einem Schlag seines feuchten Hemds und seines Spitzbauchs bewusst wurde, nahm die Zigarette aus dem Mund und sagte: »Es ist mir ein Vergnügen, Inspektor Mohammad.«

»Bitte nennen Sie mich Mohammad. Wir haben keine Zeit für Formalitäten, wenn wir zusammenarbeiten sollen.«

Inspektor Singh nickte. »Ich habe den Sergeant so verstanden, dass Sie für den Fall verantwortlich sind?«

»Den Mord an Alan Lee? Ich fürchte, ja. Es scheint jedoch ein ziemlich simpler Fall zu sein, oder?«

Singh deutete auf den vor ihm liegenden Stapel Papier. »Ich war gerade dabei, mich mit den Fakten vertraut zu machen.«

Inspektor Mohammad kräuselte die Lippen. »Die Sache ist alles andere als schön, fürchte ich. Aber ich lasse Sie jetzt besser weitermachen. Shukor wird Ihnen alles holen, was Sie brauchen, und mich finden Sie in meinem Büro, wenn Sie fertig sind.«

Er ging hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.

Inspektor Singh pfiff leise durch gekräuselte Lippen. »Wo hat er denn das her?«

Sergeant Shukor gab nicht vor, die Frage misszuverstehen. »Er kommt aus sehr reicher Familie, Sir. Um ­genau zu sein, gehört er zur Familie des Sultans von ­Perak.«

Singh nickte. Neun der dreizehn Staaten Malaysias waren ehemalige Sultanate, in denen es Erbadel gab. Das hieß, dass es viele Menschen gab, die behaupten konnten, königlicher Abstammung oder zumindest mit einem Königshaus verwandt zu sein.

»Er ist in England aufs Internat gegangen und hat in Cambridge seinen Doktor in Kriminalpsychologie gemacht«, fuhr Shukor fort.

»Was macht er dann hier?«

»Sie sagen, er liebt seinen Job und will nicht so weit befördert werden, dass es nur noch um Verwaltungs- und nicht mehr um Polizeiarbeit geht.«

Inspektor Singh verstand die Abneigung, zum Bürokraten zu werden. Er empfand die Sache genauso.

»Sie lassen ihn in Ruhe, verstehen Sie – weil er so gute Beziehungen hat«, erklärte Shukor.

Singh runzelte die Stirn. Er hatte keine guten Beziehungen – und seine Vorgesetzten ließen ihn nur in Ruhe, wenn es ihnen in den Kram passte.

Er zügelte seine Neugier über den malaysischen Polizisten und sagte in schroffem Ton: »Können Sie mich zu der Verdächtigen bringen?«

Der junge Mann nickte. »Ja, Sir. Inspektor Mohammad meinte, Sie würden sie sicher als Erstes sehen wollen, deswegen habe ich die Sache schon geregelt.«

Gut vorausgesehen, doch Singh gefiel es nicht, dass man ihn für durchschaubar hielt.

»Ich möchte sie in zwei Stunden sehen. Ich werde mich zunächst mit der Ermittlung vertraut machen.«

Der junge Mann fühlte sich damit entlassen und salutierte zackig. »Wenn das so ist, dann werde ich Ihnen eine Tasse Tee holen.«

Inspektor Singh sah sich nach einem Aschenbecher um. Es war keiner da. Er warf die Kippe auf den Teppich und trat sie schnell aus. Das Material, mit dem der Boden bedeckt war, sah leicht entzündbar aus. Er kickte den Stummel unter den Tisch. Es war Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Er musste herausfinden, wie er am schnellsten wieder aus diesem Durcheinander heraus und zurück nach Singapur kam. Singh löste das Band, das die Akte zusammenhielt, und begann zu lesen.

Die Überschrift der Akte lautete »Chelsea Liew«, und in Klammern standen die Worte: »Singapurischer Pass.« Dieser kurze Hinweis war der Grund, warum Singh in Malaysia war. Chelsea Liew war Staatsbürgerin von Singapur. Sie hatte einen singapurischen Pass. Sie hatte einen Malaysier geheiratet und die letzten zwanzig Jahre in Bangsar, einem Vorort von Kuala Lumpur, gelebt. Sie hatte drei Kinder mit malaysischen Pässen. Doch sie selbst war Singapurerin. Und sie wurde beschuldigt, ihren Exmann ermordet zu haben. Normalerweise wäre die Polizei von Singapur nach der Festnahme eines Singapurers durch ein fremdes Land nicht eingeschaltet worden. Die Botschaft hätte auf Anfrage vielleicht sichergestellt, dass der in Schwierigkeiten steckende Staatsbürger ein ordentliches Gerichtsverfahren bekam, darüber hinaus aber nichts weiter unternommen.

Dieser Fall lag jedoch anders. Die religiösen Untertöne, die Kämpfe um das Sorgerecht, der öffentliche Aufschrei in beiden Ländern und die politischen Empfindsamkeiten von Malaysiern wie Singapurern hatten dazu geführt, dass die Regierung von Singapur – erpicht darauf, augenscheinlich zu handeln – die Regierung von Malaysia – erpicht darauf, augenscheinlich über den Dingen zu stehen – darum ersucht hatte, einen Polizisten aus Singapur mit in die Ermittlungen einschalten zu dürfen. Da saß er nun also, in einem schmuddeligen Zimmer im Bukit-Aman-Hauptquartier der malaysischen Polizei, mit einer acht Zentimeter dicken Akte, und bemitleidete sich selbst.

Singh betrachtete die Akte. In den säuberlich beschrifteten Zeitungsausschnitten, Gerichtsprotokollen und Notizen zu den Verhören der Polizei glaubte er die Tüchtigkeit von Sergeant Shukor zu erkennen. Er war mit den wesentlichen Punkten der Angelegenheit vertraut. Aber jetzt lehnte er sich auf dem protestierenden Stuhl zurück und führte sich die ganze Geschichte zu Gemüte. Die Tasse Tee, die Shukor ihm gebracht hatte, stand unberührt auf dem Tisch.

3

Seit ihrer Hochzeit vor zwanzig Jahren war über Chelsea Liew und ihren malaysischen Ehemann Alan Lee regelmäßig in den Klatschspalten berichtet worden. Selbst Inspektor Singh hatte von dem schönen Model aus Singapur gehört, das sich Hals über Kopf in den gut aussehenden malaysischen Erben eines äußerst erfolgreichen Bauholzunternehmens verliebt hatte. Sie hatte ihren Mogul geheiratet und fortan in einem abgelegenen Bungalow gewohnt, der rund um die Uhr bewacht wurde. Zu jedem Kleid stand ihr der passende Wagen zur Verfügung. Singh starrte das verblasste Zeitungsfoto des glücklichen Paares an. Die Hochzeit war das singapurische Gegenstück einer königlichen Hochzeit gewesen. Die Zeitungen hatten ausführlich über die passenden Tischsets, die anwesenden Politiker und die geschätzten Kosten des Hochzeitsessens für die tausend Gäste berichtet. Das Hochzeitskleid, das ein Pariser Designer speziell für die Braut entworfen hatte, war in jenem Jahr von fast jeder Braut in Singapur nachgemacht worden. Das Märchen von dem armen, aber wunderschönen Mädchen, das einen der begehrtesten Junggesellen Malaysias heiratete, hatte die Fantasie der Öffentlichkeit entzündet. Und die Braut hatte die Pub­licity, die Spekulationen und den Neid gelassen hingenommen, der Bräutigam war voller Stolz.

Chelsea hatte ihre Modelkarriere direkt nach der Hochzeit aufgegeben. Gerüchte kursierten, dass sie hatte weiterarbeiten wollen, ihr Mann es jedoch strikt verboten habe. Sie brauchten das Geld nicht. Chelsea hatte es nicht nötig, sich zur Schau zu stellen. Singh erinnerte sich vage daran, dass seine eigene Frau, die stets eine feste Meinung und böse Vorahnungen hatte, der Meinung gewesen war, dass es für eine Frau nicht gut sei, ihre Unabhängigkeit für einen Mann aufzugeben. Den Inspektor hatte das leicht verärgert. Mrs. Singh hatte nämlich nach der Hochzeit prompt ihren Beruf als Lehrerin aufgegeben und nie wieder das Bedürfnis verspürt, zurück in die Schule zu gehen, nicht einmal als klar war, dass sie keine Kinder bekommen würden. Um fair zu sein, dachte Singh, musste man jedoch einräumen, dass seine Frau ihre Unabhängigkeit nicht am Hochzeitstag aufgegeben hatte – sie hatte ihm lediglich die seine genommen. Wie dem auch sei, ihre düsteren Prognosen für das Paar hatten Singh dazu gebracht, dem reichen Mann und seiner jungen, gut aussehenden Braut Glück zu wünschen. Vielleicht würde diese Märchenhochzeit ein Happy End haben.

Singhs Frau hatte jedoch recht behalten. Fast unmittelbar nach den Flitterwochen hatten das Gerede und die versteckten Andeutungen begonnen. Wie es hieß, hatte Chelsea Liew zugenommen. Ihr Mann war in der Stadt gesehen worden. Sie lief mit einem blauen Auge herum. Anstelle von Fotos, auf denen sie mit einem strahlenden Lächeln in die Kamera schaute, brachten die Zeitschriften jetzt Bilder, auf denen sie sich schnell abwandte oder die Handtasche hochhielt, um ihr Gesicht zu verbergen. Dann durchlebte sie drei schwierige Schwangerschaften und gebar ihrem Mann drei prächtige Söhne. Der Strom der schlechten Nachrichten ließ vorübergehend nach. Alan Lee, so wurde berichtet, sei hocherfreut über die Geburt seiner Söhne und Erben. Chelsea galt für kurze Zeit als Vorbild für Mütter überall auf der Welt – als Frau, die voll und ganz in ihrer Mutterrolle aufging.

Alan Lees Geschäfte sorgten ebenfalls für Publicity. Nach dem Tod des Vaters hatte er anstelle seines älteren Bruders Jasper, der das Bauholzunternehmen abgelehnt hatte und zum Naturschutzaktivisten geworden war, das Familienunternehmen übernommen – was zu regelmäßigen Auseinandersetzungen führte, über die auf den Titelseiten malaysischer Zeitungen berichtet wurde. Alan Lee war ein bekannter Geschäftsmann, und Politiker wandten sich hilfesuchend an ihn. Während Chelsea völlig aus der Öffentlichkeit verschwand, wurde Alan häufig mit anderen Frauen fotografiert, die lakonisch als Freundinnen oder Kolleginnen beschrieben wurden.

Schließlich hatte Chelsea nach zwanzig Jahren Ehe die Scheidung und das alleinige Sorgerecht für die Kinder beantragt – wegen Missbrauchs und Ehebruchs. Die Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen füllten eine ganze Akte. Die Protokolle des Scheidungsverfahrens, bei dem beide Parteien erbittert um das Sorgerecht für die Kinder gekämpft hatten, waren eine äußerst unerfreuliche Lektüre. Chelseas Krankengeschichte zeugte von traumatischen Verletzungen, die vermutlich von Schlägen stammten. Alan hatte steif und fest behauptet, sie habe sich die Verletzungen selbst zugefügt und sie seien die Symptome einer gefährlichen, geistesgestörten Frau, der man auf keinen Fall das Sorgerecht überlassen dürfe. Ihre Anwälte hatten jedoch erklärt, er habe immer wieder Ehebruch begangen. Alan hatte so getan, als tue ihm das leid, und behauptet, er habe nur ein bisschen Trost gebraucht, nachdem seine Frau sich gegen ihn gewandt habe. Dies beeinträchtige jedoch nicht seine Fähigkeit, ein guter Vater zu sein.

Selbst der abtrünnige Bruder Jasper Lee hatte eine Zeugenaussage gemacht – für Chelsea. Er behauptete, Alan Lee sei alles andere als ein vorbildlicher Vater; er sei nie da und seine Geschäfte seien so kriminell, dass er als Vater absolut untauglich wäre. Alan Lees Anwälte hatten ihr Bestes getan, Jasper zu diskreditieren. Als frustriertes schwarzes Schaf der Familie, so hieß es, habe er sich nicht damit zufrieden gegeben, das Herz des Vaters zu brechen, indem er das Familienunternehmen abgelehnt habe. Und jetzt wolle er sich an seinem Bruder rächen, der das Unternehmen an seiner statt übernommen hatte. Der jüngste Sohn der Familie, Kian Min, hatte sich im Gegensatz zu Jasper für Alan Lee eingesetzt und ausgesagt, dass dieser einen starken Charakter und ein gutes Herz habe. Dies hatte für eine gewisse Überraschung gesorgt. Es war kein Geheimnis, dass der jüngste Sohn versucht hatte, seinen Vater dazu zu überreden, ihm die Kontrolle über Lee Timber zu übertragen, als Jasper das Unternehmen im Stich gelassen hatte. Es war eine durchaus gerechtfertigte Bitte gewesen. Alan war ein Playboy, der hinter schönen Frauen herlief. Er hatte das Maschinenbaustudium, zu dem er in die Vereinigten Staaten geschickt worden war, nicht abgeschlossen, und bat ständig um Geld. Der Vater fühlte sich versucht, seinen mittleren Sohn zugunsten des jüngsten zu übergehen.

Doch Alan war – vielleicht weil er vermutete, sein Glück genug strapaziert zu haben – gerade noch rechtzeitig nach Hause zurückgekehrt, hatte sich mit Chelsea niedergelassen und so getan, als interessiere er sich für das Familienunternehmen. Und so hatte das Erstgeburtsrecht triumphiert. Die Zeitungen deuteten an, man müsse Kian Min, der immer noch für das Unternehmen tätig sei, aber kaum ein Wort mit Alan wechsle, einen beträchtlichen finanziellen Anreiz geboten haben, wenn er sich für den Bruder einsetzte, den er so sehr verachtete.

Die Sympathien der Öffentlichkeit galten der Ehefrau, als das Gericht den Fall plötzlich für zwei Wochen vertagte. In der Zwischenzeit wurde viel über den Grund dieser plötzlichen Vertagung spekuliert. Glaubte Alan, dass er verlieren würde? Plante er, die Kinder zu entführen und aus dem Land verschwinden zu lassen? Plante sie es? Und wie in Malaysia nicht anders zu erwarten, deutete man natürlich auch an, der Richter habe ein Interesse daran, ein bestimmtes Resultat zu erzielen. Schließlich hatte Alan Lee Geld. Und Geld untergrub bekanntlich die Gerechtigkeit.

Doch keiner dieser Gründe traf zu.

Als das Gericht wieder zusammentrat, ließ Alan Lee die Bombe platzen. Sergeant Shukor hatte ein Gespür für Dramatik, denn er hatte die Gerichtsprotokolle und die Gerichtszeichnungen von den Hauptbeteiligten beigefügt. Inspektor Singh zündete sich eine weitere Zigarette an, und schon bald nahm ihn dieses Gerichtsdrama gefangen.

Der Polizist intonierte mit feierlicher Stimme »Bangun« oder »Alle erheben«. Der Richter, ein hochgewachsener Mann mit Hakennase und schütterem Haar, kam durch die verborgene Tür hinter seinem Podium. Er zog seine Robe hoch, räusperte sich laut und setzte sich. Der Gerichtssaal war bis auf den letzten Platz besetzt. Es war der erste Tag nach der unerwarteten zweiwöchigen Vertagung. Die Vertreter der Presse, einschließlich der Mitglieder der Singapurer Presse, hatten seit dem frühen Morgen Schlange gestanden, um sich einen Sitz zu ergattern. Die Anwälte raschelten ostentativ mit Papier und verschanzten sich hinter dicken juristischen Wälzern. Die Journalisten flüsterten miteinander und machten sich hektisch Notizen.

Künstler fertigten eilig ihre Zeichnungen an und versuchten, mit wenigen schnellen Federstrichen die Atmosphäre im Gerichtssaal einzufangen. Inspektor Singh, der sich die Bilder in der Akte ansah, fand, dass sie ihre Sache gut gemacht hatten. Sie hatten die dunkle Holztäfelung und einen kühlen Modergeruch angedeutet. Der Richter schien überlebensgroß zu sein, die Gerichtsangestellten kleiner. Das Paar, das um seine Kinder stritt, saß neben den jeweiligen Anwälten, getrennt durch einen Gang und zwanzig Jahre Unglücklichsein. Sie war konservativ gekleidet: ein dunkles Kostüm mit weißer Bluse; der Rock reichte bis weit unters Knie. Ihr dezentes Make-up vermochte jedoch nicht, die Schatten unter den Augen zu verbergen. Sie hatte die Lippen fest aufeinandergepresst, so, als versuche sie angestrengt zu verhindern, ihrer Wut Luft zu machen.

Alan Lee hatte im Gegensatz zu ihr weniger Zeit auf die Auswahl seiner Kleider verwandt. Oder vielleicht hatte man ihn auch schlecht beraten. Er trug einen hellen Anzug, der an diesem düsteren Schauplatz unangebracht schien. Seine Krawatte wirkte beinahe festlich. Und er gab sich selbstgefällig – so als bezweifle er keinen Augenblick, dass das Urteil zu seinen Gunsten ausfallen würde. Die Anwälte, die auf diesen Zeichnungen mit weißen Hemden, Eckenkragen und schwarzen Anzügen dargestellt waren, sahen aus wie Raubvögel, die über dem Kadaver dessen kauerten, was einmal eine Ehe gewesen war. Die Journalisten waren schnell und undeutlich gezeichnet, wie eine Horde von Aasgeiern, die nur darauf wartete, sich auf den Rest von Privatleben zu stürzen, der dem berühmten Paar noch geblieben war.

Der Richter starrte in den voll besetzten Gerichtssaal und wartete, bis völlige Stille herrschte.

»Sind in der Sache Liew versus Lee alle Parteien anwesend?«, fragte er.

Er sprach Englisch, obwohl die offizielle Gerichtssprache Malaiisch war. Zu Beginn des Prozesses hatte er den Bestimmungen gemäß die Verhandlung auf Malaiisch eröffnet. Doch Vertreter von Verteidigung und Anklage hatten sofort um die Erlaubnis gebeten, auf Englisch fortzufahren, was der Richter ihnen bereitwillig gestattet hatte. Ihre Entschuldigung war nicht die, dass ihr Malaiisch (und das des Richters) miserabel war, sondern dass Chelsea Liew, die aus Singapur stammte, der Verhandlung nicht würde folgen können.

Singh wusste, dass in Malaysia so viele Sprachen gesprochen wurden, dass die Mühlen der Gerechtigkeit oft zum Stillstand kamen, weil es keinen Dolmetscher gab, der das babylonische Sprachengewirr entwirren konnte.

Auf die Frage des Richters antwortete der Anwalt von Chelsea Liew respektvoll: »Ja, Euer Ehren.«

Alan Lees Anwalt, Mr. Loh, war ein angriffslustiger Chinese, der den Ruf hatte, alles Menschenmögliche zu versuchen, um den Erfolg seines Mandanten sicherzustellen. Dennoch war ihm noch nie unterstellt worden, dass er das Gesetz brach. Er nutzte nur – unter Umständen, unter denen ehrenhaftere Anwälte vielleicht etwas Weitherzigkeit und mehr Rechtschaffenheit gezeigt hätten – die Komplexität des Gesetzes zum Vorteil seiner Mandanten. Jetzt sagte er fröhlich: »Ja, Euer Ehren.«

Der Richter, den diese unangebrachte Heiterkeit reizte, sagte: »Ich nehme an, die Anwälte beider Parteien sind bereit, mit der Sorgerechtsverhandlung fortzufahren?«

Mr. Loh erwiderte unerwartet: »Wir stellen den mündlichen Antrag, dieses Sorgerechtsverfahren einzustellen.«

Im Saal herrschte Totenstille.

Chelsea Liews Anwalt sprang auf die Füße. Er war wütend, was man seiner Stimme deutlich anhörte. »Mit welcher Begründung?«, fragte er. »Euer Ehren, der Beklagte stiehlt dem Gericht die Zeit!«

Der Richter erwiderte: »Mr. Chandra hat recht. Mit welcher Begründung sollte ich wohl das Verfahren einstellen? Wir sind fast am Ende der Sorgerechtsverhandlung angelangt.«

Mr. Loh konterte: »Euer Ehren, wir berufen uns auf Artikel 121 (1A) der Verfassung der Föderation Malaysia.«

Im Gericht war Gemurmel zu hören, als die Journalisten untereinander berieten, was dieser Artikel besagte, und Zuhörer die Frage wiederholten. Alan Lee lächelte. Chelsea Liew richtete sich auf ihrer Holzbank auf und schaute voller Angst erst den Richter und dann ihren Anwalt an. Ihr Blick verlangte eine Erklärung.

Ihr Anwalt tat sein Bestes. Er sagte: »Artikel 121 (1A)? Aber inwiefern trifft er hier zu?« Er sah den Richter fast flehend an. »Meine Mandantin hat genug gelitten. Sie möchte unbedingt ihr Leben mit ihren Kindern neu gestalten. Mr. Loh und sein Mandant missachten mit ihrem irrelevanten Antrag die Würde des Gerichts.«

»Sie stellen meine Geduld wirklich auf eine harte Probe, Mr. Loh«, bemerkte der Richter.

Mr. Loh erwiderte mit fester Stimme: »Wir beantragen die Einstellung des Sorgerechtsverfahrens mit der Begründung, dass dieses Gericht für diesen Fall nicht zuständig ist. Das richtige Tribunal für einen Sorgerechtsstreit zwischen den Parteien ist das Scharia-Gericht.«

Im Gerichtssaal entstand Tumult, als den Zuschauern plötzlich klar wurde, worauf das Ganze hinauslief. Der Richter klopfte laut mit dem Hammer auf den Tisch und sah sich im Gerichtssaal um. Der Lärm ließ nach, doch noch immer war leises Gemurmel zu hören. Was geschehen war, war geschehen, was gesagt war, war gesagt.

Der Richter wandte sich an Mr. Loh und fragte betont geduldig: »Warum sollte der muslimische Gerichtshof – das Scharia-Gericht – zuständig sein?«

Mr. Loh antwortete mit hoher, klarer Stimme, die überall im Gericht zu hören war: »Mein Mandant, Alan Lee, ist vor Kurzem zum Islam übergetreten, Euer Ehren. Für alle Familienrechtsangelegenheiten ist nach Artikel 121 (1A) der Verfassung das Scharia-Gericht zuständig.«

»Aber Chelsea Liew ist keine Muslimin. Und auch ihre Kinder nicht«, widersprach Mr. Chandra empört.

Mr. Loh war im Vorteil, was ihm sehr wohl bewusst war. Er sagte: »Ich bin natürlich kein Experte, aber soweit ich weiß, ist die Religion Minderjähriger nach islamischem Recht die des Vaters … oder er kann sie zu Muslimen erklären, was er bereits getan hat.«

Das Protokoll endete ziemlich prosaisch mit: »Gericht vertagt. Die Antragstellerin, Mdm. Chelsea Liew, sorgte für Unruhe und musste aus dem Gerichtssaal entfernt werden.«

Die Zeitungen waren nicht so zurückhaltend, was die »Unruhe im Gerichtssaal« anging, für die Chelsea Liew gesorgt hatte. Inspektor Singh fand einen Artikel aus der Malay Mail, einem Boulevardblatt, der besonders anschaulich war: »Madam Chelsea Liew begann, ihrem Exmann, Alan Lee, Obszönitäten an den Kopf zu werfen. Sie versuchte, sich an ihrem Anwalt, Mr. Subhas Chandra, vorbeizudrängen, doch der verstellte ihr den Weg. Da kletterte sie über den Tisch, wobei sie einen Schuh verlor. Sie rannte hinüber zu Mr. Lee und trat und kratzte ihn. Er versuchte, sein Gesicht zu schützen, doch sie zerkratzte ihm mit ihren Fingernägeln die Wange. Blut rann ihm übers Gesicht. Laut Informationen der Malay Mail musste er von einem plastischen Chirurgen genäht und behandelt werden, damit sein Aussehen nicht dauerhaft beeinträchtigt wurde. Drei Polizistinnen mussten eingreifen, um Chelsea Liew zurückzuhalten, die in Gewahrsam genommen und später ohne Anklage freigelassen wurde. Als sie aus dem Gerichtssaal gezerrt wurde, lauteten ihre letzten an ihren Ehemann gerichteten Worte: ›Dafür bringe ich dich um!‹«