Jetlag

Ein Amerikaner zum Verlieben

Edna Schuchardt


ISBN: 978-3-95573-484-8
2. Auflage 2016, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2016 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Unter Verwendung eines Bildes von shutterstock.

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Kapitel 1

In Denver hatte es geschneit. Claire zog unwillkürlich die Schultern hoch, als sie aus dem Flughafengebäude auf den Parkplatz hinaustrat, aber der erwartete Kälteschock blieb aus. Hier in Frankfurt herrschten noch angenehme spätsommer­liche achtundzwanzig Grad plus, die ihr augenblicklich den Schweiß aus allen Poren trieben. Davids gefütterte Kanadier­weste, die sie sich geliehen hatte, und der grobgestrickte Pullover darunter waren für das herrschende deutsche Wetter eindeutig überdimensioniert.

"Schwitzt du nicht?" erkundigte sich Rita überflüssigerwei­se, während sie gemeinsam auf den kleinen roten Flitzer zusteuerten, den sie auf dem riesigen Parkdeck zwischen einen Van und eine überlange Nobellimousine gequetscht hatte. Rita war eine miserable Autofahrerin, die sich - die Götter moch­ten wissen warum - immer die engsten Parklücken aussuchte und dann nicht wieder herauskam. Claire beschlichen jedenfalls beim Anblick des eingeklemmten Wägelchens die schlimmsten Befürchtungen, aber sie hielt den Mund.

Sie hieften einen Teil von Claires Gepäck in den viel zu kleinen Kofferraum, der Rest kam auf den Rücksitz, wo es sich so hoch türmte, daß Rita kaum hinausschauen konnte. Das hinderte sie aber nicht daran, mit quietschenden Reifen rückwärts aus der Parklücke zu sausen. Rita drehte sich sowieso nie um, wenn sie zurückstieß.

Claire sandte ein stummes Stoßgebet gen Himmel und legte den Kopf an die Nackenstütze. Sie hatte den turbulenten Flug überstanden, sie würde auch die Nachhausefahrt noch irgendwie überstehen.

"Nun erzähl mal, wie war's so in good old America?" Rita fuhr mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf die A-3, zwang einen Kleinlaster zum Abbremsen und trat das Gaspedal durch. "Mensch, wir haben dich ja alle so um diese Reise beneidet. Du hast nur leider wenig von dir hören lassen. Dafür mußt du mir jetzt alles erzählen. Was mich vor allem interessiert, hast du ein paar tolle Männer kennengelernt?"

Claire zuckte bei dieser Frage kaum merklich zusammen. Das Bild eines gutgeschnittenen Männergesichts erhob sich vor ihrem geistigen Auge. Ein breiter, sympathischer Mund, der immer zu lachen schien, Augen, die vor Lebenslust und guter Laune funkelten, ein dunkelblondes Haarbüschel, das sich von keiner Bürste, keinem Gel bändigen ließ...

David, mein Gott, ich vermisse dich jetzt schon!

Claire riß sich gewaltsam von ihrer Erinnerung los.

"...von diesem gähnlangweiligen Berti losbringt", sagte Rita gerade. Sie hatte die ganze Zeit vor sich hingeschwätzt, ohne zu merken, daß Claire ihr nicht zuhörte. Aber das war das angenehme an Rita, sie erwartete nie ernsthaft, daß man auf ihre Fragen antwortete oder ihrem Geplappere zuhörte. So lange sie nur ihr Mundwerk in Gang halten durfte, war Rita-lein zufrieden.

Sie hatten das Wiesbadener Kreuz passiert. Nicht mehr lange, dann würden sie die Landeshauptstadt erreicht haben. Claire freute sich auf ihr Zuhause, auf ihr ruhiges, gemütli­ches Appartement, die alten Freunde, ihre Arbeit, ihr altes beschauliches Leben, das sie für ein Vierteljahr gegen den American Way Of Life eingetauscht hatte.

Es war kein schlechter Tausch gewesen. Claire hatte sich rundum wohl gefühlt, hatte jeden Tag, den sie in der atemberaubenden Natur von Colorado erleben durfte, aus tiefstem Herzen genossen. Aber jetzt war sie, wenn sie es richtig bedachte, doch froh, wieder nach Hause zurückzukehren - komischerweise wollte ihr Herz das nicht begreifen. Aber das war eine andere Sache.

"...wenn er nur ein Quäntchen Mumm in den Knochen hätte", plapperte Rita indessen ungestört und weitestgehend ungehört weiter. Claire überlegte einen Moment, vorüber Rita wohl gerade gesprochen hatte. Ein Quäntchen Mumm? Aha, sie sprach also immer noch von Bertram, Claires Verlobten!

Rita und Bert konnten sich nicht ausstehen. Aber es gab eigentlich kaum einen Menschen, der Bertram mochte und umge­kehrt.

Ob er ihr inzwischen verziehen hatte, daß sie entgegen seinen und Hilde-Maries Empfehlungen für ein Vierteljahr nach Amerika gereist war. Oder schmollten die beiden immer noch? Letzteres war wohl anzunehmen, da Bertram und Hilde-Marie nicht am Flughafen gewesen waren, um sie abzuholen.

"Aber wie stellst du dir das vor?" hatte Bertram bei Clai­res letztem Anruf entrüstet ausgerufen. "Wie soll ich dich abholen können? Ich muß arbeiten!"

Ein spöttisches Lächeln stahl sich auf Claires Gesicht. Der gute, doofe Bertram! Er tat immer fürchterlich wichtig mit "seiner" Arbeit. Offiziell war er nämlich der Inhaber von "Schreibwaren-Kleefisch", einem alteingesessenen Betrieb mitten in der Wiesbadener Fußgängerzone. In Wahrheit aber wußte eigentlich jeder in der Landeshauptstadt, daß Hilde-Marie Kleefisch, seine Mutter, die Chefin des Ladens war. Was sie sagte wurde gemacht und zwar ohne Widerrede!

Bertrams Vater war gestorben, als Klein-Berti gerade zarte fünf Jahre zählte. Hilde-Marie hatte den alten Familienbe­trieb natürlich erhalten wollen und ihn so lange geleitet, bis ihr Sohn soweit war, dem Geschäft vorzustehen. Inzwischen war Berti fünfunddreißig Jahre alt, noch lange nicht in der Lage, irgend etwas zu leiten. Am allerwenigsten einen Schreibwarenladen mit rund zehn Angestellten.

"Angekommen!"

Ritas fröhlicher Ausruf schreckte Claire aus ihren Gedan­ken. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und sah wie erwachend um sich.

Tatsächlich, das war das schöne alte Haus mit der herrli­chen Stuckfassade, hinter der Claires Appartement lag und da war auch Herr Brandenburger, ihr Nachbar, mit seinem Dackel Hubert, der gerade die Kastanie goß.

"Ich helfe dir noch, das Gepäck hochzuschaffen", bot Rita freundlich an, während sie sich bereits aus dem roten Flitzer schälte. "Aber dann muß ich los. Ich habe Sonny versprochen, sie um halb zwei im Laden abzulösen."

Claire fiel ein, daß sie noch nicht mit einer Silbe nach der Boutique gefragt hatte. Irgendwie war alles noch so weit weg. Es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, ehe Claire auch mit dem Kopf wieder zuhause war.

Rita hatte sich bereits mit ein paar Gepäckstücken beladen. Claire folgte ihr, schwer an den beiden Koffern schleppend, in denen sie ihre wichtigstens Andenken und Geschenke für alle Lieben aufbewahrte.

Herr Brandenburger winkte ihr erfreut zu, als Claire das Gepäck ins Haus schleppte. Und dann war sie endlich in ihrer Wohnung.

Kapitel 2

Ein riesiger Blumenstrauß begrüßte Claire, als sie die Diele ihres Appartements betrat. Rita hatte ihn mitten in den Gang gestellt. Eine große Karte verriet, daß er von allen Freunden und Freundinnen stammte, die Claire auf diese Weise herzlich willkommen heißen wollten.

"Ich habe ein paarmal in der Woche durchgelüftet und die Putzfrau zum Staubwischen durchgejagt", plapperte Rita, während sie Claire folgte, die Raum für Raum in Besitz nahm. "Die Post liegt auf dem Küchentisch. Alles was amtlich aus­sah, habe ich geöffnet und erledigt, alles was privat aussah, habe ich einfach liegen gelassen. Also, im Grunde ist alles erledigt. Du brauchst dich um nichts zu kümmern. Ah, Kaffee steht auf dem Wohnzimmertisch." Rita kam zu ihr und umarmte Claire liebevoll. "Jetzt komm' erst einmal zu dir, ja? Und erhol dich von dem langen Flug. Ich schau' heute abend noch mal vorbei."

Claire umarmte sie dankbar.

"Du bist süß", meinte sie liebevoll. "Ehrlich, Rita, danke, daß du dich so toll um alles gekümmert hast."

"Hab' ich doch gerne gemacht." Rita schob sie energisch von sich. "Schließlich bist du doch auch immer für alle da, wenn's irgendwo brennt. So, und jetzt Schluß mit den Dankesa­rien. Ich muß los. Ich komme heute abend noch mal vorbei und dann mußt du mir alles haarklein erzählen."

Sie versetzte Claire einen neckenden Nasenstüber, schnappte sich ihre Umhängetasche und verließ die Wohnung.

Zu Hause! Irgendwie hatte sie das Gefühl, noch gar nicht angekommen zu sein. Wenn sie die Augen schloß und ganz schnell wieder aufmachte, war sie bestimmt wieder in Clear­water, draußen vor den Fenstern des gemütlichen Holzhauses heulte der Wind und trieb die Schneeflocken wie Federn vor sich her.

Kapitel 3

Bis zu dreißig Zentimeter dieser weißen Pracht hatte der Sturm in der vergangenen Nacht auf die Veranda geweht. Davids Schaukelstuhl war unter der weichen Last nur noch als sanft­gerundeter Hügel zu erkennen gewesen.

"Du wirst nicht fliegen können." Davids Augen strahlten vor Freude über diese Möglichkeit. "Bei solchem Schneetreiben hebt kein Hubschrauber ab, das weiß ich. Tja, da wirst du wohl nun doch bei mir bleiben müssen."

"Hör auf!" Claire lief ans Fenster, in der Hoffnung, der Schneesturm könnte sich gelegt haben. "Mein Flug geht erst um acht Uhr. Vielleicht hat sich das Wetter ja bis dahin beru­higt."

"Und wenn nicht, dann mußt du eben bleiben." David trat hinter sie. Als seine Hände ihren Körper berührten, stieg dieses altbekannte Gefühl des Begehrens in ihr auf. Noch nie hatte sie derartig stark auf einen Mann reagiert und David, dieser alte Schlawiner, wußte das.

"Von mir aus kann es bis zum Sankt Nimmerleinstag so wei­terschneien", flüsterte er ihr ins Ohr. Sein warmer Atem kitzelte die empfindliche Stelle an Claires Hals. Sie spürte, wie sich ihr ganzer Körper mit einer feien Gänsehaut überzog. "Ich würde mich mit dir bestimmt nicht langweilen."

"Oh Gott, Dave, laß das!" Mit letzter Kraft riß Claire sich von ihm los und floh aus seiner erregenden Nähe. "Sieh, wir haben jetzt schon so oft darüber gesprochen. Ich muß nach Deutschland zurück. Ich kann nicht bleiben. Es gibt einen Haufen Dinge, die ich dort zu regeln habe und dann..." Sie hob die Schultern. "Laß uns nicht wieder streiten, bitte. Versuche einfach, meine Entscheidung zu akzeptieren, wenn du sie schon nicht verstehen kannst."

Davids Miene verfinsterte sich.

"Das fällt mir schwer, um nicht zu sagen, daß es mir unmög­lich ist", murmelte er unzufrieden. "Ich meine, okay, ich verstehe, daß du drüben nicht alles liegen und stehen lassen kannst und einfach hierbleiben. Aber wenn ich daran denke, daß dort der andere auf dich wartet..."

Bei der Erinnerung an Bertram mußte Claire unwillkürlich lachen. Bertram und auf sie warten! Er schmollte immer noch, weil sie ohne seine ausdrückliche Erlaubnis für sage und schreibe ganze drei Monate nach Amerika gegangen war.

"Ich kann ihm nicht einfach unseren Verlobungsring zuschic­ken und glauben, damit sei alles vorbei", versuchte Claire, David begreiflich zu machen. "Wir sind immerhin vier Jahre zusammen. Da trennt man sich auf andere Weise. Ich bin es ihm schuldig, Dave, egal, was ich über ihn denke oder wie ich jetzt für ihn fühle."

"Trotzdem bin ich eifersüchtig", behauptete David stur. Wenn er wollte, konnte er sich wie ein kleiner Junge beneh­men, der einfach nicht einsehen mochte, daß Zucker Karies verursacht. "Mit ihm hast du dich verlobt. Meine Heiratsanträge lehnst du jedes Mal ab."

"Ich lehne sie nicht...Verdammt, ich will nicht schon wieder darüber diskutieren!" Claire hatte genug. Ihre Nerven waren seit ein paar Tagen nicht gerade die besten. Die bevor­stehende Abreise, die Trennung von liebgewordenen Freunden und vor allem von David, das alles machte ihr mehr zu schaf­fen, als sie zugeben mochte. "Das mit Bertram und mir, das, das geht dich nichts an und außerdem - ach zum Teufel, David Sundrove, wieso zwingst du mich immer dazu, mich zu rechtfer­tigen?!"

David grinste wie ein Lausejunge.

"Weil ich so gerne mit dir streite." Er kam näher und zog Claire, ihren Widerstand ignorierend in seine Arme. "Die Versöhnung ist immer so herrlich."

Diesmal ließ Claire sich küssen. Himmel, was für eine verrückte, tolle, erregende Beziehung! Sie hatte diesen Mann gesehen und schon hatte es in ihrem Inneren "Klick" gemacht. Obwohl sich Claire sonst immer zu den Vernunftmenschen ge­zählt hatte, die jeden als irren Träumer bezeichnete, der von der Liebe auf den ersten Blick faselte, war ihr mit David genau das passiert. Und das Verrückteste an der Geschichte war, daß es Dave genauso ergangen war.

Sein Kuß ließ vorübergehend die Gedanken an den bevorste­henden Abschied ins Dunkel des Vergessens versinken. Dort waren sie erst wieder herausgekrochen, als sich das Paar endlich voneinander löste. Noch ganz atemlos von der stürmi­schen Umarmung, drehte Claire sich in Davids Armen auf die Seite und sah verträumt aus dem Fenster.

Draußen lachte eine blankgeputzte Sonne vom Himmel.

Mit einem Satz war Claire aus dem Bett gesprungen.

"Mein Flug!"

In Windeseile begann sie ihre Sachen zusammenzuräumen. David half ihr, widerstrebend zwar, aber immerhin. Er beglei­tete sie auch auf dem Flug nach Denver.

In der kleinen Abfertigungshalle des Lufttaxis hatten alle Freunde gewartet, um sich von Claire zu verabschieden. Bunte Luftballons, die sie leider nicht mit an Bord nehmen konnte, tanzten auf langen Fäden, unzählige Blumensträuße wurden Claire in die Arme gelegt. Und dann waren sie losgeflogen.