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Armin Nassehi

Mit dem Taxi durch die Gesellschaft

Soziologische Storys

Inhalt

Einstieg
Perspektiven
Fremdheit
Wille
Abwesenheit
Entscheidung
Wandel
Kompetenzen
Krise
Verdoppelungen
Ausstieg
Dank
Über den Autor
Impressum

Einstieg

In diesem Buch werde ich viel unterwegs sein – nicht nur in Taxis, sondern auch per Bahn und Flugzeug, sogar auf einem Schiff, an allerlei Orten, auf Tagungen, Meetings, Vernissagen, im Krankenhaus und im Museum. Selbst das Schreiben habe ich nicht nur zu Hause am Schreibtisch absolviert, sondern auch unterwegs, auf einer Terrasse in der toskanischen Maremma etwa, einiges in einem Hotel etwas nördlicher, in der Versilia. Viele Teile sind tatsächlich beim Fahren oder Fliegen entstanden. Ein halbes Kapitel habe ich sogar in der Wartehalle eines Flughafens geschrieben.

Was sieht man, wenn man unterwegs ist? Man bewegt sich im Raum, kommt von hier nach dort, und auf dem Weg verändert sich die Welt. Wollte man den Raum definieren, wäre er nichts Anderes als die Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen. Im gesellschaftlichen Raum sehen wir stets Unterschiedliches. Das ist das Spannende an der Gesellschaft, sie besteht aus unterschiedlichen Kontexten, die irgendwie aufeinander bezogen sind. Die Metapher des Taxis passt dafür sehr gut – schon weil das Taxi nicht bloß eine Metapher ist. Die Wagen fahren überall herum, und sich in ein Taxi zu setzen ist geradezu der Eintritt in diese Erfahrung von Modernität: mit Unterschiedlichem konfrontiert zu werden. Im Taxi wird die Schwelle der Kommunikation sehr tief gehängt – man weiß, dass die Beziehung zwischen Fahrer und Passagier begrenzt bleibt –, und das erhöht die Freiheitsgrade für Kommunikation. Das Auto ist geschlossen, niemand hört zu. Wenn man so will, ist es ein Kontext aller Kontexte.

Und genau darum wird es in diesem Buch gehen: um Kontexte. Was ich hier schreibe, ist weder eine wissenschaftliche Analyse der modernen Gesellschaft noch ein politisches Pamphlet mit klaren Forderungen und eindeutigen Konzepten. Das Buch präsentiert einen Ton, der auf die wissenschaftliche Stringenz ebenso verzichtet wie auf die Eindeutigkeit des Forderns und Wegweisens. Es ist eher ein Zwischenton – der die Unmöglichkeit klarer und eindeutiger Aussagen, Forderungen und Programme eindeutig und klar auf den Begriff bringt.

Es ist auch ein Buch über die Krise. »Über welche Krise?«, mögen Sie fragen. Das ist letztlich egal. Es geht in diesem Buch darum, die unvermeidliche Krisenhaftigkeit der modernen Gesellschaft zu betonen. Deshalb weist dieses Buch, anders als die meisten anderen, weder einen Weg aus der Krise, noch macht es bestimmte Leute für die Krise verantwortlich. Es geht mir eher darum, zu zeigen, dass in unserer Art von Gesellschaft der Ausnahmezustand der Normalfall ist – und zwar in dem prinzipiellen Sinne, dass nichts je zu einem Ende kommen kann. Diese Gesellschaft ist so schnell, sie hat so viele Kontexte, dass es immer auch noch einen anderen, einen weiteren Blick gibt, der jeglichen Schlusssatz konterkariert. Der Klassiker für Schlusssätze ist die vatikanische Formel dafür, dass es keine Widerworte mehr geben darf: Roma locuta, causa ­finita – Rom hat gesprochen, und damit ist der Fall erledigt. Mit dem Gestus des Roma locuta treten immer noch viele auf, aber ­causa finita – das geht schon lange nicht mehr.

Es geht mir um einen Blick für Blicke. Warum erscheint die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven und Positionen so unterschiedlich? Warum verfangen wir uns in unseren eigenen Sichtweisen? Warum erscheint uns diese Gesellschaft als nie abgeschlossen, nie fertig, nie stillstehend, nie sicher? Mir geht es bei meinen Beschreibungen der Gesellschaft darum, erst einmal Distanz zu den geradezu inflationär auftretenden Versprechen zu halten, dass sich die Probleme und Herausforderungen schon lösen und bewältigen lassen, wenn man nur die richtige Strategie kennt.

Autoren neigen – nachgerade naturwüchsig – dazu, die eigenen Lösungen, die eigenen Vorschläge für die geeignetsten zu halten. Ich unterbreite hier keine Lösungsvorschläge. Ich mache eher darauf aufmerksam, wie unterschiedlich Lösungsvorschläge aus unterschiedlichen Perspektiven aussehen. Was mich interessiert, ist die Frage, wie Perspektiven zustande kommen, wie Menschen in ihre Perspektiven, Beschreibungen, Praktiken verstrickt sind. Und die Hoffnung, die das Buch machen soll, speist sich nicht aus dem obercoolen Blick eines Soziologen, der nun simuliert, er habe die Perspektive aller Perspektiven.

Auch dieses Buch tut nur, was es tun kann – aber es will praktisch Ernst machen mit der theoretisch leicht formulierten Einsicht, dass unterschiedliche Kontexte auch unterschiedliche Welten hervorbringen. Und es will dies nicht nur einfach beschreiben, sondern schöpft daraus wenigstens die Ahnung einer Hoffnung – die Hoffnung darauf, dass sich mit der praktischen Wendung dieser Einsicht ein Verständnis dafür gewinnen lässt, warum diese unterschiedlichen Welten in der einen Welt aufeinandertreffen und dabei unweigerlich in Konflikt geraten. Dieses Buch will diesen Konflikt nicht vermeiden, sondern entfalten. Es ist dabei in einem besonderen Sinne liberal – nicht lediglich in dem vordergründig politischen Sinne, unterschiedliche moralische Standpunkte oder Lebensweisen zu tolerieren und voreinander zu schützen.

Dieses Buch ist entschieden liberal, indem es Verständnis dafür aufbringt, dass unterschiedliche Weltzugänge nicht zufällig auf­treten. Und Verständnis meint hier ein Doppeltes: es überhaupt zu verstehen einerseits; sich in die unterschiedlichen Sprecherposi­tionen verstehend hineinzuversetzen andererseits. Das bedient nicht den Wunsch nach starken Lösungsversprechen und klaren Handlungsanweisungen. Es hört sich deshalb vielleicht nicht aufregend an – das ist es aber. Denn in dieser Einsicht steckt ein enormes Potenzial.

Einer der ersten Leser des Manuskripts hat diesen Ton einen fatalistischen Optimismus genannt. Fatalistisch erscheint er vielleicht, weil er auf die Verstrickungen verweist, in denen wir uns immer schon befinden. Optimistisch ist er aber darin, dass diese Verstrickungen stets positiv gewendet werden. Denn es wäre gnadenlos naiv, zu glauben, dass wir ohne sie auch nur einen Satz hervorbringen könnten. Sie sorgen zwar für unsere Begrenzungen, versorgen uns aber auch mit dem Material und den Möglichkeiten, aus denen sich überhaupt erst sagbare Sätze machen lassen.

Was tun wir eigentlich, wenn wir von verschiedenen Standpunkten aus miteinander reden, wenn wir unseren ganz normalen Alltag leben, wenn wir Führungsaufgaben übernehmen, wenn wir uns entscheiden müssen, wenn wir mit Krisen konfrontiert werden, wenn wir die Gesellschaft verändern wollen? Solche konkreten Situationen stehen jeweils im Mittelpunkt der folgenden Storys. Und sie werden oft verblüffend anders ausgehen, als man zunächst womöglich erwartet.

Mein Programm ist nicht die Verstärkung und damit Selektion konkreter Forderungen. Mein Programm ist ein zugleich distanzierter und engagierter Blick auf Perspektiven. Meine Perspektive sind die Perspektiven. Das wirkt unspektakulär. Aber es richtet den Blick auch darauf, dass das Spektakel eben – im Wortsinne – nur ein Schauspiel ist. Ich lenke den Blick auf die unterschiedlichen Schauspiele, die überall aufgeführt werden. Auf die Schauspiele professioneller Sicherheiten, auf die Schauspiele des Entscheidens und der Behauptung von Wille und Vorstellung, auf die Schauspiele der Krisenkritik und der Medienereignisse. All diese Welten spielen etwas vor. Und auch ich behaupte keineswegs, dass ich kein Bühnenspektakel vorführe. Auf meiner Bühne aber sollen die anderen Bühnen als Bühnen vorkommen. Ich inszeniere dieses Buch deshalb als eine Beschreibung von Beschreibungen, die damit auf den ersten Blick womöglich abgewertet werden. Aber vielleicht nimmt man sie in ihrer Begrenztheit damit ernster. Wie auf Bühnen eben, auf denen sich folgende Paradoxie entfaltet: Es wird die ganze Welt gezeigt, alles Andere aber wird ausgeklammert.

Diese Inszenierung wird keinen großen Lärm veranstalten. Denn vielleicht müssen Überraschungen in einer so lauten Welt eher leise daherkommen. In diesem Anspruch übrigens ist dieses in seiner ganzen Form geradezu unpolitische Buch wirklich politisch: Es entfaltet ein Programm zur leisen, aber darin überraschenden Beschreibung einer Gesellschaft, die so viel Unterschiedliches über sich weiß, dass sie fast nichts mehr über sich wissen kann. Und vielleicht gelingt es mir ja, nicht nur eine weitere Variante hinzuzufügen, sondern das Beschreiben selbst einsichtig zu machen. Ich lade die Leserin und den Leser jedenfalls ein, mit mir auf eine Reise zu gehen, auf der wir alltägliche Akteure treffen, die sich in ihren Verstrickungen redlich abmühen und denen es in ihren Begrenzungen immer wirklich um etwas geht.

Perspektiven

Warum wir dieselbe Welt so unterschiedlich sehen

»Patient sind Sie aber nicht, oder?«, fragte mich der Taxifahrer, der mich vom Hauptbahnhof in die Klinik fahren sollte. Ich war in Eile, da mein Zug aus München mehr als eine Stunde Verspätung hatte. Der Fahrer wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern begann gleich zu erzählen. Seine Frau habe lange in dem Klinikum gelegen, sie sei schwer krank – eine unheilbare Krebserkrankung. Inzwischen sei sie zu Hause und werde dort versorgt, es sei ein Graus, und er sei jeden Abend froh, wenn sie einigermaßen über den Tag gekommen seien. Es gebe so viel zu bedenken – Medikamente müssten genommen, Ausscheidungen kontrolliert, Werte gemessen und die Schmerztherapie abgestimmt werden. Lange könne es so nicht mehr weitergehen. Für ihn, meinen Fahrer, sei das schon schwer, ihn überfordere das alles, manchmal wisse er wirklich nicht weiter. Und was solle man sagen, wenn man nach über dreißig Ehejahren gesagt bekomme, dass sie froh wäre, wenn es endlich vorbei wäre?

Der Taxifahrer, ein vielleicht 65-jähriger beleibter Mann, hatte sich richtig in Rage geredet – auch wenn er die Geschichte mit seiner Frau, die medizinischen Details wie seine Ratlosigkeit, sicher nicht zum ersten Mal erzählte. Ich bekam das Gefühl, dass er mich fast vergessen hatte. Jedenfalls erschrak er ein wenig, als er sich wieder an meine Gegenwart zu erinnern schien. Wenn ich schon kein Patient war und auch nicht aussah wie ein Geschäftsreisender, lag nur eines nahe: »Was für ein Arzt sind Sie denn?« Ich betonte, kein Mediziner zu sein, und irgendwie war der Fahrer erleichtert: »Oh, ich dachte schon …«

Ich fragte nach. Und wieder folgte eine ausführliche, sehr emotionale Schilderung. Niemand habe Zeit für ihn gehabt, kein Mensch sich wirklich für ihn und seine Frau interessiert, von jedem seien immer nur Teilantworten gekommen. Der behandelnde Arzt habe immer wieder auf den Oberarzt verwiesen, der sei immer nur für wenige Minuten greifbar gewesen, man werde aber alle nötigen Infos an den Hausarzt weitergeben. Die Stationsschwester habe irgendwie überlastet gewirkt. Die Einzige, die mal ein wenig Zeit gehabt habe, sei die evangelische Krankenhauspfarrerin gewesen, aber mit der Kirche hätten er und seine Frau es nicht so.

Aus allem, was der Mann sagte, klang eine tiefe Enttäuschung darüber, dass es keine verbindlichen Gesprächspartner gab, dass niemand ihm sagen konnte, wie es weiterging und was getan werden müsse. Niemand sei so recht zuständig gewesen, manchmal hätten sich die Aussagen sogar widersprochen. »Es ist, glaube ich, besser, kurz und schnell zu sterben, am besten, man kriegt nix davon mit – und Andere auch nicht.« Und dann sagte er einen Satz, der mich nachhaltig berührt hat: »Machtloser als in so einem Krankenhaus sind Sie auch nicht, wenn Sie tot sind.« Der Satz hatte eine philosophische Schwere – und wir sind beide ein bisschen darüber erschrocken –, der Taxifahrer lachte, wohl um die Beklommenheit ein wenig aufzulockern …

Als ich ihm eröffnete, dass ich ein Soziologe sei, der das Ethik-Komitee der Klinik besuchen wollte, nahm der Mann das als Aufforderung zu einer erneuten, sehr engagierten Rede über die Zustände in Krankenhäusern. Er habe ja das Gefühl, dass dort die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. »Versuchen Sie einmal, einen Arzt auf das festzunageln, was ein anderer Arzt gesagt hat, da werden Sie verrückt! Diese Doktoren, die sehen doch nur sich selbst, die sehen gar nicht, wie es um die Leute wirklich steht. Wenn's da­rum ging, dass meine Frau diese oder jene Pille bekommt, waren sie auf Zack, aber wenn es darum ging, wie es weitergehen soll und wie das alles zu Hause funktionieren soll, da wusste keiner Bescheid. Da hat doch keiner 'ne Ahnung vom Anderen.«

Wie in einem Brennglas hat der Taxifahrer formuliert, wofür ich mich als Soziologe interessiere. Krankenhäuser sind für mich nicht nur Anstalten zur Krankenbehandlung, sondern auch eine Parabel darauf, wie das moderne Leben funktioniert: schnell und multiperspektivisch, kaum steuerbar und doch permanent unter Regulierungsdruck, befasst mit lebenswichtigen Entscheidungen und doch irgendwie ohne ein Zentrum, von dem her sich das Ganze erschließt. Ich hatte freilich nicht viel Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen, denn wir waren am Klinikum angekommen, und ich musste das Taxi bezahlen. Der Fahrer fragte mich, ob ich anschließend zum Bahnhof zurückwolle, und wir machten einen Zeitpunkt aus, an dem er mich wieder abholen sollte.

Wegen meiner Verspätung wurde ich an der Pforte schon erwartet. Ich war zu einer Sitzung des Klinischen Ethik-Komitees eingeladen, da ich in einem langjährigen Forschungsvorhaben über die Arbeitsweise solcher Gremien geforscht habe. An diesem Tag sollte es darum gehen, wie das Krankenhaus mit suizidären Patienten umgeht. Eine Mitarbeiterin brachte mich zum Konferenzraum, wo die Sitzung bereits in vollem Gange war. Jedenfalls machten die Leute, die um einen ovalen Tisch herum saßen, den Eindruck, dass sie durch meinen Auftritt unterbrochen wurden. Man spürte geradezu die Spannung, gegen die auch der Vorsitzende des Gremiums, ein Anästhesist im Ruhestand, den ich bereits von einem früheren Treffen her kannte, nichts ausrichten konnte. Allein der Takt, den die Situation erforderte, hinderte die Beteiligten offensichtlich da­ran, weiter zu debattieren – zumindest erschien es mir so.

Der Vorsitzende begrüßte mich, und es folgte eine kurze Vorstellungsrunde. An der Sitzung nahmen der Verwaltungsleiter der Klinik teil, Seelsorger, mehrere Ärztinnen und Ärzte, darunter auch ein Palliativmediziner und ein Psychiater, ein Jurist, zwei Vertreterinnen des Pflegepersonals und eine Patientenfürsprecherin. Bereits in der Vorstellungsrunde kam es zu kleinen Spitzen der Anwesenden gegeneinander. Vor allem zwischen dem Psychiater und dem Juristen waren die Spannungen unübersehbar.

Schon die Vorstellungsrunde machte deutlich, dass die Versammelten hier durchaus ein gemeinsames Interesse zusammenführte, dass die Gemeinsamkeit aber aus sehr unterschiedlichen Perspektiven gespeist wurde. So stellte sich der Verwaltungsleiter selbstironisch als derjenige vor, »der stets nur die glatte und kalte Perspektive des Geldes vertritt, also der unethische Part in diesem Ethik-Komitee«. Was mir als Außenstehendem wie ein gut einstudierter Scherz erschien, sorgte bei den anderen Beteiligten für genervte Gesichter. Ein Hinweis darauf, dass die Bemerkung eine längere gemeinsame Geschichte hatte.

Es folgten ein Oberarzt der Inneren Medizin, der sich nur sachlich mit Namen und Funktion vorstellte, eine leitende Krankenschwester ebenso, wie auch der Psychiater, der sich dafür bedankte, dass mal jemand von außen der ganzen Sache »auf die Finger schaut«. Die beiden Seelsorger, ein etwas älterer katholischer ­Priester und eine junge, dynamische evangelische Pastorin, kamen aus ganz unterschiedlichen Welten – stellten sich aber beide als Partner aller Seiten vor. Sie seien »für die Menschen« da, auch für die, die im Krankenhaus »Dienst tun«, »Dienst am Menschen« nämlich.

Es folgte ein junger Assistenzarzt, dessen ganzer Tonfall zweierlei demonstrierte: Er war einerseits sehr engagiert und interessiert, andererseits im Habitus eher gehemmt und vorsichtig. An seiner Haltung materialisierte sich irgendwie die strenge Hierarchie eines Klinikums mit ihren klaren Oben-unten-Strukturen und Weisungsbefugnissen. Auch wenn solche Institutionen Teil von Universitäten sind, herrscht in ihnen eine völlig andere Kultur als in anderen Fakultäten.

»Sie sollten nicht so bescheiden sein«, sagte darauf der neben ihm platzierte Herr, der schon die ganze Zeit eher unruhig auf seinem Stuhl saß. »Sie dürfen ruhig erwähnen, dass Sie auch Philosophie studiert haben und ein echter Ethik-Experte sind.« Fast wurde der junge Mann rot, doch die Aufmerksamkeit wechselte nun auf jenen Herrn, der sich als Professor der Jurisprudenz, Strafrecht, vorstellte und kurz bemerkte: »In normativen Fragen reicht die Philosophie dann doch nicht.«

Der Letzte in der Reihe war der Chefarzt der palliativmedizinischen Station des Krankenhauses, die zehn eigene Betten zur Verfügung hat und ansonsten konsiliarisch für andere Abteilungen des Hauses zuständig ist. Das Ganze hat vielleicht gute fünf Minuten gedauert – die Spannung vom Anfang war immer noch zu spüren. Ich habe dann selbst nach bravem Dank für die Einladung einige kurze Bemerkungen dazu gemacht, dass ich mich als Soziologe für solche Gremien interessiere, mich aber sehr kurz gehalten, mit der Bemerkung, dass die Sitzung ja bereits in vollem Gange gewesen sei und ich das Gefühl hätte, eine engagierte Diskussion unterbrochen zu haben.

Der Vorsitzende des Gremiums wiegelte ab: »Nein, nein, wir sollten nun tatsächlich dazu kommen, dass wir ein wenig über unsere Arbeit berichten …« »Nein, unser Gast hat schon recht, wir haben bereits über einen schwierigen Fall diskutiert, und ich muss gestehen, dass ich immer noch ganz erschrocken darüber bin, wie das gelaufen ist«, traute sich der junge Assistenzarzt und Philosoph aus der Deckung und forderte damit offenbar den Juristen heraus.

Der Vorsitzende nahm die Sache in die Hand. »Sie müssen wissen, dass es in unserem Haus vor einigen Wochen einen dramatischen Suizid eines Patienten gegeben hat, was uns seitdem nicht mehr loslässt, weil wir nicht wissen, ob wir Fehler gemacht haben, denn es hat durchaus Warnsignale gegeben, die wir hätten ernst nehmen müssen. Doch darüber, wie man sich hätte richtig verhalten sollen, ist nur schwer Einigkeit zu erzielen. Wir haben vor Ihrer Ankunft über diesen Punkt gesprochen, und vor allem zwischen dem psychiatrischen Kollegen und unserem Rechtsexperten hat es dabei erhebliche Differenzen gegeben.«

Es folgte eine sachliche Beschreibung des Falls durch den psychiatrischen Kollegen. Der Patient, um den es gehe, habe bereits einige Tage vor seinem Suizid Andeutungen darüber gemacht, dass er seinem Leben ein Ende setzen wolle. Der Tumorpatient sei keineswegs in unmittelbarer Lebensgefahr gewesen, vielleicht habe ihn deshalb niemand wirklich ernst genommen. In der Summe seien die Hinweise eindeutiger zu interpretieren gewesen, aber mit seinen jeweiligen Bemerkungen seiner Krankenschwester, seiner Ehefrau und seinem Sohn gegenüber, aber auch an die Adresse des behandelnden Oberarztes habe er jeweils letztlich nicht die Schwelle der Aufmerksamkeit erreicht, die nötig gewesen wäre. Das sei letztlich der Anlass, über das eigene Verhalten im Krankenhaus genauer nachzudenken.

Es war dem psychiatrischen Kollegen gut gelungen, ein wenig Dampf aus der Situation zu nehmen. Irgendwie wirkte die Atmosphäre auf einmal etwas entspannter. Dennoch interessierte mich, was der Anlass für die vorherige Stimmung gewesen war. Auf meine Nachfrage hin fuhr der Psychiater fort: »Ich habe heute zu Beginn unserer Sitzung nur bemerkt, dass man sensibler auf solche Bemerkungen achten muss, dass bereits die kleinsten Anzeichen deutliche Hinweise darauf sein könnten, dass solche Patienten nicht mehr Herr ihrer Lage sind. Man muss sie dann vor sich selbst schützen. Ich hätte es gut gefunden, wenn man mich konsultiert hätte. Das hat unseren Juristen zu einer Philippika gegen den ­Paternalismus der Ärzteschaft veranlasst.«

»Genau«, fuhr der Angesprochene fort, »es kann nicht angehen, dass subjektiv eindeutig formulierte Wünsche von Patienten per se pathologisiert werden.« Sein Blutdruck war geradezu sichtbar gestiegen. »So bedauerlich es ist, dass der Aufenthalt in einem modern ausgestatteten Krankenhaus wie diesem offensichtlich nicht garantieren kann, dass Patienten sich aufgehoben fühlen, so sehr gibt es das Recht der Selbstbestimmung für jeden Menschen – auch für den Kranken und vor allem für den, der etwas tun will, was Andere nicht wollen, sonst bräuchte man ja keine Selbstbestimmungsrechte. Die Zeiten, in denen Halbgötter in Weiß das alleine entscheiden konnten, sind gottlob längst vorbei.« Die angespannte Atmosphäre hatte sich unvermittelt wieder eingestellt. Wie ich dann erfuhr, hatte auch der Verwaltungsdirektor des Krankenhauses Missmut auf sich gezogen, weil er zu bedenken gab, welche ökonomischen Folgen es für das Krankenhaus haben könne, wenn Fälle wie der Suizid des Patienten in der Presse breitgetreten würden.

Für mich als Soziologen war das eine Situation wie aus dem Lehrbuch. Ich habe zunächst in die Runde gefragt, wie denn die anderen Beteiligten den Disput zwischen den drei Antipoden beurteilen würden. Der internistische Oberarzt, der schon die ganze Zeit mit am unbeteiligtsten wirkte, gab mit einer gewissen Abwehrhaltung nur zu bedenken, dass es für einen Suizid aus medizinischer Perspektive eigentlich keinen Grund gab. Worauf sich umgehend die leitende Schwester zu Wort meldete. »Was da gerade gesagt wurde, ist typisch dafür, wie das hier abläuft. Wir sind einfach näher dran am Patienten, auch wenn wir viel zu wenig Zeit haben, Personaleinsparungen«, betonte sie sehr deutlich mit einem Blick auf den Verwaltungsleiter. »Die Patienten sind mehr als nur das, was in den Visiten und bei den Behandlungen sichtbar wird. In dem Fall, um den es hier eigentlich geht, war es eine junge Krankenschwester, der gegenüber der Patient sich geäußert hat. Sie hat dies dem diensthabenden Assistenzarzt weitergegeben. Was ich aber prinzipiell sagen will, ist, dass wir als Pflegende sehr wohl wissen, dass die Patienten mehr Zuwendung brauchen, mehr Zeit, mehr kontinuierliche Kontakte. Das wird hier alles immer seelenloser, kann ich Ihnen sagen.«

Der Hinweis auf die Seele war wohl das Stichwort für die beiden theologischen Teilnehmer. Die junge evangelische Seelsorgerin setzte zu einer engagierten Rede an, in der sie von »Ängsten und Unzulänglichkeiten« aller Beteiligten sprach, von den Brüchen, die sich angesichts des Sterbens – des eigenen, aber auch des betreuten und begleiteten Sterbens – auftun, und endete mit den Worten: »Manchmal reicht gemeinsames Schweigen, anerkennend, wie wenig wir doch selbst vermögen.« Danach war es freilich nicht ganz einfach, anzuschließen. Der Vorsitzende des Komitees nahm dies zum Anlass, nach Lösungen zu fragen beziehungsweise nach Konsequenzen aus der Diskussion. Der Oberarzt nutzte die Gelegenheit und gab zu bedenken, dass am Ende doch medizinische Gründe entscheidend wären. Es sei schön und gut, auf Menschlichkeit und Nähe, auf Kommunikation zu setzen, aber am Ende müsse es doch klare medizinische Kriterien dafür geben, was mit einem Patienten zu geschehen habe. Woraufhin der Jurist erneut ansetzte und die Autonomie des Patienten stark machte.

Bevor alles von vorne losging, bat ich, einmal innezuhalten und darüber nachzudenken, was in dieser Situation geschehen war. Ich wies darauf hin, dass die Situation eine ironische Komponente habe: Einerseits betonte der Jurist die Autonomie, das individuelle Selbstbestimmungsrecht und die freie Entscheidungsfähigkeit des Patienten. Andererseits sah es aus, als spule er ein Programm ab, das sich immer wieder zu wiederholen drohte. Und das galt letztlich für alle Beteiligten. Alle hatten bis dahin gesagt, was aus ihrer Perspektive plausibel erschien. Sie hatten geredet, als würde es durch sie hindurch sprechen.

Diesen Gedanken unterbrach der junge Assistenzarzt. »Ich muss Ihnen recht geben«, sagte er an die Adresse des Juristen, »das letzte Wort muss in der Tat der Patient haben – das ist juristisch eindeutig, und auch philosophisch-ethisch lässt sich nichts Anderes rechtfertigen. Ich habe mich während meines Philosophiestudiums viel mit der Frage des informed consent beschäftigt, also mit einem Modell, das davon ausgeht, dass der Arzt einen Informationsvorsprung hat, diesen aber durch angemessene Kommunikation und Aufklärung des Patienten ausgleichen muss, damit die beiden auf gleicher Augenhöhe sind und so eine wirklich gute Entscheidung getroffen werden kann – etwa über schwierige Eingriffe, über Therapiezieländerungen und Ähnliches. Ich fand das sehr plausibel, und es hat mir in meiner Rolle als Arzt auch geholfen, über meinen Beruf und sein Selbstverständnis nachzudenken. Ich denke, aus ethischer Sicht gibt es keine Alternative zu diesem Modell. Aber seit ich als Arzt auf Station arbeite, stelle ich doch fest, dass die philosophische Begründung gleicher Augenhöhe sowie ihre juristische Verteidigung noch etwas Anderes ist als die reale Situation eines Patienten, für den Informationen über seinen eigenen Gesundheitszustand etwas ganz Anderes bedeuten als für den behandelnden Arzt. Die gleiche Augenhöhe ist da eine fast naive Vorstellung, wenn es um Ängste geht, um Bedürfnisse, um Fragen der Zuwendung, der Unsicherheit. Manchmal ist es aus medizinischer Sicht angezeigt, nicht alle Informationen zu nennen – und manchmal besteht unsere Professionalität wohl nicht nur darin, Labor­ergebnisse und Ultraschallbilder angemessen zu bewerten, sondern auch die Situation, in der sich Arzt und Patient gegenüberstehen. Da hilft die abstrakte Idee des informed consent manchmal ebenso wenig weiter wie das Pochen auf subjektive Rechte. Das ist ein echtes Dilemma.«

Dem jungen Arzt ist in dieser Situation etwas gelungen, das allen anderen Sprechern bis dahin nicht möglich gewesen war. Er hat die unterschiedlichen Perspektiven – eine juristische Sichtweise, seine ärztliche Rolle und seinen Versuch der ethisch-philosophischen Reflexion – nicht nur abstrakt als unterschiedlich erfahren. Er hat dies im Sinne unterschiedlicher Kontexte in der Praxis an sich selbst erlebt. Zwar fand er keine Möglichkeit, diese unterschiedlichen Kontexte in einen einzigen Kontext zu integrieren, aber er fand die Möglichkeit, den Sinn dieser unterschiedlichen Kontexte zu sehen. Er hat sie nicht in Konkurrenz gesetzt, sondern in ihrer inneren Spannung auf den Begriff gebracht.

Das Statement hat jedenfalls beeindruckt, es folgte Zustimmung vom katholischen Seelsorger, auch von dem Palliativmediziner, der sich bis dahin merklich zurückgehalten hatte: »Dieses Dilemma kenne ich auch, und die Entstehung der Palliativmedizin geht ja gerade darauf zurück, dass man für sterbende Patienten mehr tun will, als nur eine angemessene Schmerz- und Symptomkontrolle zu betreiben. Wir arbeiten deshalb sehr eng mit Seelsorgern zusammen und versuchen, den Patienten Kommunikationsmöglichkeiten zu geben, auch Möglichkeiten, sich mit ihrer Familie auszusprechen oder noch einmal positive Erfahrungen zu machen. Und wir wissen auch, dass nicht Information das größte Problem für die Patienten ist, sondern eine Möglichkeit zu schaffen, selbst und aus eigener Kraft am Leben teilzuhaben. Nach meinem Verständnis war dies immer das, was den Arzt vom Mediziner unterscheidet, nämlich eine Situation für den Patienten zu schaffen, in der dieser zurechtkommt.«

Vielleicht wird gerade für einen Palliativmediziner diese Unterscheidung besonders deutlich, weil am Lebensende nicht mehr die Heilung und Wiederherstellung im Vordergrund steht, sondern die lindernde, auch tröstende Begleitung. Der Mediziner ist der gut ausgebildete Fachmann für die biochemischen Prozesse und Wirkzusammenhänge im menschlichen Körper, der Arzt dagegen ist der Träger eines Habitus, eines Verhaltens, das in der Lage ist, mit Patienten umzugehen. Zum Arzt wird der Mediziner erst durch diese Haltung, die immer etwas Paternalistisches hat. Der Arzt entfaltet eine Asymmetrie, an der man nicht vorbeisehen kann – der Eine (zumindest prinzipiell) gesund, der Andere krank; der Eine mit dem nötigen Wissen, der Andere Objekt der Behandlung; der Eine Herr des Verfahrens, also Handelnder, der Andere Behandelter. Die ärztliche Profession hat dafür stets besondere Formen hervorgebracht – vom heroischen Kämpfer gegen den Tod über den distanzierten Experten fürs Leben schlechthin bis zum sensiblen, aber dennoch bestimmten Betreuer und Begleiter von Leidenden. Aus diesen Verstrickungen kommt der Arzt nicht heraus – er ist eben nicht nur Mediziner, sondern jemand, an den sich Patienten mit Erwartungen, Ängsten, Unsicherheiten und Unwissen wenden. Wie übrigens auch der bestinformierte Patient seinem Namen gerecht wird – patiens eben, aushaltend, leidend, eher passiv.

Die Diskussion nahm jedenfalls nun einen anderen Lauf. Selbst die beiden Antipoden, der Jurist und der Psychiater, mäßigten sich in ihren Äußerungen – nicht dass sie sich wirklich verständigt hätten, aber die wenigen Sätze des jungen Arztes hatten dafür gesorgt, dass es nun offensichtlich auch anderen Beteiligten leichter fiel, das Komplementäre der unterschiedlichen Kontexte und Rollen zu sehen – irgendwie redeten alle auf einmal authentischer, also stärker darauf bezogen, dass sie nicht zufällig so redeten, wie sie redeten. Vielleicht sollte ich eher sagen, dass sie zivilisierter miteinander redeten, denn authentisch waren auch die polternden Äußerungen davor. Die neue Situation – angeregt von der engagierten und nachdenklichen Bemerkung des jungen Arztes – ermöglichte es, dass die unterschiedlichen Positionen nun ruhiger aufeinander bezogen werden konnten.

Gegen Ende der Sitzung wurde ich um eine Einschätzung gebeten – dafür war ich schließlich dort. Es war keine einfache Situa­tion, denn ich hatte ja letztlich nichts zur Sache beizutragen, sondern war nur Beobachter der Szenerie. Ich griff noch einmal den Gedanken auf, dass alle Beteiligten sehr authentisch und engagiert ihren Standpunkt vorgetragen und dabei doch geradezu erwartbare Programme abgespult haben. Alle Beteiligten haben letztlich gesagt, was sie sagen mussten. Ich merkte sogleich, dass dieser Satz auf Ablehnung stieß. Der Blick des Psychiaters war geradezu spöttisch – ich habe fast mit einer Diagnose gerechnet. Und auch der junge Assistenzarzt machte ein unbehagliches Geräusch. Ich habe dann versucht zu erläutern, dass es dazu, zumindest in einem ersten Zugriff, kaum eine Alternative gäbe.

Man muss sich vorstellen, was passiert wäre, wenn die Protagonisten etwas Anderes vertreten hätten als das, was sie dann tatsächlich sagten. Der Jurist etwa wäre ein schlechter Jurist gewesen, wenn er nicht zunächst die Unbedingtheit subjektiver Rechte betonen würden. Und was sollte man von einem Psychiater halten, der beim Suizidwunsch eines Patienten nicht zunächst einen Pathologieverdacht hegt? Eine leitende Schwester ist geradezu verpflichtet, den Unterschied ihrer Praxis zu der der Mediziner nicht nur zu registrieren, sondern auch auszusprechen – übrigens eine Differenz, die Pflegekräfte oft viel genauer wahrnehmen als die meisten Ärzte. Ein Verwaltungsdirektor kann letztlich nichts Anderes tun, als die »glatte und kalte Perspektive« des Geldes und der ökonomischen Folgen ins Spiel zu bringen. Was hätten die beiden Seelsorger prinzipiell Anderes sagen können? Und auch dass ein Internist zunächst nach somatischen Kriterien sucht, ist irgendwie erwartbar. »Es sah tatsächlich so aus, als hätten nicht Sie selbst gesprochen, sondern als hätte es durch Sie hindurch gesprochen.«

Diese Diagnose war nicht das, was die Leute von mir erwartet hatten. Die Runde schaute etwas enttäuscht drein – und ich versuchte sie mit dem Hinweis aufzumuntern, dass dies alles auch für mich selbst galt. Was sollte ich als Soziologe prinzipiell Anderes formulieren? Man kann als Soziologe zwar auch anders argumentieren. Viele in meiner Zunft würden eher eine medizin- oder professionskritische Haltung einnehmen, vielleicht eher aus der Perspektive derjenigen Professionen argumentieren, denen weniger Macht und Ressourcen zur Verfügung stehen. Aber auch das ändert nichts daran, dass ein soziologischer Blick sich fast notwendigerweise darauf richtet, dass aus unterschiedlichen Perspektiven gesprochen wird. Es bleibt einem Soziologen nicht viel mehr übrig, als aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu fragen, wie denn eigentlich Per­spektiven zustande kommen und wie sie aufeinandertreffen.

Gegen meine Diagnose regte sich fast instinktiv Widerstand, andererseits leuchtete es den Beteiligten auch ein, dass sie ihre Sätze nicht zufällig gesagt hatten. Worum es mir in der Situation ging, war, klarzumachen, dass die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven, in unterschiedlichen Kontexten und im Hinblick auf unterschiedliche praktische Erfordernisse radikal unterschiedlich aussieht. Das hört sich ebenso abstrakt wie selbstverständlich an, aber es hat in konkreten Situationen eine eminent praktische ­Bedeutung. Ein Arzt hat eben andere Probleme zu lösen als ein ­Jurist, ein psychiatrischer Arzt wieder andere als das Pflegepersonal.

Was an diesem Vormittag deutlich wurde, war vor allem dies: Alle hatten letztlich recht, obwohl sie sich zum Teil erheblich widersprochen haben – sowohl in der Beschreibung der Situation nach dem Suizid des Patienten als auch in ihrer Bewertung. Das klingt unlogisch und widersinnig – und es ist doch eine Parabel darauf, wie unlogisch und widersinnig die moderne Gesellschaft aufgebaut ist, in der wir uns alle bewegen. Soziologisch spricht man von einer radikalen Perspektivendifferenz.

Unter logischen Gesichtspunkten sind wir daran gewöhnt, dass Widersprüche darauf verweisen, dass eine Menge von n unterschiedlichen Beschreibungen wenigstens n-1 falsche Beschreibungen enthält, dass also nur eine die richtige sein kann. Dieser Blick wäre aber auf die Gesellschaft bezogen naiv. Er würde der Komplexität der modernen Welt schlicht nicht gerecht werden. Und genau deshalb konnte ich aus soziologischer Perspektive keinen Rat geben, was konkret zu tun sei, denn auch das würde ja nur eine der Per­spektiven in den Mittelpunkt stellen – und dann auch noch eine mit wenig Sachverstand in den Dingen, um die es hier ging.

Ich verstehe meine Aufgabe darin, Experte für Perspektivendifferenzen zu sein, für unaufhebbar unterschiedliche Herangehensweisen, die häufig auf den ersten Blick aussehen, als handle es sich um eigennützige Interessen. Das Besondere an einem Gremium wie dem Ethik-Komitee besteht in dem Versuch, diese Differenzen nicht wegzuarbeiten, zu verstecken, zu verleugnen. Was wir hier und vielerorts brauchen, sind konkrete Situationen, in denen man ein Verständnis dafür entwickelt, warum andere Praxisformen andere Probleme lösen müssen oder warum andere Probleme einen anderen Lösungstyp erfordern. Das ist es, was ein solches Ethik-Komitee leisten kann: nicht mehr, aber auch nicht weniger, als im Rahmen einer gemeinsamen Praxis ein Verständnis für andere Perspektiven zu wecken.

Dazu verhilft schon allein die zivilisierende Wirkung des Zusammentreffens, so spannungsgeladen sie auch zwischenzeitlich sein mag. Sind die Beteiligten ausschließlich unter ihresgleichen, dürften die Sätze über die Abwesenden ganz anders ausfallen. Sitzt man gemeinsam um einen Tisch, wird man geradezu gezwungen, sich verstehbar zu machen. Ich habe am Ende der Sitzung meine Überzeugung bekräftigt, dass solche Foren interdisziplinärer, interprofessioneller Kommunikation ein Modell für andere Problem­felder sind. Denn diese Gesellschaft kann sich immer weniger darauf verlassen, dass sich Probleme eindimensional, mit Hilfe einer einzigen Logik lösen lassen. Wo in früheren Zeiten vielleicht der ärztliche Habitus ausgereicht hat, alle Teilperspektiven eines Krankenhauses zu integrieren, tauchen nun immer mehr Sprecher und Sprecherperspektiven auf. Die Sitzung dieses Vormittags habe das sehr deutlich gezeigt.

Das war alles Andere als ein pathetisches Schlusswort – aber ein Schlusswort war es, denn ich musste die Runde verlassen, um mein Taxi zu erreichen. Jedenfalls war ich froh, dass sich die Dinge am Ende so versöhnlich entwickelt hatten.

Der Taxifahrer begrüßte mich mit großem Hallo. »Und, hamses den Jungs dort ordentlich gezeigt?« Ich war etwas konsterniert. »Na ja, ich hab Ihnen doch erzählt, wie die mit meiner Frau umgegangen sind. Es geht ihr heute übrigens ein bisschen besser, habe gerade mit ihr telefoniert.« Noch ganz unter dem Eindruck der Sitzung, gab ich zu bedenken, dass es den Leuten, die im Krankenhaus arbeiten, bisweilen genauso gehe wie meinem Fahrer. Die eine Seite weiß nicht, was die andere tut, und irgendwie sieht es aus, als wäre das unvermeidlich.

»Das können Sie mir nicht erzählen, ich glaube das nicht. Das sind doch alles Leute, die das gelernt haben, die das studiert haben, die wissen doch, was sie tun. Aber unsereins gilt da wahrscheinlich nix.« Es fiel mir schwer, zu widersprechen, denn letztlich hat der Mann das genau so erlebt. Stattdessen ging mir die Frage durch den Kopf, ob die Ärzte des Krankenhauses nicht das Gleiche über einen beratenden Experten wie mich sagen konnten: Dessen Betrachtung hatte letztlich kein Verständnis dafür, womit wir uns hier abrackern. Und dieses Fachchinesisch mit der Perspektivendifferenz mag unter Soziologen ja weiterhelfen, aber uns?

Wir waren inzwischen am Bahnhof angekommen. Die Verabschiedung fiel recht herzlich aus, und ich fand es rührend, dass mir der Taxifahrer Grüße seiner Frau übermittelte, der er von unserem kurzen Gespräch am Vormittag erzählt hatte. Auf dem Gleis wartete schon mein Zug, und während der anschließenden Rückfahrt nach München sollte ich ausreichend Zeit haben, das Geschehen des Vormittags noch einmal zu betrachten.

Was für eine komische Position der Soziologe in der Runde doch hatte – irgendwie ein beteiligter Unbeteiligter, der sich dort hinsetzt und den Anderen zuschaut, wie sie ihre Dinge sehr authentisch tun, mit großem Einsatz, Ernst und auch mit großer Sachkenntnis. Trotzdem war auch hier wieder zu beobachten, wie die Dinge geradezu programmiert ablaufen. Die Beteiligten konnten kaum anders agieren, als sie es dann auch taten. Und doch mussten sie selbst hervorbringen, was sie tun. Mir fiel das berühmte Diktum von Karl Marx ein, die Menschen machten ihre Geschichte selbst, aber nicht aus freien Stücken. Ich glaube, es ist gerade umgekehrt: Sie machen sie nicht wirklich selbst, aber aus freien Stücken. All die engagierten und sachverständigen Menschen am runden Tisch der Klinik haben wenig Alternativen gehabt, ihre Dinge zu tun. Aber was sie getan haben, haben sie aus freien Stücken gemacht. Es ging ihnen stets um etwas. Das ist es, was ich als Soziologe von all den unterschiedlichen Professionen und Berufsgruppen gelernt habe, mit denen ich sowohl in der Forschung als auch als Berater immer wieder zu tun habe.

Und es macht eben einen Unterschied, ob man als Jurist handelt, als Pflegekraft, als Seelsorger, als Verwaltungschef, als Arzt – oder als Philosoph. Am meisten hat mich deshalb der junge Assistenzarzt beeindruckt, weil er an sich selbst gespürt hat, wie die unterschiedlichen Kräfte der Gesellschaft an Menschen zerren: einerseits ist er beseelt von einer ethisch richtigen Handlungsweise, andererseits kennt er die Notwendigkeiten und Restriktionen eines ärztlichen Alltags. Und lösen lässt sich das Problem nicht prinzi­piell, sondern nur praktisch.

Praktisch – das bedeutet: in den Anforderungen der jeweiligen konkreten Situation. Für den Arzt heißt das: Wenn ein Patient oder eine Patientin vor ihm steht, ist das eine kompakte, zeitlich begrenzte Situation, in der die unterschiedlichen Kontexte nur ab­strakt voneinander getrennt sind. Es muss gehandelt werden – jetzt, sofort, mit Blick auf das Gegenüber. In einer Situation, aber gleichzeitig in unterschiedlichen Kontexten. Das ist es, was die Erfahrung von Modernität ausmacht: dass unterschiedliche Kontexte an uns zerren, manchmal gleichzeitig. Wir sind daran gewöhnt, die Kontexte zu wechseln.

Das Besondere einer Komiteesitzung wie dieser ist, dass die unterschiedlichen Kontexte an einem Tisch zusammentreffen und in ihrer ganzen Unkoordiniertheit und Unversöhnlichkeit sichtbar werden, wobei alle Beteiligten recht haben, auch wenn sie radikal Unterschiedliches beitragen. Selbst in einem Krankenhaus, wo die Leute doch an sehr ähnlichen Dingen arbeiten und durchaus gemeinsame Ziele haben – dass es den Patienten besser geht und dass die Arbeit professionell und auch menschlich gemacht wird –, selbst dort sind die Perspektiven unvereinbar unterschiedlich. Das zeigt, dass die Gesellschaft, in der wir leben, eben nicht in erster Linie durch Ähnlichkeit und Gemeinsamkeit geprägt ist, sondern durch Verschiedenheit, durch unterschiedliche Sichtweisen und Haltungen.

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