Andrian Kreye
Brief eines Lesers (10)
Man landet beim Nichtwissen nicht mehr zwangsläufig bei Sokrates’ unzählige Male um- und fehlgedeutetem »Ich weiß, dass ich nichts weiß«. Das geläufigste Zitat der jüngeren Geschichte stammt vom damaligen amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der im Februar 2002 während der Vorbereitungen für den Irakkrieg bei einer Pressekonferenz jenen Satz prägte, der zunächst als eine der rhetorischen Verkrampfungen abgetan wurde, mit der die Bush-Regierung so ziemlich jede Ungeheuerlichkeit schönredete, später aber als in sich logisch und schließlich vom Star der linken Philosophie Slavoj Žižek als durchaus bedenkenswert rehabilitiert wurde: »There are known knowns. There are things we know that we know. There are known unknowns. That is to say, there are things that we now know we don’t know. But there are also unknown unknowns. There are things we do not know we don’t know.«
Legendär wurde das Zitat weniger wegen der Binse vom Gegensatz zwischen den bekannten Bekannten, den Dingen, von denen wir wissen, dass wir sie wissen, und den bekannten Unbekannten, jenen Dingen, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen. Rumsfelds rhetorische Wunderwaffe waren die unbekannten Unbekannten, jene Dinge, von denen wir nicht einmal wissen, dass wir sie nicht wissen. Was damals lächerlich wirkte, sollte in den folgenden Jahren zu einem Leitmotiv werden.
Die Neugier war also groß auf das Inhaltsverzeichnis des neuen Kursbuches zum Thema Nichtwissen. Man erwartet ja doch viel von einer Institution der Ideengeschichte in diesem Lande, wenn es sich um einen Zustand handelt, der im bildungsbürgerlichen Deutschland und Europa immer noch als Mangel und Makel behandelt wird. Die französische Kulturministerin Fleur Pellerin wurde erst im Herbst arg gezaust, weil sie bei einem Fernsehinterview von einem Mittagessen mit dem frisch gekürten Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano geschwärmt hatte, ihr dann aber kein einziger Buchtitel aus seinem Werk einfiel. Die Frage, wie viel ein Minister eigentlich nicht wissen darf, hatte sich ja gerade erst gestellt, als Günther Oettinger zum EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft berufen wurde, obwohl er sich bisher nur als Energiepolitiker profiliert hatte. Da prallten das humboldtsche Bildungsverständnis und der Hyperpragmatismus der Politik mit Wucht aufeinander.
Nur langsam wird dieser Reflex von jenen unbekannten Unbekannten überholt, die den Lauf der Geschichte längst so viel drastischer bestimmen als die bekannten Unbekannten. Es sollte nach Rumsfelds Zitat noch einmal sechs Jahre dauern, bis das ganze Ausmaß der unbekannten Unbekannten deutlich wurde. Das war im Herbst 2008, als der Zusammenbruch der Lehman-Brothers-Investmentbank die Weltwirtschaft in die Knie zwang. Es war in diesem Moment der Verzweiflung, dass sich die Welt von den traditionellen Wirtschaftswissenschaften abwandte, die so oft den Anspruch gehabt hatten, die Risiken zumindest der bekannten Unbekannten kalkulieren zu können.
Es war das Buch des Mathematikers und Philosophen Nassim Nicholas Taleb Der Schwarze Schwan, das damals neu entdeckt wurde. Taleb war es auch gewesen, der Rumsfeld zu seinem erst einmal bizarren Zitat inspiriert hatte. Taleb hatte den Schwarzen Schwan als Sinnbild für jene neue Dimension des Nichtwissens geschaffen, die so viel weiter geht, als die klassische Definition des Sokrates, die das Nichtwissen zumindest im vereinfachten geflügelten Wort als Erkenntnis der bekannten Unbekannten meinte.
Talebs Schwarzer Schwan ist das vollkommen unvorhergesehene, fast unmögliche Ereignis, das alles verändert, gerade weil niemand das Phänomen und damit auch seine Folgen zuvor kennen konnte. Er geht in seiner Analyse des ultimativen Nichtwissens, des Schwarzen Schwans, sehr weit, dem Menschen eine prinzipielle Unfähigkeit des klaren Denkens zu unterstellen. Aber genügt das klare Denken alleine, um angesichts solcher Unwägbarkeiten weiterzukommen?
Man sucht ja dann immer gleich in der eigenen Biografie, um ein Phänomen anekdotisch zu untermauern. Als Reporter hat man da in der Regel einen großen Schatz an Extremsituationen. Es gibt zum Beispiel kaum einen besseren Ort, nichts zu wissen, als einen Tisch bei der Dinnerparty eines New Yorker Wissenschaftsphilanthropen, an dem der einzige Gast, der außer einem selbst keinen Nobelpreis hat, der Mathematiker Marvin Minsky ist, der vor nun fast schon 60 Jahren den Begriff der künstlichen Intelligenz erfinden konnte, weil er die Intelligenz wissenschaftlich definierte. Als Reporter sucht man sich in Extremsituationen ja in der Regel erst einmal einen sicheren Ort, um zu beobachten. An einem amerikanischen Dinnerpartytisch gibt es allerdings kein Entkommen. Was also tun als europäischer Bildungsbürgersohn, der den Makel des Nichtwissens von Erziehung und Bildungswesen früh in die soziale DNA eingepflanzt bekam? Es war dann auch erst einmal die Rede von Methoden zur Zellforschung, biochemischen Prozessen der Sehkraft und neuen Erkenntnissen zu schwarzen Löchern.
Nun sind Naturwissenschaftler in der Regel nicht unbedingt Anhänger, aber meist Vertreter jenes humboldtschen Bildungsverständnisses. Kein Naturwissenschaftler würde sich damit brüsten, keine Ahnung von Shakespeare zu haben. Umgekehrt sind sie es gewohnt, dass die Allgemeinbildung in Europa und Amerika bisher vor allem von den Geisteswissenschaften geprägt wurde. Die Neugier ist also in der Regel groß, wenn man in eine solche Runde stößt, gerade wenn man sich mit Kultur und Politik beschäftigt. Die Unterhaltung landete dann auch schon bald bei den zwei größten aller schwarzen Löcher, der damals noch akuteren Wirtschaftskrise und dem Klimawandel. Was aber gibt es für Wissenschaftler Interessanteres als ein System, in dem alle bisherigen Theorien versagen, in dem es nur Rätsel gibt, kaum Antworten?
Daniel Kahneman saß an diesem Abend mit am Tisch, Mitbegründer der Verhaltensökonomie, auf die sich die Welt mangels besserer Erklärungsmodelle gestürzt hatte. Es war vor allem Kahnemans Erwartungstheorie, in der das ganze Elend der überhitzten Märkte zu liegen schien. Im dunkel getäfelten Saal der großen Villa mit den großen Tischen voller Wissenschaftler wäre es durchaus der Rahmen gewesen, die Theorie in Stellung zu bringen.
Doch der Abend verlief ganz anders. Fragen wurden gestellt und immer wieder aufs Neue Fragen. Die Souveränität, mit der die Wissenschaftler ihr Nichtwissen umkreisten, zog einen in den Bann. Und schließlich ins Gespräch. Da war diese Entdeckerlust, die man längst in der Vergangenheit wähnte, diese Begierde, immer weiter ins Unbekannte vorzustoßen, dort immer neue weiße Flecken zu entdecken, und ja, auch schwarze Löcher.
In den letzten Jahren sind Nassim Talebs Schwarze Schwäne immer zahlreicher geworden. Auf die erste Wirtschaftskrise folgten die Enthüllungen von Wikileaks, die Umwälzungen der arabischen Welt, die Eurokrise, Edward Snowdens Enthüllungen der Komplettüberwachung der Welt durch die NSA, der Ausbruch der Bürgerkriege im Nahen Osten, die Krise in der Ukraine und auf der Krim, der Aufstieg des Islamischen Staates, die Ebola-Seuche. Mit nichts von alledem hatte man gerechnet. Mit nichts von alledem wusste die Welt etwas anzufangen. Es schien, als sei nicht Francis Fukuyamas Ende der Geschichte gekommen, sondern das Ende der Gewissheiten.
Nun also das neue Kursbuch zum Thema. Ein Dutzend Texte kreist da um das Nichtwissen. Es ist wie immer der reine publizistische Luxus, dass sich die Autoren in so unterschiedlichen Formen wie der Erzählung, dem Fotoessay oder der wissenschaftlichen Betrachtung einem Thema nähern, das so komplex und dramatisch den Zeitgeist bestimmt. Da sprüht diese Neugier aus den Seiten, die auch jene Dinnerparty trug, bei der sich die Wissenschaften gegenseitig auf neue Spuren halfen. Und darum geht es letztendlich auch in diesem Band – um eine Spurensuche, die nicht zwangsläufig in der Erkenntnis enden muss. Es reicht schon, wenn die Richtung stimmt.