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Sabine Herzig

Gewaagter Blick

Kurzgeschichten Band 10





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Erdbeerzeit

 

Johanna stürmt in die Küche und ruft: „Wo sind meine Erdbeeren?“ „Wieso deine?“, frage ich ganz beiläufig, denn ich stand heute morgen eine halbe Stunde lang im Regen und habe sie gepflückt, bevor ich sie gewaschen, vom Grünzeug befreit und klein geschnitten habe. Das aber nur nebenbei. „Du hast doch heute Mittag gesagt, du hast Erdbeeren fertig gemacht.“ Ich sehe meine Tochter an und sage ganz gelassen: „Ja, das war heute Mittag, jetzt ist es später Abend. Wenn keine mehr in der Küche stehen, dann wird sie wohl Papa gegessen haben. Oder dein Bruder. Ich war es bestimmt nicht.“ Beleidigt und enttäuscht zugleich dackelt sie zurück in ihr Zimmer. Die Werbepause im Fernsehen ist sicher gleich vorbei, so ersparen wir uns eine überflüssige Diskussion zum Thema persönliche Anrechte auf Erdbeeren. Augenblicklich muss ich schmunzeln und unweigerlich an meine eigene Kindheit zurückdenken.

 

Meine Mutter hatte ein paar Erdbeerpflänzchen im Garten, „weil die süßen Früchte so teuer sind, wenn man sie kaufen muss“. Dabei ist das Wort „teuer“ ein sehr relativer Begriff. Sind Erdbeeren wirklich teuer? Dann wären sicher viele Leute nicht in der finanziellen Lage, dieses köstliche Gut zu erwerben. Nun, meine Mutter sah das damals eben anders. Wir waren drei Kinder und für einen Fünf-Personen-Haushalt wäre sie mit einem Schälchen handelsüblicher Erdbeeren nicht weit gekommen. Sie hätte folglich zwei oder mehr Schälchen kaufen müssen und das wiederum bedingt eine erhöhte Ausgabe an Haushaltsgeld. Nur so kann ich es mir erklären, dass sie sich jedes Jahr diese mühevolle Arbeit machte, eine kleine Sonnenecke im Garten mit Erdbeerpflanzen zu kultivieren. Unsere Erdbeeren waren meist nicht größer als fette Erbsen aus der Dose, aber das war kein Wunder, denn ich habe in meiner gesamten Kindheit meine Mutter nie Erdbeerpflanzen neu kaufen sehen. Das hätte Geld gekostet. Sie hat stattdessen gerne Pflanzenableger aus der Nachbarschaft angenommen, die vermutlich ebenfalls von alten Pflanzen stammten, denn die Ernte im Folgejahr war keineswegs besser und die Früchte nicht größer. Ich habe die Erdbeerzucht stets belustigt beobachtet, denn ich habe mir schon damals nichts aus Erdbeeren gemacht. Es war mir völlig egal, ob sie gezuckert, mit Sahne oder Vanillesoße serviert wurden. Sie schmecken eben süß und nach Erdbeere. Wenn ich allerdings einmal eine Unbehandelte naschen wollte, weil mir das viel natürlicher erschien, wurde ich gleich geschimpft, dass ich nicht vorher alle Beeren wegessen sollte.

 

Bei uns ging es stets gerecht zu und jeder bekam seinen Anteil, ähnlich wie unsere Joghurtarmee im Kühlschrank. Ich habe nie eine andere Familie kennengelernt, in deren Kühlschrank die Joghurts wie in einer Turnriege in Dreierreihen nach Frucht sortiert aufgestellt waren. Wir Kinder durften nicht selbst entscheiden welchen Fruchtgeschmack wir täglich essen wollten, das gab uns die Riege vor. Immer schön von vorne nach hinten durchgegessen. Als wir nach Jahren endlich geklärt hatten, dass wir eigentlich nur den Haselnussgeschmack wollten, wurde es bedeutend einfacher.