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Jochen Rack

 

 

Menschliches

Versagen

 

Roman

 

 

 

ars vivendi

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage September 2010)

 

© 2010 ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Fotografie von Melvin Dockrey / getty images

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-839-8

 

Für meine Eltern

 

Inhalt

I. Eagle of the Sky

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

II. Versuchskaninchen

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

III. Bis der Tod euch scheidet

28

29

30

31

32

33

34

Epilog

Dank

Der Autor

 

I. Eagle of the Sky

 

Prolog

Das Trümmerfeld erstreckte sich über die Länge mehrerer Stoppeläcker.

Als der Forward Air Controller, der das Flugzeug ins Zielgebiet geleitet hatte, mit seinem Funkwagen die Unfallstelle erreichte, flackerten an einzelnen Stellen noch Brände: Treibstoffreste, die bei der Explosion der Maschine in der Luft nicht sofort verpufft waren, Teile der Kabinenverkleidung und des Bremsfallschirms, die nach dem Aufschlag des Flugzeugs Feuer gefangen hatten, Öl- und Hydraulikflüssigkeit, die aus zerfetzten Tanks ins Erdreich sickerten.

Eine schwarze Rauchsäule wuchs zum Himmel.

Man musste kein Fachmann sein, um zu erkennen, dass der Pilot den Absturz nicht überlebt haben konnte.

Der Jet war in seine Einzelteile zerlegt. Das abgetrennte Stück einer Tragfläche ragte mit einem Fahrwerk schräg in die Luft. Vom Rumpf war nur ein zerknautschtes Stück Metall geblieben, das Triebwerk hatte sich tief in den Acker gebohrt, die Kanzel war zersprengt.

Bauern, die auf den Feldern gearbeitet hatten, liefen zur Unfallstelle. Sie fanden den Helm des Piloten mit einem Riss im Stirnbereich und den abgetrennten Schläuchen der Atemmaske.

Einige Meter davon entfernt lag der Flugzeugführer zwischen qualmenden Wrackteilen in seinem Sitz, zur Hälfte von einem Stück weißen Fallschirms bedeckt.

Eine Hand, die eine Leine zu halten schien, schaute unter dem Tuch hervor.

Einer der Augenzeugen erkannte daran einen Ehering.

 

1

Triebwerksausfall in zehntausend Fuß Höhe, und er kann sich ums Verrecken nicht mehr an das Notverfahren erinnern, das er sonst aus dem Effeff beherrscht. Während sich der Jet schräg legt, blättert er panisch die Checkliste mit den Emergency Procedures durch, der Höhenmesser kreiselt wie wild, der Erdboden stürzt auf ihn zu, und wenn er sich jetzt nicht rausschießt, ist es zu spät. Nun mach dir mal nicht in die Hosen! Auf einmal spürt er einen harten Zug am Knüppel, sein Fluglehrer übernimmt das Steuer – den hatte er ganz vergessen –, der Alte hockt hinter ihm auf dem Trainersitz, mit einem Dröhnen zündet das Triebwerk, das Flugzeug hebt die Nase, und sein Vater schimpft: Das kommt von deiner Faulheit, setz dich endlich auf deinen Hosenboden und lern was! Dann landet er die Maschine direkt vor dem Nürnberger Melanchthon-Gymnasium.

Schweißgebadet fährt Peter aus dem Schlaf: Sechs Uhr, der Wecker schrillt. Willi, mit dem er die Stube teilt, steht putzmunter vor ihm: »Mann, du siehst ja aus wie ein Düsenjäger zu Fuß!«

Beneidenswert, wenn man sich mit dem Aufstehen so leicht tut wie sein Freund. Hätte man bei den fliegermedizinischen Untersuchungen sein Schlafverhalten getestet, wäre er bei der Luftwaffe erst gar nicht genommen worden.

Peter reibt sich die Augen: Was für eine beschissene Nacht! Erst konnte er lange nicht einschlafen, wurde die Gedanken an Gerda nicht los, und dann noch dieser Albtraum. Dabei hat sein Vater nicht einmal den Führerschein, von einer Jetlizenz ganz zu schweigen.

Er steigt aus dem Bett, schlurft zum Waschraum, steckt den Kopf unters Wasser.

Neben ihm flucht Gert, der sich beim Rasieren geschnitten hat, und schaut zu, wie sein Blut ins Waschbecken tropft: »Scheibenhonig, verdammter!«

Peter striegelt seine Haare, putzt sich sehr sorgfältig die Zähne: Seit seiner Zurückstellung ist er die Angst nicht mehr losgeworden, dass ihn der treulose Kamerad in der linken Backe doch noch einmal im Stich lassen könnte.

»Nun komm schon, Trantüte«, treibt ihn Willi an, »um sieben ist Briefing!«

In der Kantine sind die Kameraden mit dem Frühstück fast fertig, als er sich an den Tisch setzt. Gert hat ein Pflaster am Kinn und gibt gerade einen Witz zum Besten:

»Nun hören Sie doch um Himmels willen mit Ihren blöden Kunststückchen auf, ruft ein vor Angst schlotternder Flugschüler dem Piloten zu: Ich sitze zum ersten Mal in so einer Kiste und Sie nehmen überhaupt keine Rücksicht! – Eieiei, sagt der andere, dann sind Sie wohl auch nicht der Fluglehrer, der mir heute das Landen beibringen wollte.«

Gelächter, man schiebt die Stühle weg.

»So Kameraden, Abflug!«

 

2

8. Juli 1960.

Marie drückt den Buchungsstempel auf eine Quittung und tippt den Betrag in die Rechenmaschine.

Ratternd windet sich eine Papierschlange über die Bilanzbücher, kriecht über den Schreibtisch und fällt auf den Boden.

Ein Blick auf die Armbanduhr: erst halb zwölf.

»Mensch Frieda, heute vergeht die Zeit aber gar nicht.«

Marie dreht sich zu ihrer Schwester um, die nicht von ihrer Arbeit aufschaut: »Ist doch immer so am Freitag.«

Als wäre es eine Schikane des Chefs, dass am letzten Werktag die Uhren langsamer laufen, nur damit seine Angestellten nicht ins Wochenende kommen. Seit die Kanzlei von der einfachen auf doppelte Buchführung umgestellt hat, gibt es sowieso noch mehr Arbeit als früher. Man überträgt nicht mehr unmittelbar aus den Grundbüchern in das Hauptbuch, sondern schiebt dazwischen ein Sammeljournal ein. Das hat zwar den Vorteil, dass mehrere Buchhalter gleichzeitig an den Grundbüchern arbeiten können, andererseits entstehen durch die doppelte Übertragung leicht Fehler. Da sitzt man dann bis in die Nacht, wenn eine Bilanz nicht aufgeht, macht Überstunden und muss sich vom Chef anschnauzen lassen.

Schon wenn er mit seinem Holzfuß zur Tür herein tockt, läuft es Marie kalt über den Rücken. Im Krieg hat er ein Bein verloren, dafür revanchiert er sich jetzt, indem er seine Launen an den Buchhalterinnen auslässt.

Marie rutscht auf dem harten Bürostuhl hin und her, streift ihre Stöckelschuhe ab. Ich weiß noch gar nicht, ob ich abends mit den Dingern ausgehen kann. Rugediguh, Blut ist im Schuh. Und wenn man Pflaster auf die Blasen klebt, sieht es hässlich aus.

Vielleicht sollte ich die Verabredung lieber absagen. Bodo ist zwar ein anständiger Kerl, aber mit seinem Pockengesicht nicht gerade das, was man einen schönen Mann nennt. Die Männer, von denen man schwärmt, gibt es immer nur im Kino.

»Was ist denn los?«, fragt Frieda.

»Ach nichts.«

Marie reibt sich die schmerzenden Fersen, betrachtet ihre Schwester. Charakterlich geht sie ganz nach dem Vater. Wenn der sich mehr ins Zeug gelegt hätte, wäre er längst Oberfeuerwehrmann geworden. Stattdessen haben sie ihm einen Jüngeren vor die Nase gesetzt, über den er nun nicht genug schimpfen kann.

Ein Flugzeug zieht einen Kondensstreifen über den Himmel am Nachbarhaus.

Ra-ta-ta-tat. Ra-ta-ta-tat.

Plus, Minus, Summe.

Aus Verdruss isst sie jeden Morgen drei Butterhörnchen, und das Ergebnis sind die peinlichen Speckröllchen an ihren Hüften: Ihr neues Stufenrockkleid musste sie sich bereits eine Nummer größer kaufen.

Ra-ta-ta-tat.

Abschlussbuchungen.

Vermögensbilanz.

Erfolgsbilanz.

Bei den Nullen muss man aufpassen, dass man nicht eine vergisst oder zu viel schreibt.

Seit zwei Jahren arbeitet sie in der Bilanzbuchhaltung, und jedes Jahr sind die Gewinne der Unternehmen gewachsen. Jetzt holt man schon Ausländer nach Deutschland, weil es nicht mehr genug Arbeitskräfte gibt.

Verbindlichkeiten. Personalkosten. Steuern.

Wenn man alles gewissenhaft erfasst, steht am Ende eine Zahl, auf die es im Leben ankommt.

Das Parkett knackst und verströmt den Geruch von Bohnerwachs. Die Zahlen werden zu Ameisen, die in Spalten untereinander krabbeln.

Soll und Haben.

Verluste, Gewinne.

Von der Straße hört man das Rauschen des Verkehrs.

Der Kondensstreifen hat sich wieder aufgelöst.

 

3

Aus der Luft sieht man vom Fliegerhorst Fürstenfeldbruck zuerst den Strich der Rollbahn, dreitausend Meter lang – eine komfortable Piste, auf der sogar die großen Transportmaschinen landen können, mit denen die Amerikaner schweres Gerät aus den Staaten in die Bundesrepublik bringen. Parallel dazu der Taxiway mit dem Sägezahnmuster der Abstellplätze, daneben die grauen Klötzchen der Hangars, der Tower und die Baracken der Flight Line. Das Oval des Sportplatzes unweit der Schwimmhalle dient in der Luft als gute Orientierung.

Beim Landeanflug behält Peter vor allem die Sinkrate und Geschwindigkeit im Auge, fliegt über die Felder zwischen Maisach und Bruck und schwebt mit ausgefahrenen Klappen über dem Airfield ein.

Standardapproach Fürsty, Dutzende Male geübt: 180-Grad-Kurve, Fahrwerk raus, Touchdown mit 150 Knoten.

Ein leichter Schlag ins Kreuz, dann steigt er in die Eisen.

Besser kann man den Vogel nicht runterbringen.

Während er mit seiner Maschine zur Ramp rollt, sieht er andere Flugschüler, die sich mit ihren Lehrern um die Cockpits geparkter Maschinen drängeln. Sie üben das Anlassen, Rollen und Abstellen oder sind mit den Preflight-Checks beschäftigt, stecken ihre Köpfe in geöffnete Rumpfklappen, kriechen unter die Fahrwerksschächte.

An so einem schönen Tag will natürlich jeder in die Luft. Beim Morgenbriefing hat der Meteorologe ein stabiles Hochdruckgebiet skizziert, das sich über den Eisernen Vorhang hinweg bis in die Sowjetunion erstreckt. Sicht 200 Kilometer, Temperaturen bis 27 Grad.

Auf dem Rollweg zur Startbahn hat sich eine Schlange von Flugzeugen gebildet. Zwei T-Birds starten gerade in Formation und brennen mit ihren Abgasstrahlen weiße Löcher in die Luft. Das Grollen der Triebwerke kann man in den Eingeweiden spüren.

Für den Zivilisten, sagt man, ist es Lärm, für den Piloten Musik.

Sein Fluglehrer empfängt ihn auf dem Abstellplatz, klopft ihm auf die Schulter: »Hast ’nen sauberen Knüppel geflogen!«

Peter lächelt: »No sweat!«

Gert und Willi nehmen ihn lachend in den Schwitzkasten: Ein alter Fliegerbrauch, weiß der Himmel, wer sich den Jux ausgedacht hat.

Zweimal hat es Peter schon erlebt, bei seinem Jungfernflug auf der Piper L-18 in Uetersen und danach auf der Flugzeugführerschule A in Diepholz. Nach deinem ersten Alleinflug kriegst du Hiebe aufs Hinterteil.

Obwohl sich seine Kameraden mit ein paar freundschaftlichen Klapsen begnügen, schießt ihm das Blut ins Gesicht. Lern was, Bengel, dann zog sein Vater den Gürtel aus der Hose oder griff zum Teppichklopfer.

»So Kinder, jetzt lasst aber mal gut sein!«

Er entwindet sich dem Griff der Freunde, und der Chef der Technik überreicht ihm ein Glückwunschkärtchen. Zum ersten Soloflug gratuliert die blaue Flight. You are now an Eagle of the Sky!

Auf die Vorderseite ist eine T-33 gemalt, rückseitig haben die Techniker der Flight Crew unterschrieben, nicht ganz uneigennützig, weil sie wissen: Nach erfolgreichem Alleinflug spendiert der Flugschüler einen Kasten Bier.

Lfd. Nr. des Fluges: 239

Muster: T-33 A

Zweck des Fluges: TR-SOLO

Abflug, Ort: Fürstenfeldbruck

Tag: 8.7.1960

Tageszeit: 11.30 Uhr

Landung: 12.40 Uhr

Führer: Jung

In der Spalte »Begleiter« macht Peter in seinem Flugbuch einen bedeutsamen Strich. –

 

Drei Jahre hat er auf diesen Tag hingearbeitet – wenn man das Jahr in Roth dazuzählt, wo er 1958 eine Ausbildung zum Radartechniker anfing. Notgedrungen, nachdem er bei seiner ersten Piloten-Bewerbung durch die fliegermedizinischen Prüfungen gefallen war. Der treulose Backenzahn hatte ihm in der Unterdruckkammer unerträgliche Schmerzen bereitet und musste langwierig auskuriert werden. Erst ein Jahr später konnte er sich noch einmal bewerben.

Während er seine durchgeschwitzte Kombi auszieht, sieht er sich wieder in der Unterhose vor dem Oberstabsarzt stehen, der ihm mit dem Hörrohr Brust und Rücken abhorchte. Seine hübsche Assistentin notierte die Befunde: Blutdruck, Puls im Liegen und nach zwanzig Kniebeugen, EKG. Danach Untersuchung in der Radiologie: Schädel, Arme, Beine, Brustwirbel, Beckenwirbel.

Noch einmal saß er mit Helm und Maske in der Unterdruckkammer, wurde auf dreißigtausend Fuß hochgefahren. Aber diesmal gab der Zahn Ruhe. Der Stabsarzt gratulierte und bescheinigte ihm die Jettauglichkeit.

Er geht zu den Duschen, lässt sich vom heißen Strahl den Nacken massieren. Man merkt immer erst nach einem Flug, wie angespannt man war. Setz dich auf deinen Hosenboden! Wie kann sein Vater nur so ungerecht sein? Von hundert Pilotenbewerbern wird nur einer genommen, das sollte er ihm mal klarmachen.

Er seift sich ein, fängt zu singen an, wie er es in der Grundausbildung gelernt hat: Drei, vier, schlafe wohl, mein Schätzelein! Tausend Sterne, die sollen dich grüßen, die sollen dir den Schlaf versüßen, denn ich kann nicht bei dir sein!

Wenn er die Aufnahmeprüfung nicht bestanden hätte, wäre er auch Gerda nie begegnet. Mit seinem Olympia machten sie von Diepholz Ausflüge in die Heide, zum Flugtag in Wunsdorf oder nach Bremen. Der Wagen hatte umklappbare Sitze …

Von der Erinnerung kriegt er einen Ständer.

Wenn nur jetzt kein Kamerad in den Waschraum platzt.

Mensch, denk an was anderes!

Cockpitdrill: Erst wenn du mit verbundenen Augen alle Hebel und Instrumente finden kannst, darfst du allein in die Luft.

Eine Krähe mit gebrochenen Flügeln war ihr Maskottchen. Kra kra! Auch Gerda fand das Tierchen ganz süß.

Nein, schüchtern war sie ganz und gar nicht.

Er steigt aus der Dusche, schlurft mit einem Handtuch um die Hüften in die Stube zurück.

An der Tür seines Spinds hängt ein Foto von Gerda neben der Aufnahme eines Starfighters. Seit drei Wochen liegt ihr Brief unbeantwortet auf seinem Nachttisch. Ich war wohl auch nur eine von den vielen auf der Liste deiner Eroberungen. Sie will nicht verstehen, dass er sich von seinem Lehrgang nicht einfach loseisen kann. Von Fürstenfeldbruck nach Diepholz fährt man acht Stunden, und am Wochenende heißt es pauken. Wahrscheinlich erwartet sie einen Antrag von ihm. Dabei ist er noch nicht einmal Unteroffizier. Bevor er die Wings nicht hat, braucht er gar nicht an eine Ehe zu denken.

Sein Blick schweift zum Fenster.

Ein paar Kameraden laufen von den Unterkünften rüber zum Sportplatz. Jets starten mit heulenden Triebwerken.

Mit dem Flugzeug bräuchte man nach Diepholz keine Stunde.

 

4

Das Hotelzimmer ist einfach eingerichtet, billig, aber sauber. Es gibt ein kleines Waschbecken, die Toilette befindet sich auf dem Gang.

Marie freut sich, endlich aus den verschwitzten Kleidern herauszukommen. Sie öffnet ihren Koffer, betrachtet ihre Sachen, die ordentlich gefaltet nebeneinander liegen: Strümpfe, Unterwäsche, Schlafanzug, ein rosarotes Strickjäckchen, obenauf ihr neues himmelblaues Stufenrockkleid.

Eigentlich hätte sie sich das sündteure Stück gar nicht leisten können. Hundert Mark, das ist ein halber Monatslohn!

Aber manchmal muss man verrückt sein, sonst wäre das Leben langweilig.

Ob sie nicht abends mit ihm ausgehen wolle, hat sie dieser Pilot gefragt. Dabei hatte sie ihm erzählt, dass sie mit einem anderen verabredet ist.

Marie hängt das Kleid an einen Bügel, zieht ihre Schuhe aus und stellt sie zum Auslüften aufs Fensterbrett.

Ein Zufall, dass sie dem Mann überhaupt begegnet ist. Am Münchner Hauptbahnhof wollte sie Bodo anrufen, hatte aber kein passendes Kleingeld, sprach den erstbesten Passanten an. Könnten Sie mir nicht wechseln?

Und dann stellt sich heraus, dass der junge Soldat Flieger ist und gerade mit dem Auto nach Fürstenfeldbruck in die Kaserne zurückfahren will. Ich würde mich freuen, Sie mitzunehmen.

Sie hat zuerst gezögert, schließlich gehört sie nicht zu den Frauen, die sich auf der Straße ansprechen lassen. Aber er hat ihr gleich gefallen: blond, blaue Augen, sportliche Figur. Und er machte auch nicht den Eindruck, als ob er nur auf ein schnelles Abenteuer aus wäre. Warum hätte sie das freundliche Angebot ausschlagen sollen? Das Geld für die Fahrkarte konnte sie auch sparen.

Sie öffnet den Reißverschluss ihres Rockes, lässt ihn über die Hüften zu Boden gleiten, entledigt sich ihrer Bluse, die an den Seiten, wo die Speckröllchen sitzen, unschöne Falten wirft. Das kann ihm eigentlich nicht entgangen sein.

Sie fühlte sich ein wenig befangen, als sie neben ihm in seinem todschicken Wagen saß.

Er fuhr flott, erzählte lachend: »Vor dem Borgward hatte ich einen Opel Olympia, den habe ich in den Graben gesetzt. Bin wohl zu schnell in die Kurve gegangen.«

Marie rollt vorsichtig die Strümpfe von den Oberschenkeln. Die Nylons sind teuer, gehen aber viel zu leicht kaputt.

Sie könnten doch Ihre Verabredung absagen. Er versuchte sie um den Finger zu wickeln. Vor Männern dieses Schlages muss man sich hüten, das kann man in jeder Zeitschrift lesen.

Marie mustert ihre kräftigen Waden. Krautstampfer, sagt ihre taktlose Mutter, von der sie zu allem Unglück auch die Anlage zu Krampfadern geerbt hat. Die Strümpfe können den Makel nicht ganz verbergen.

Ich fände es riesig nett, wenn ich Sie einladen dürfte.

Sie öffnet den Verschluss ihres BHs. An der Stelle, wo die Körbchen aneinander stoßen, hat der Bund die Haut aufgescheuert. Eigentlich ist ihr der Büstenhalter zu klein. Aber man soll sich erst gar nicht an größere Nummern gewöhnen.

Das neue Kleid ist zwar so geschnitten, dass es die überflüssigen Pfunde kaschiert, in einem Bikini könnte sie sich mit ihren Speckringen jedoch nicht blicken lassen.

Etwas niedergeschlagen geht sie ans Waschbecken, räumt ihren Toilettenbeutel aus, stellt das Parfüm, die Gesichtslotion, das Deodorant auf ein Bord, steckt ihre Zahnputzsachen in einen Becher.

Dann wäscht sie sich unter den Armen, am Hals, zwischen den Brüsten.

Ach, es wäre schön, wieder einmal verliebt zu sein. Warum mit einem Mann ausgehen, der einem nicht hundertprozentig gefällt?

Sie zieht frische Unterwäsche an und beginnt mit der Gesichtspflege, cremt sich ein, zupft ihre Brauen, schminkt sich. Zuletzt frisiert sie die Haare, achtet darauf, dass einige Locken über die Schläfen fallen, sprüht Haarspray auf.

Sie solle es sich ihm zuliebe noch einmal überlegen. Er werde in zwei Stunden vor dem Hotel auf sie warten.

So abgebrüht muss man erstmal sein.

Sie klebt Pflaster auf ihre Fersen, holt eine Packung Perlonstrümpfe aus dem Koffer, denkt: Ein Mann muss mir gefallen.

In ihrem Kleid dreht sie sich vor dem Spiegel, probiert ein paar Posen, knickst ein Bein leicht an, hält die Hände zusammen.

Oder lässig eine Hand gegen die Tür gestützt, die Beine verschränkt, den linken Handrücken gegen die Stirn gelegt, während man geheimnisvoll lächelt.

Der Ausschnitt ist zwar gewagt, aber eine gute Portion Offenherzigkeit verfehlt nicht ihre Wirkung.

Spieglein, Spieglein an der Wand.

Brust raus.

Schmollmund.

Augenaufschlag.

Und ihr Entschluss steht fest.

 

5

130 … 135 … 140 …, langsam schiebt sich der Zeiger des Tachometers auf die magische Grenze zu, Peter tritt das Gaspedal bis zum Boden, und die Isabella saust über die Landstraße. Links und rechts fliegen Alleebäume vorbei – Schatten, Sonne, Schatten: Mensch, Sie fahren aber schnell! Er muss lächeln, wenn er an die Autofahrt mit Marie denkt. Sie klammerte sich an den Türgriff, und der Fahrtwind hob ihren Rock in die Höhe.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie seine Einladung annehmen würde. Frechheit siegt. Sie hatte ein hellblaues Rüschenkleid an, als sie aus dem Hotel kam. Im Café Bra-
meshuber
haben sie einen heiteren Abend verbracht, sich gut unterhalten, Sekt getrunken, miteinander gelacht. Was ist schon gegen einen harmlosen Flirt einzuwenden? Gerda muss es ja nicht erfahren. Er hat noch jetzt Maries Parfum in der Nase und ein Gefühl im Magen wie beim Fliegen eines Loopings oder einer Lazy Eight.

Der Fahrtwind pfeift im Schiebedach, 140 … 145 …, mehr kann man aus der Kiste nicht rausholen. Mit 150 Stunden-
kilometern hebt eine Piaggio bereits ab.

Er fährt so schnell wie möglich an die nächste Kurve heran, bremst kurz davor ab und steigt wieder voll aufs Gas, als der Wagen den Scheitelpunkt erreicht. Am Lenkrad spürt er die Kräfte, die an dem Wagen zerren, aber die Isabella liegt auf der Straße wie ein Brett.

 

Auf der B13 geht es von Eichstätt nach Weißenburg, dann weiter auf der B2 Richtung Roth, wo er seine Grundausbildung gemacht hat: exerzieren, durch den Dreck robben, Hindernislauf, Feldlager auf irgendwelchen Kuhweiden, links, rechts, im Gleichschritt Marsch! Geländeübung in einer Winternacht. Ein Russenloch hilft gegen die Kälte. Gefechtsausbildung am Gewehr. Handgranatenwerfen. Der Stahlhelm reichte ihm bis knapp über die Augen, die Stiefel knarzten. Kopf hoch, Brust raus, Mund zu, Augen ruhig, Blicke geradeaus, Gesäß zusammengekniffen! Die Finger des Mannes in der Grundstellung liegen nicht mehr an der Hosennaht, sondern sind locker gekrümmt. – Die Handstellung gilt als Ausweis der demokratischen Gesinnung. Trinkgeldpfötchen, spottete ihr Spieß. Kompanie singen! Drei, vier, schlafe wohl, mein Schätzelein! Der Spieß kontrollierte beim Stubendurchgang, ob sie ihre Stiefel geputzt, die Spinde aufgeräumt und Betten sauber gemacht hatten, ließ sich Zahnbürste und Schuhe zeigen. Kopfkissen ist nicht ordentlich straff gezogen! Schauen Sie zu, dass Sie ’ne ordentliche Kante hinbekommen!

Peter bremst, kuppelt, schaltet runter und gibt wieder Gas. Beschleunigung von null auf hundert in vierzehn Sekunden.

Zuweilen erinnert ein Wegkreuz am Straßenrand an tödliche Unfälle. Aus Sicherheitsgründen werden jetzt die Alleebäume überall umgehackt. Das ist schade, aber unvermeidlich.

 

Von Langwasser führt die Straße an einer Reihe neu gebauter Mietskasernen vorbei. Nürnberg ist in den letzten Jahren rasant gewachsen. Kein Vergleich zu 49, als sie herzogen und die Altstadt noch in Trümmern lag. Überall klafften Lücken in den Häuserzeilen. Die Sebalduskirche, die Kaiserburg, das Rathaus wurden gerade erst wieder aufgebaut. Die ganze Stadt war voller Kräne und Gerüste.

Oft ist er mit Willi irgendwo hochgeklettert, stundenlang saßen sie in luftiger Höhe, schauten den Flugzeugen hinterher, die ihre Kondensstreifen über die Stadt zogen. Zum vierzehnten Geburtstag schenkte ihm sein Vater ein Buch über die Anfänge der Fliegerei. Lilienthal, der sich ein Segelflugzeug baute, das aussah wie ein Vogel. Oder die Geschichte der Gebrüder Wright, die in Amerika das erste Motorflugzeug zusammenschraubten. Bleriots Überquerung des Ärmelkanals, Lindberghs Flug über den Atlantik. Phantastische Rekorde und todesmutige Abenteuer. Damals packte ihn die Begeisterung fürs Fliegen.

Er fährt über den Altstadtring nach Norden, biegt am Laufer Tor rechts in die Sulzbacher Straße ein.

Am Melanchthon-Gymnasium überfällt ihn wieder das ungute Gefühl wie in den Jahren, als er hier zur Schule ging. Schon morgens in der Straßenbahn war ihm oft schlecht. Die bärtigen Steingesichter an der Fassade des burgartigen Gebäudes flößten ihm Angst ein, die Lehrer gaben ihm schlechte Zeugnisse und ließen ihn durchfallen. Peter Jung, Sohn des Ing. Herrn Heinrich Jung, in Nürnberg, geboren am 30. Juni 1938 zu Dresden, ev. Bekenntnisses, hat im Schuljahre 1950/51 die 1. Klasse wiederholt. Betragen und Fleiß des Schülers mußten öfter beanstandet werden, außerdem zeigte er kaum eine Mitarbeit am Unterricht und war leicht ablenkbar. Um seinen Fleiß und die Konzentration zu fördern, versohlte ihm sein Vater den Hosenboden.

 

Er parkt in der Nähe einer lauten Kreuzung und überquert die Straße. Als Kinder haben sie hier gespielt, Autos gab es nur wenige, jetzt muss man aufpassen, dass man nicht überfahren wird.

Im Treppenhaus hängt der vertraute Geruch nach Moder und Kohlen. Sein Vater, in Knickerbockern und kariertem Hemd, begrüßt ihn mit einem Handschlag: »Warum kommst du so spät? Wir haben dich früher erwartet.«

Peter schaut auf die Uhr: »Ist doch erst zwölf.«

Um zehn ist er in Fürstenfeldbruck losgefahren. Zwei Stunden Fahrt, das ist für die Strecke keine schlechte Zeit. Warum muss er sich rechtfertigen, kaum dass er zur Tür herein ist?

Aus der Wohnung springen ihm seine Geschwister entgegen, hängen sich an ihn: »Peter, Peter! Hast du uns was mitgebracht?«

Er schüttelt Susanne und Stefan von sich ab, zieht ein Fix-und-Foxi-Heft aus der Tasche, das sie ihm gierig aus der Hand reißen.

Sein Vater schüttelt den Kopf: »Schon wieder dieser Schund?«

Hiltrud kommt aus der Küche, gibt Peter einen schlaffen Händedruck, hat diese leidende Miene, die er schon als Kind nicht an seiner Stiefmutter ausstehen konnte. Wahrscheinlich hat sie wieder mal mit seinem Vater gestritten. Den ganzen Tag, sagt sie, habe sich Heinrich schon auf den Wanderausflug gefreut. Bei so einem Traumwetter. »Am liebsten wäre er in aller Herrgottsfrühe los.«

Entsprechend ungeduldig ist er jetzt, treibt seine Familie an: »Nun kommt Kinder, macht mal hinne!«

Kurz darauf sitzen sie alle in Peters Wagen.

Sein Vater streicht über die Armaturen, öffnet das kleine Seitenfenster, begutachtet das Handschuhfach. »Wie bist du denn mit dem Auto zufrieden?«

Als Ingenieur interessiert ihn weniger das tolle Aussehen als die beeindruckende Technik des Fahrzeugs: Selbsttragende Karosserie, Pendelachse, hydraulische Teleskopstoßdämpfer – das ist solide deutsche Wertarbeit, die sein Herz höher schlagen lässt. Made in Germany.

»Das einzige, was fehlt, ist eine Scheibenwaschanlage.«

»Na ja, die werden sie beim Folgemodell sicher nachrüsten. Vorausgesetzt, dass Borgward seine Krise in den Griff kriegt.«

Mit dem neuen Lloyd Arabella habe der Hersteller nämlich eine Menge Probleme. »Da waren wohl die Ingenieure ein bisschen schlampig.« Und das kränkt ihn in seiner persönlichen Berufsehre als Maschinenbauer.

Hiltrud meldet sich vom Rücksitz: »Mensch, Heinrich, könnt ihr nicht mal über was anderes reden?«

»Kümmere du dich lieber um die Kinder«, raunzt er nach hinten. »Macht nicht so ein Geschrei!«

In Beerbach parken sie vor einer kleinen gotischen ­Kirche, ein hübscher Sandsteinbau mit spitzem Turm, davor ein Friedhof, auf dem ein Arbeitskollege von Peters Vater begraben ist, der bei einem Autounfall ums Leben kam.

Bevor sie loswandern, werfen sie einen Blick in das Gotteshaus, in dem es ein wenig modrig riecht, und Hiltrud trägt einen Wunsch in ein Fürbittenbuch ein.

»Wenn du meinst, dass es hilft …«

Peters Vater kann sich den Spott nicht verkneifen. Zwar ließ er seine Kinder aus zweiter Ehe in dem Kirchlein taufen, hat aber sonst für den Glauben nicht viel übrig, hält Religion für Weiberkram.

Der Weg führt sanft hügelaufwärts nach Tauchersreuth, ringsum Wäldchen, Obstgärten und Wiesen, die jetzt im August blau sind vom Storchschnabel.

»Na, wie läuft denn dein Lehrgang?«, will sein Vater wissen, als sie an einem von Libellen umschwirrten Karpfenteich vorbeikommen. »Hattest du schon Prüfungen?«

Peter zieht es den Magen zusammen. So ähnlich fing er früher immer an, bevor er den Gürtel rauszog.

»Die Academics habe ich auf Anhieb bestanden und vor einem Monat auf der T-33 meinen ersten Soloflug absolviert.«

»Na prima!« Sein Vater haut den Wanderstecken in den Boden. »Früher warst du ja immer faul. Eigentlich nicht zu dumm, aber du hattest deinen Kopf nicht bei der Sache. Stefan lernt auch nicht gern, spielt lieber mit seiner Modelleisenbahn, als sich auf den Hosenboden zu setzen. So sind eben meine Jungs.«

Peter schweigt verärgert. Wie oft hat er solche Vorwürfe schon gehört? Wenn er widersprach, hielt ihm sein Vater immer nur seine eigene Erfolgsgeschichte vor. Dass er sich mit einem Hauptschulabschluss als technischer Zeichner in einem Wagenbaubetrieb hochgearbeitet und auf der Abendschule sein Abitur nachgemacht hat. Die Basis seiner Ingenieursausbildung und ein glänzendes Beispiel dafür, wohin Ehrgeiz und Fleiß den Menschen führen können.

Sie laufen eine Weile wortlos nebeneinander her.

Ein Bussard zieht seine Kreise am Himmel.

Das Getreide ist fast überall gemäht. Wo es noch steht, knistern die Halme, als ob Funken zwischen den Ähren übersprängen.

»Die T-33 ist eine schnelle Maschine, nicht?«, bricht sein Vater schließlich das Schweigen.

»Neunhundert Stundenkilometer«, antwortet Peter, der weiß, dass er seinen Vater vor allem mit Zahlen beeindrucken kann. »Mach null Komma acht. Das ist fast Schallgeschwindigkeit.«

Was man dem Vogel nicht unbedingt ansieht. Eigentlich wirkt der T-Bird mit seinen rechtwinklig angesetzten Tragflächen und der stumpfen Schnauze ziemlich behäbig. Doch bei fünfhundertfünfzig Knoten hat schon mancher Muffensausen bekommen und in sein Schiffchen gekotzt. Überhaupt hat das Muster seine Tücken. Peter erklärt es seinem Vater: Die Turbine läuft beim Starten oft heiß, und die Hydraulik ist so schwergängig, dass man leicht überzieht. Auch am Boden muss man höllisch aufpassen. Die Maschine hat nämlich keine Bugradsteuerung, man lenkt mit den Bremsen. Wenn du beim Kurven zu stark in die Eisen steigst, stellt sich das Bugrad quer, dann fährst du unter dem Gelächter der Kameraden im Kreis herum und kannst warten, bis die Techniker kommen und das Rad wieder gerade rücken.

»Ist klar, dass die Amis den Deutschen nicht ihre neueste Technik überlassen«, sagt sein Vater. »Die trauen uns wohl doch noch nicht ganz übern Weg, unsere Befreier …«

Peter zuckt mit den Schultern. Ein heikles Thema. Sein Vater war auf die Amerikaner noch nie gut zu sprechen. Nicht nur, weil sie Rock ’n’ Roll, Kaugummi und Micky Maus nach Deutschland gebracht haben. Vor allem ihre Beteiligung an der Zerstörung Dresdens hat er ihnen nicht verziehen. Das war Terror gegen die Zivilbevölkerung.

»Na ja«, sagt er, köpft mit seinem Stock eine Brennnessel am Wegrand, »immer noch besser, als wenn wir unter der Knute vom Russen wären.«

Peter dreht sich nach Hiltrud um, die mit den Kindern weit zurückgeblieben ist: »Sollen wir nicht warten?«

»Nö, nö«, erwidert sein Vater, »die trödeln sonst noch mehr.«

»Nur eines verstehe ich nicht«, spinnt er seinen Faden weiter: »Warum überlassen die Amerikaner den Russen die Herrschaft über den Weltraum? Jetzt haben die einen Sputnik mit zwei Hunden ins All geschossen. Wenn die USA den Sowjets auf diesem Feld nicht die Stirn bieten, werden die uns irgendwann doch noch überrennen. Mich wundert bloß, dass sie den Deutschen erlaubt haben, mit einer gemeinsamen Mannschaft bei den Olympischen Spielen anzutreten. Sonst tun sie doch auch alles, um Deutschland auseinanderzudividieren.«

Er wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Ist jedenfalls schon beeindruckend, was die Deutschen bei den Spielen erreicht haben. Im Medaillenrang sind wir auf Platz vier. Nur noch die USA, die Sowjetunion und Italien sind uns voraus. Sportlich gesehen ist Deutschland noch immer eine Großmacht. Die Laufwettbewerbe habe ich mir alle angesehen. Junge, da habe ich Lust bekommen, wieder selber zu laufen.«

Peter ahnt, was jetzt gleich kommt: 1936 hat Hitler den Fackellauf zur Eröffnung der Spiele eingeführt, und sein Vater durfte die olympische Flamme durch Dresden tragen, weil er ein so guter Läufer war. Die Geschichte hat er schon tausendmal erzählt. Auf seinem Nachttischchen steht noch immer das Beweisfoto seiner Heldentat: Vati als junger Mann im weißen Laufdress, Hakenkreuz auf der Hemdbrust, die olympische Fackel in der Hand.

Er bleibt nun doch stehen, winkt Hiltrud: »Wo bleibt ihr denn?«

Seine Frau schließt mit den Kindern auf, beklagt sich: »Mensch, Heinrich, wieso rennst du immer vorneweg!? Susanne ist doch erst drei, die kann keine großen Schritte machen. Wie sollen wir da nachkommen?«

Das übliche Gemecker zwischen den beiden. Peter hört gar nicht hin, widmet sich seiner Schwester, die ihre Arme nach ihm ausstreckt: »Trägst du mich?«

»Na klar.«

Stefan zieht einen Flunsch: »Ich bin auch müde.«

»Du bist aber ein Junge«, mahnt ihn sein Vater. »Da muss man schon ein bisschen mehr aushalten als ein Mädchen. Und putz dir mal die Nase!«

Er gibt ihm einen Klaps hinter die Ohren, Hiltrud zieht ein Taschentuch heraus, hilft Stefan beim Schnäuzen.

»Muttersöhnchen!« Sein Vater schüttelt den Kopf. So war er leider schon immer. Von allen seinen Kindern ist er enttäuscht, das hat er sie spüren lassen. Stefan ist verzärtelt. Peter ist faul. Susanne quengelt zu viel. Romy hält er für ein eitles Luder. Keine Ahnung, wie man es ihm recht machen soll.

»So, jetzt aber weiter, Marsch!«

 

Als sie in Oedenberg ankommen, haben sie alle mächtig Hunger. Das Gasthaus ist in einem ehemaligen Jagd­schlösschen untergebracht und liegt auf einem Hügel, von dem man eine schöne Aussicht auf die bewaldeten Anhöhen der Fränkischen Schweiz hat. Ein Familienbetrieb in der fünften Generation, eigene Metzgerei, großer Biergarten.

Der Wirt lässt es sich nicht nehmen, persönlich an ihren Tisch zu kommen, um die Schlachtschüssel zu empfehlen: Brat-, Blut- und Leberwürste, saure Nieren, Kesselfleisch, Kraut und Kartoffeln.

»Gute deutsche Hausmannskost!«

»Kriegst du in der Kaserne eigentlich was Anständiges zu essen?«, fragt Hiltrud. »Wie ist die Verpflegung?«

Peter lehnt sich lächelnd zurück: »Lieber esse ich im Restaurant.«

Sein Vater fällt ihm ins Wort: »Ich auch.«

Hiltrud tut, als hätte sie die Bemerkung überhört. Manchmal hat Peter wirklich Mitleid mit ihr. Warum muss ihr sein Vater ständig vorwerfen, dass sie nicht gut kochen kann? Aber natürlich ist sie auch selber schuld, wenn sie sich solche Gemeinheiten gefallen lässt.

Der Wirt stellt die Schlachtschüssel auf den Tisch, serviert die Getränke.

»Na, dann Prost!«

Sein Vater kippt das Bier in einem Zug hinunter, wischt sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund, bestellt gleich noch ein Seidel nach.

Kürzlich seien sie in der Oper gewesen, erzählt Hiltrud beim Essen. »La Traviata. Eine wunderbare Aufführung.«

Peters Vater wirft ihr einen ironischen Blick zu: »Ich habe geschlafen.«

Hiltrud schaut ihn beleidigt an: »Dass dich die Musik kalt lässt, tut mir weh. Außerdem war unser Hochzeitstag.«

Er antwortet mit einem gleichgültigen Brummen, kaut genüsslich eine Blutwurst, wendet sich mit vollem Mund an Peter:

»Wie geht es eigentlich deinem Mädchen? Triffst du noch diese, wie heißt sie noch gleich, das junge Ding aus Diepholz?«

»Gerda.«

»Ja, Gerda.«

Auf ihren Brief hat er noch immer nicht geantwortet. Aber vor Hiltrud will er sowieso nicht über seine Liebschaften reden. Außerdem hat sich sein Vater über seine Freundinnen meist abfällig geäußert. Veronika, seine erste Liebe, ein verträumtes Mädchen, das Gitarre spielte und Fahrradausflüge mit ihm machte, nannte er eine dumme Gans. Ursel, die sich immer sehr damenhaft anzog, war ihm zu aufgetakelt. Inge mit ihrem kessen Kurzhaarschnitt hielt er für ein liederliches Geschöpf, und das heißt soviel wie Flittchen.

»Ein schönes Mädchen, diese Gerda, soweit ich das von dem Foto beurteilen kann, das du mir mal gezeigt hast. Deine Mutter war auch schön. Und eingebildet. Mit schönen Frauen hast du immer Ärger, die nutzen das aus, glaub mir. Heirate bloß nicht die Erstbeste! Frauen wollen nur unter die Haube, danach lassen sie sich gehen.«

Peter schiebt unruhig seinen Bierkrug auf dem Tisch hin und her. Hiltrud säubert mit Spucke Susannes Mundwinkel.

Sein Vater bestellt noch einen Schnaps, lallt schon ein bisschen: »Ich muss ja nicht fahren, das ist der Vorteil, wenn man keinen Führerschein hat.«

Die Abdrücke des Krugs auf dem Tisch sehen aus wie olympische Ringe.