Über Hans Fallada

Rudolf Ditzen alias HANS FALLADA (1893–1947), zwischen 1915 und 1925 Rendant auf Rittergütern, Hofinspektor, Buchhalter, zwischen 1928 und 1931 Adressenschreiber, Annoncensammler, Verlagsangestellter, 1920 Roman-Debüt mit »Der junge Goedeschal«. Der vielfach übersetzte Roman »Kleiner Mann – was nun?« (1932) machte Fallada weltberühmt. Sein letztes Buch, »Jeder stirbt für sich allein« (1947), avancierte rund sechzig Jahre nach Erscheinen zum internationalen Bestseller. Weitere Werke u. a.: »Bauern, Bonzen und Bomben« (1931), »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« (1934), »Wolf unter Wölfen« (1937), »Der eiserne Gustav« (1938).

Informationen zum Buch

Ursprünglich hatte Fallada eine Geschichte über die Winterarbeit auf dem Lande vor, doch seine Gewohnheit, beim Schreiben zu erfinden und sich von Einfall zu Einfall tragen zu lassen, forderte Tribut, und zu guter letzt brachte er ein Kunstmärchen zustande. Es geht um einen teuflischen Fluch und um finstere Mächte, um Zauberei und Verwandlung, um Händel zwischen schwarzer und weißer Magie, um Bruderzwist und um Liebe, und es gibt ein rundherum glückliches Ende. Denn die die Bösewichter werden entlarvt und die Redlichen belobt.

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Hans Fallada

Märchen vom Stadtschreiber, der aufs Land flog

Inhaltsübersicht

Über Hans Fallada

Informationen zum Buch

Newsletter

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Nachwort

Impressum

Würzt die Wasser, würzt die Weine,

Ja, würzt selbst noch die Gewürze,

Daß der Punch auch würzig sei!

Erstes Kapitel

»Hört, Landbewohner, all mir zu!«

J. F. Cooper, »Der Lotse«

Vor vielen Jahren lebte in einer großen Stadt ein junger Mann, der auf der Geschäftsstube eines Ratsherrn, genannt Asio, Schreiberdienste zu verrichten hatte. Von morgens bis in den späten Abend hinein saß er an seinem Tisch, sich gegenüber einen anderen, aber älteren Schreiber, namens Bubo, und schrieb fleißig ab, was ihm sein Herr an Verträgen, Urkunden, Regressen, Akten auf den Platz gelegt. Wenn er die Hand mit der Feder zum Tintenfasse führte, begegnete sie wohl der Hand des Schreibgefährten drüben, und wenn er dann unwillkürlich den Blick hinüberrichtete, sah er das gesenkte Auge des anderen, das schon die nächste Zeile der Vorlage im voraus las, und um so emsiger kehrte er, wie ein ertappter Faulmann, zum eigenen Schreibwerk zurück. Aber wie eifrig er sich auch mühte, nie war der Berg der Aufgaben vor ihm ganz abzutragen, und meinte er den einen Abend, heute habe er es aber gut gemacht und morgen sei Arbeit ein gar rarer Artikel, so hatte den Ratsherrn über Nacht gerade das Zipperlein geplagt, und er hatte in seiner Schlaflosigkeit so vieles aus Schränken und Mappen hervorgekramt, daß am Morgen der Berg höher lag denn je. Darüber wurde das Schreiberlein fast trübsinnig, und wenn er dann gar in das ernste, graue Gesicht seines Gegenüber sah, in dessen Falten sich der Aktenstaub vieler Jahre niedergesetzt zu haben schien – wenn er sich dann so recht lebhaft vorstellte, daß er in zehn oder zwanzig Jahren auch so ernsthaft dasitzen würde, mit weiter nichts im Kopf als den Wettlauf zwischen Papierberg und Feder – so hätte er am liebsten den Hut vom Nagel gerissen und wäre hinausgelaufen in die weite Welt. Jede Straße wäre ihm recht gewesen, wenn sie nur fortführte von der papierenen Geschäftsstube. Solches zu tun aber verbot sich, denn er hatte niemanden, der für seine Nahrung und Kleidung sorgte, als sich selber. Kein Vater und keine Mutter, kein Verwandtes sah nach ihm; allein mußte er sich sein Essen kochen, allein sein Kleiderwerk flicken; und wenn er in die weite Welt hinausrannte, so wußte er doch, daß er nichts gelernt hatte wie ein bißchen Schreiberei, und die würde auf keiner Amtsstube anders aussehen als auf dieser.

Als er nun an einem recht trüben, dunklen Novembervormittag über dem Schreiben schon dann und wann nach dem Fenster schielte, vor dem die Vögel heischend lärmten – denn es war fast sein einziges Vergnügen, diese seine Freunde um die Mittagsstunde zu füttern –, hob plötzlich sein älteres Gegenüber, der Schreiber Bubo, den Kopf, sah ihn freundlich an und sprach: »Nun, Bruder, öffne schon das Fenster und streue deinen Lieblingen ihr Brot. Auf ein paar Minuten wird es wohl nicht ankommen, so fleißig, wie wir heute waren, und der Herr Asio kommt vor zwei Stunden nicht wieder vom Bürgermeisteramt.«

Höflich, aber ein wenig verwirrt bedankte sich der Schreiber für die ungewohnte Gunst, die ihm der andere in den mancherlei Jahren, da sie einander gegenübersaßen, noch nie gewährt hatte. Und während er das Fenster öffnete und noch immer ganz benommen den Meisen und Spatzen, Amseln und Finken und was sich an Vogelgetier immer an diesen Futterplatz gewöhnt hatte, die Brotbrocken hinstreute, hörte er den andern recht mitleidig sagen: »Oft dauerst du mich sehr, Bruder, wenn ich dich so von morgens bis in die Nacht über deiner Arbeit sehe. Ich bin ein alter Mensch, und mir macht es nichts mehr, aber um dich junges Blut ist es jammerschade!«

Da hatte der andere etwas gesagt, was der Stadtschreiber oft im stillen bei sich gedacht, und eifrig stimmte er nun dem Gefährten zu. Was sie doch für ein gar elendes, aussichtsloses Leben führten, schlimmer noch als die Sklaven bei den Heiden, denn deren Leben sei ihren Herren doch noch eine Summe Geldes wert, während ihrer einer, kaum daß er nur ein wenig krank geworden, in Not und Elend verstoßen und auf der Stelle durch einen andern ersetzt werde.

Der andere hörte dem klagenden Geschwätz gar beifällig zu, nickte mit dem Kopf und fragte dann teilnehmend, ob der Bruder denn niemanden Verwandtes habe, der ihm mit einem freundlichen Zuspruch und einem kleinen Lustgeld für den Sonntag beispringen könnte?

»Nein«, sagte der junge Schreiber. »Von den Spatts, von denen ich mich herschreibe, bin ich der einzige, der noch lebt. – Und so muß ich denn sehen«, setzte er etwas kümmerlich lächelnd hinzu, »daß ich es so weiter treibe, wie es nun einmal läuft.«

So wisse er denn in diesem Punkte wenigstens mehr als der Bruder Spatt, sagte der alte Schreiber listig. Vor ein paar Wochen habe er die Akten in einem Grenzstreit zu bearbeiten gehabt, und der eine von den beiden Bauern, und ein schwerreicher sei es gewesen, habe Spatt geheißen.

Dem Jungen verschlug es zuerst die Rede. Dann meinte er schüchtern, es sei ja möglich, daß sein Name noch da und dorten im Lande vorkomme, aber wenn das wirklich Verwandtschaft sei, sei es so entfernte, daß sie den fremden Hungerleider leicht entbehren werde.

»Im Gegenteil!« rief der andere, und seine großen, gelblichen Augen sahen den Schreiberling recht zauberisch-eindringlich an. »Im Gegenteil!« Ob sich denn der Bruder Spatt nicht mehr entsinne, daß er vor vielen Jahren als ein kleiner Junge einen ganzen Sommer bei diesem Onkel Spatt, der sein Vatersbruder sei, zugebracht habe …? Von dort habe er doch auch erst seine Vorliebe für alles Vogelgetier mitgebracht! Und er zeigte auf das Fensterbrett, wo die Vögel sich um die letzten Brocken stritten.

Dem jungen Mann wurde ganz wunderlich über dem Gerede des anderen. Wie kannst du von mir wissen, was ich selbst nicht weiß, wollte er ihm zurufen. Aber vor dem immer heller leuchtenden gelben Blick wurde es ihm anders. Dunkel regte es sich in ihm, ganz vergessenes Erinnern stieg auf: ein stattliches weißes Haus, mit Wein berankt, erhöht über der Dorfstraße gelegen, breite Steinstufen führten empor, die für das Kind zu hoch waren – der warme, heimliche Geruch eines dunkelnden Stalles – Heuhaufen, größer als ein Bett, auf denen man in jeder Richtung schlafen konnte … War es Traum, war es wirklich Erinnern …?

Lachend hatte unterdes der andere weitergesprochen. Im Sommer sei freilich solch Besuch nicht zu empfehlen, die Bauern wüßten auch, was ein junger Mann zur Erntezeit wert sei, und spannten ihn mehr als ihm lieb ein. Da käme der Bruder Spatt wohl gar vom Regen in die Traufe! Aber jetzt, im beginnenden Winterwetter, sei gerade die rechte Zeit. Da liege der Bauer auf der faulen Haut und esse nur von morgens bis abends prächtig, was ihm die Erntezeit in alle Kammern zugetragen … Der Bruder möge nur nicht säumen, sondern sich eilig zu dem Oheim auf den Weg machen, damit er noch etwas anderes vorfinde als ein abgenagtes Schinkenbein und eine leere Apfeltonne!

Unwillig unterbrach der junge Mann den Redestrom. Was der Herr Bubo sich denke?! Selbst wenn alles wahr sei, was er erzähle – und jetzt dämmere ihm selbst so etwas wie von einem früheren verwandtschaftlichen Besuch –, wie er denn so mir nichts, dir nichts aus Arbeit und Brot entlaufen könne, wer denn hier seine Arbeit tun solle?!

Listig lächelnd hatte ihm der andere zugehört. Was die Arbeit betreffe, so werde sich schon Rat finden lassen. Wer denn dort auf dem Fensterbrett als letzter Gast sitze …? Ärgerlich über diese Narrenspossen, antwortete der junge Mann nur kurz: »Ein Spatz!«

Hähä! Das treffe sich ja vorzüglich, und der Bruder sei auch einer von den Spatts, hähä! – Der Bruder möge nur nicht ärgerlich werden, setzte er begütigend hinzu, dies sei nur ein Witz gewesen, aber ein Witz nicht ohne Sinn.

Er möge doch nur einmal den Gast auf dem Fensterbrett mit dem graubraunen zerflederten Federkleid anschauen und dann sich selbst in dem graubraunen verschabten Röcklein. Sicher sei der eine durch den anderen zu ersetzen, ohne daß der Herr Rat, dessen Augen ohnedies nicht die besten seien, etwas merken werde.

Zornig wollte der junge Mann aufbegehren, aber es ging ihm ganz wunderlich: plötzlich erschien ihm die graue Geschäftsstube wirklich recht wie ein Vogelkäfig, die hölzernen Aktenschränke wie Gitterstäbe, das große Tintenfaß wurde zum Futternapf, und der alte Schreiber mit den gelben Augen sah ganz wie ein riesiger Schuhu aus.

Nun krächzte er auch noch seltsam, durchs Fenster herein kam der ärmliche Spatz gehüpft, grad auf den Stuhl des jungen Schreibers. Er dehnte sich, er wuchs – und nun sah er sich in eigener Person dasitzen. Schon tauchte er, nein, der andere, nein, es war doch er selbst, die Feder ein und schrieb emsig fort, wo er (wer?!) aufgehört.

Das war zuviel für Spatt, mit einem wütenden Schrei wollte er sich auf sein Ebenbild stürzen, aber »Gemach, nur gemach!« sprach beruhigend der Ältere und hielt ihn an seinem Röcklein fest. »Ist denn dein Konterfei nicht vortrefflich gelungen, lieber Bruder? Ich selbst würde ja glauben, du säßest da, wie soll sich da unser trübäugiger Herr Rat nicht täuschen lassen? Nein, alles gelingt vortrefflich, Bruder, du kannst unbesorgt deine Ferienreise antreten. Und, daß ich es dir schon verrate, nicht nur ein vorzügliches Essen wirst du bei deinem Onkel finden, sondern auch eine Base, wie reizender noch keine einem Stadtschreiber aufgewachsen ist.«

Dem Schreiberlein war es wie im Traum. Er klapperte mit den Augendeckeln, zupfte sich an der Nase, riß sich an den Haaren, zwickte sich die Waden, aber es blieb, wie es war: da saß er und schrieb, und genau, wie er es gewohnt war, hob das andere Ich jetzt die Feder hoch, ließ sie einen Augenblick über dem Tintenfaß rasten und nun hinabschießen in die schwarze Flut wie eine Möwe, die auf ein Fischlein stößt. »Aber ich kann doch nicht«, murmelte er ganz verwirrt, »das alles ist doch Zauberwerk!«

»Es ist alles in schönster Ordnung«, beruhigte den verwirrten Jüngling der alte Schreiber, der je länger je schuhumäßiger aussah, »und von verbotenem Zauberwerk kann schon gar nicht die Rede sein. Es ist weiter nichts, lieber Bruder«, sagte er überredend, »als das, was wir Juristen eine Stellvertretung nennen, oder auch die Ersatzlieferung einer gleichwertigen Ware, durch die niemand Schaden erleidet. Der da wird genauso fleißig und gründlich arbeiten wie du. Also frisch auf den Weg! Freilich möchte ich«, setzte er mit einem lächelnden Blick hinzu, »dir nicht grade mit diesen dünnen Schuhchen zu einem Fußmarsch über die grundlosen Landstraßen raten. Aber das haben wir ja auch sehr viel einfacher.« Er ging an den schreibenden Spatz heran, sagte: »Gestatte!« und riß ihm mit einem kräftigen Ruck ein langes Haupthaar aus. »Da!« sagte er. »Wenn du dieses Haupthaar zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand nimmst und ein wenig reibst, verwandelst du dich in einen – nun, sagen wir es geradeheraus: Spatz! Und fliegst auf die angenehmste Weise zu deines Onkels Hof. Du brauchst dich nur immer südlich zu halten, Bruder, bis du auf einem schlanken, schieferblauen Kirchturm einen goldenen Gockel siehst, dort ist das Dorf. Und wo die Linde mit den drei abgestorbenen Ästen vor einem hohen, weißen Hause steht, dort ist der Hof deines Onkels. – Aber hüte dich, Bruder«, setzte er ernst hinzu, »das Haar aus deiner Kralle fallen zu lassen, solange du noch in der Luft schwebest: du stürztest in menschlicher Gestalt mit reißender Schnelle zur Erde nieder! Und hüte dich auch vor den Raubvögeln, gerne stoßen sie auf so ein Spätzchen, wie du eines bist!« Ganz verzaubert starrte das Schreiberlein auf das lange, dunkelblonde Haupthaar in der Hand des anderen. Trotz der letzten unheildrohenden Worte besaß ihn eine sonderliche Lust, einmal doch wenigstens zu versuchen, wie weit sich dieser Spuk treiben lasse. Seine Hand näherte sich dem Haar …

»Es wird hier alles unterdes bestens besorgt werden«, krächzte indessen der gelbe Schuhu weiter. »Und daß ich es nicht vergesse, Bruder, zu jedem Ultimo schicke ich dir pünktlich deinen Stellvertreter mit dem Gehalt hinaus, damit du auch deiner schönen Base einmal ein Kettlein kaufen kannst oder gar ein Ringlein … Da …!«

Vielleicht hatte es die Erwähnung der Base gemacht: des Schreibers Hand hatte sachte das Haar gefaßt, wie von einer geheimnisvollen Gewalt getrieben, war es zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand geglitten, sachte hatten die Fingerkuppen gerieben – und Guntram Spatt fühlte sich schwinden, klein und leicht werden, und nun saß er als jämmerlicher Spatz auf dem Boden der Schreibstube. Wie ein ungeheurer Baumstamm stand vor ihm das grauschwarze Düffelhosenbein des Ältlichen.

»Haben wir uns also doch entschlossen, Bruder«, dröhnte eine ungeheure Stimme aus den Lüften zu ihm, als läute der dicke Peter erzen vom höchsten Kirchturm der Stadt. »Nun, ich wünsche vergnügliche Reise und angenehme Abenteuer!« Damit fühlte sich Spatt nicht eben sanft hochgehoben, auf das Fensterbrett gesetzt, er wollte noch etwas sagen, einwenden, protestieren, aber nur ein schwaches Piep kam aus seinem Schnabel. Das Fenster klirrte hinter ihm zu, und da saß er in schwindelmachender Höhe über der Gasse, die er am Morgen noch ahnungslos entlanggegangen war.

Das war wohl ein seltsames Gefühl! Über die Dächer und Schornsteine, über die Straßen, Gassen und Märkte der Heimatstadt hinwegzusehen, bis weit in den grauen Himmel hinein, mit zwei zarten Beinchen unter sich und zwei schwachen Flügeln im Rücken – und doch fähig, sich höher zu schwingen, weiterzukommen, freier zu sein als je in seinen Menschentagen! Tief unter ihm wimmelten die Mitmenschen mit schleppenden, unbeholfenen Füßen ihre mühseligen Wege; hinter der hohen, steilen, gläsernen Wand in seinem Rücken schufteten sie schon wieder an der nie endenden Fron des Alltags – unser kleiner Spatz aber lüftete seine Flügel und stürzte sich mutig in das Äthermeer hinaus.

Oh, er hatte gedacht, er würde erst das Fliegen lernen müssen, und nun trugen ihn seine kleinen Flügel frei und sicher genau auf den Schornsteinkranz, den er sich zum Ziele gewählt! Da saß er, in der gefiederten Brust schlug das kleine Herz voller Mut und Glück. Tief unter ihm waren die großen Kronen der alten Linden, schon ganz entblättert, die so oft unerreichbar hoch ihm zu Häupten gerauscht. In einer Dachstube, nur ein wenig tiefer als er, saß ein Schneider mit gekreuzten Beinen auf seinem Tisch und stichelte eifrig auf ein Stück Tuch los. Ach, du armer, angebundener Mensch!, dachte der jüngste Spatz der großen Stadt. Nähst dir die Augen trüb oder gar blind, nur um dir die vier engen Wände und den kahlen Tisch zu bewahren! Immer in Angst um Nahrung und Wärme! Wie frei bin da ich!

Hinter den letzten Häusern der Stadt blinkte der große Fluß, Brücken, überwimmelt von Fußgängern und Fuhrwerken, führten über ihn; Herr Spatt brauchte keine Brücke, er spannte seine Flügel aus, und schon war er drüben im Uferwalde.

Nun wird es aber Zeit, daß ich mich nach dem Onkel umsehe, dachte er bei sich. Es knurrt und rumpelt in meinem Magen; mein Mittagbrot habe ich über all den Geschehnissen ungegessen auf der Amtsstube gelassen, und an die Spatzenkost mag ich, so gut mir dieses Dasein sonst gefällt, gar nicht denken. Vorher will ich aber doch noch etwas versuchen.

Er flog hinter ein Eichengestrüpp, das noch genug Blätter auf sich trug, um ihn vor den Blicken etwaiger Neugieriger zu verbergen, öffnete die Kralle und ließ das Haar fallen. Sofort fühlte er, wie sich sein Leib streckte, die schrägstehenden Beinchen wurden gerade und stark, die flachen Flügel wurden zu runden Armen, der spitze, harte Schnabel zu weichen, breiten Lippen – und ein wenig taumelig stand der Schreiber Guntram Spatt wieder auf der lieben Muttererde. Eilig nahm er das Haar in die rechte Hand und lief, noch sehr unbeholfen, zum Wasser hinunter, um sein Spiegelbild auch genau zu prüfen, ob nichts vom Spatzendasein ihm noch anhafte. Befriedigt schaute er in die klare Flut: Insoweit hat der alte Bubo wirklich die Wahrheit gesprochen. Wenn nun beim Onkel das Essen auch so gut und die Base auch so schön ist wie zugesagt, so werde ich einen recht vergnüglichen Winter bekommen.

Schon hatte er das Haar von der rechten in die linke Hand gewechselt, seine Rückverwandlung zu bewerkstelligen, da sah er auf dem Uferweg den alten Herrn Habergreis würdig einherwandeln. Der alte Habergreis war aber ein berüchtigter Geizhals und Wucherer, der schon manchen ehrlichen Mann an den Bettelstab gebracht hatte. Sofort kam dem jungen Schreiber in seiner jetzigen übermütigen Laune ein herrlicher Einfall, wie dem bösen Knicker ein heilsamer Schreck einzujagen sei. Mit verstellt kläglicher Gebärde näherte er sich ihm, und demütig den Hut in der Hand, bat er um eine kleine Gabe, da er vor Hunger fast ohnmächtig sei. Und wie zur Bestätigung seiner Worte fing sein Magen im gleichen Augenblick gewaltig zu poltern und zu kollern an.

Der alte Habergreis sah ihn mit seinen kleinen, geröteten Augen böse von der Seite an und murrte im Vorübergehen, es sei eine Schande, daß jetzt schon Burschen mit gesunden Knochen einem gebrechlichen Mann das letzte Brotknüstlein abfragten.

Damit glaubte er den lästigen Bittsteller los zu sein, aber der junge Spatt lief hurtig nebenher, und von verstellter Demut zu gar nicht verstellter Frechheit übergehend, behauptete er kühnlich, der Aufenthalt der Habergreisischen Schätze sei ihm wohlbekannt, und was jetzt bei Tageslicht nicht gutwillig gespendet werde, gehe wohl nächstens nächtens gegen den Willen des Besitzers auf heimlichen Ausflug. Dem Knicker wurde es gewaltig angst um seine Schätze, aber der Geiz überwog die Vorsicht, und die Taschen mit beiden Händen festhaltend, lief er, angstvoll um Hilfe schreiend, den Uferweg entlang, der ihn in die Nähe von Menschen bringen sollte. Doch ebenso rasch eilte Spatt neben ihm her, seltsamlich hüpfend und mit den Armen vogelhaft wie mit Flügeln schlagend, ließ er nicht ab von dem Alten, und dabei stieß er mit kreischender Stimme die Worte aus: »Rückst du nicht dein Geld heraus, pick ich dir die Augen aus!«

Endlich aber, als schon Menschen in der Ferne auftauchten, rieb er das zauberische Haar zwischen den Fingern und umflatterte nun mit so dringlichem Piep-piep den Kopf des entsetzten Geizhalses, daß der allen Mut verlor, sich ins Gras sinken ließ und stöhnte: »Ich will ja alles tun, was du befiehlst, großer Hexenmeister. Ich will mein Geld unter die Armen verteilen und nie wieder mehr als zehn Prozent Zins nehmen – nur, ich flehe dich an, laß ab von mir!«

Da breitete Herr Spatt wirklich seine Flügel aus, hob sich hoch über die Baumkronen, und hinabsehend auf den Greis, der noch gar nicht an seine Erlösung zu glauben vermochte, dachte er: Hilft es nichts, so schadet es nichts. Und ein wenig sanfter wirst du doch sein in nächster Zeit.

Sein Flug trug ihn dahin über ein unermeßliches, sanft wogendes Meer von Baumkronen, fleißig regten sich seine Flügel, emsig spähten seine Augen, ob wohl schon am Horizont der goldene Gockel aufblinke. Aber immer neue Baumwogen folgten den überflogenen, in stille Waldwiesen sah er hinab, auf denen äsend die Rehe standen; bis auf den Grund klarer Seen schaute er, über den sich, langsam gleitend, große, dunkle Fische bewegten. Er sah auch ein Liebespaar, das, sich umfaßt haltend, still einen Waldsteig hinabschritt; ein Holzweiblein sah er verstohlen in einen Scheiterstoß greifen und den verbotenen Buchenknüppel unter dürrem Reisig auf seinem Wäglein verstecken. Während der Herr Gehender Förster zwei Schneisen weiter fluchend nach ebendiesem Weiblein suchte … Er sah Schulkinder, die gemeinsam singend nach Hause zogen; eine Ziege, die sich verlaufen hatte und kläglich meckmeck schrie, indes doch ihre Herrin suchend immer weiter von ihr fortlief. Er sah einen Langholzwagen, dem im dichtesten Dickicht ein Rad gebrochen war, und der Fuhrmann stand ratlos, abwechselnd fluchend und greinend, daneben; ein Fuchs lief, die fetteste Ente des Herrn Pfarrer im Fang, seinem Bau zu, und ein kleines Mädchen hatte seine mühselige Ernte letzter Brombeeren beim Stolpern aus seinem Körblein verstreut und stand weinend daneben … Er sah aber auch einen Jungen, der seinen Eichkater im Käfig in den Wald getragen hatte und der ihm nun seine Freiheit zurückgab. Oh, wie fröhlich huschte das befreite Tier einen Fichtenstamm hinauf, sah noch einmal mit seinen flinken schwarzen Augen auf den Herrn zurück, sprang noch einmal auf seine Schulter und drückte die Nase zärtlich gegen die Wange des großen kleinen Menschen und tauchte dann unter in dem tausendwegigen Geäst des Waldes …

Oh, wie weit und fröhlich dünkte den fliegenden Herrn Spatt die große Welt und wie voller Leben der weite herbstliche Wald, der ihm früher oft so traurig und öde erschienen.

Fleißig hob und senkte er seine kleinen Flügel, unablässig suchten seine Augen die Landschaft unter ihm ab, und wenn seine Stimme auch nur ein einfaches Piep abgab statt der tausendfältigen Modulationen der menschlichen Zunge, fröhlicher konnte es auch kein Menschenmund sagen, als dieser Vogelschnabel es tat.

Aber plötzlich war es, als rühre den kleinen Spatzen eine Ahnung drohender Gefahr an. Sein Herz zog sich zusammen, sein Flug wurde zögernder, ja sogar das Tageslicht schien grauer geworden zu sein. Noch aufmerksamer spähte er in jede Richtung, hielt sich dicht über den bergenden Baumkronen. Und das war gut – denn plötzlich schwebte es dunkel und lautlos von der einen Seite heran, und nahe funkelnd erblickte er die großen Augen einer Eule … Der Spatz machte ein paar rasche Flügelschläge zur Seite, aber auch von dieser Seite schwebte es dunkel und dräuend heran mit gelben, bösen Augen … Rasch ließ er sich ins bergende Geäst fallen, landete auf einem Zweig, flatterte ihn entlang, bis er geborgen im Astwinkel, dicht an den Stamm gedrückt, dasaß. Er hätte sich ja nun leicht am Stamm hinunterlassen können, auf der Erde angelangt, sich in seine menschliche Gestalt zurückverwandeln und unbelästigt von Eule und Uhu den Weitermarsch antreten können, aber schon brach die Dämmerung herein, und es bestand keine Aussicht, in der Nacht auf düsteren Waldpfaden den Weg zum Onkel zu finden. Zudem plagte ihn eine seltsame Neugierde, zu erfahren, was es mit diesen beiden Raubvögeln, die ihm seltsam bekannt erschienen waren, wohl für eine Bewandtnis habe.

Schon wollte ihm die Wartezeit fast lang erscheinen, da verdunkelte ein großer Fittich den blassen Himmel über ihm, und lautlos heranstreichend setzte sich die große Eule auf den Ast ihm zu Häupten. Einen Augenblick später wurde es noch einmal düster, und nun war auch der finstere Schuhu angelangt. Ein Jammer, daß ich nicht Eulisch verstehe, dachte Herr Spatt bei sich. Was für eine seltsame Unterhaltung würde ich dann wohl jetzt zu hören bekommen!

Aber wie erstaunte er, als er den Uhu in bestem Deutsch mit einer sehr bekannten Stimme sagen hörte: »Ich sage Euch doch, Herr Rat, er wird längst seine Menschengestalt angenommen haben und zu Fuß den Weg zu seinem Onkel machen.«

»Nur Seine Unachtsamkeit ist an allem schuld, Schuhu!« schalt darauf die Eule. »Hätte Er besser in der Amtsstube aufgepaßt, hätte der Bursche nie mit dem Spatzen reden und das zauberische Haar in seinen Besitz bringen können.«

»Aber ich sage Euch doch, hoher Herr Rat«, hörte Herr Spatt den alten Schuhu recht lügnerisch krächzen, »ich habe mit Euerm Klienten nicht länger als drei Minuten gesprochen, und doch war, als ich zurückkam, das Unglück schon geschehen.«

»Und nicht einmal gemerkt hat Er etwas davon, Bubo«, erboste sich die Eule. »Da mußten erst kostbare Stunden vergehen, bis ich kam und alles entdeckte.«

»Bei Tage taugen meine Augen wenig«, entschuldigte sich demütig der Schuhu. »Gestattet, Herr, daß wir jetzt schnell zum Spattschen Hofe fliegen. Da wird sich rasch eine Gelegenheit finden, ihm das Haar zu entreißen und unserer Tante einen warnenden Bescheid zu geben!«

»Und zusammen kommen die beiden Kinder doch«, grollte der Herr Rat. »Nie hätte das geschehen dürfen! – Aber heute nacht können wir doch nicht dorthin, ich muß jetzt sofort zu meinem Freunde Habergreis, den der leichtfertige Bursche ganz von Sinn und Verstand geflattert hat. Morgen will ich dann sehen, was auf dem Spattschen Hofe noch zu retten ist. – Er aber, Schuhu, bleibe hier noch eine Weile auf der Baumspitze sitzen, und paß Er mir gut auf, ob Er den Flüchtling nicht doch noch erspäht! Dann aber fliege Er eilig auf die Geschäftsstube, Er weiß, wir müssen dem hoffärtigen Hintermeyer heute nacht noch ein artig Tränklein aus unseren Akten brauen!«

Dazu lachte die Eule so hämisch, teuflisch, daß dem kleinen Spatz ein eisiger Schrecken durchs Gebein fuhr; in einem ganz anderen Licht erschien ihm plötzlich die Schreiberei, die er harmlos und ohne viel nachzudenken ausgeübt. Und daß sein ehemaliger Brotherr (der es nie wieder sein sollte, so schwor er sich) gerade ein Freund des habgierigen Habergreis und ein Feind des wohltätigen Hintermeyer war, wollte ihm auch wenig gefallen. Zudem klangen ihm die dunklen Anmerkungen über sein Geschick, das so seltsam mit dem der unbekannten schönen Base verknüpft schien, gar nachdenklich in den Ohren, und er hätte gar zu gerne gewußt, wer denn die Tante sei, die auf dem Hof des Onkels mit den eulischen Bösewichten im Bündnis lebe. Doch machte ihm das alles das Herz nicht sehr schwer, er verließ sich auf sein Glück, von dem er heute schon mehrere Proben erlebt zu haben meinte, und auf seinen guten Verstand.

Die Eule war lautlos davongeschwebt, im Geäst oben hatte es ein wenig geraschelt, wohl davon, daß der lügnerische Schreiber Bubo seinen Luginsland bezog, und Herr Spatt wünschte nur, daß dem der erfolglose Ausguck recht bald leid werde, denn bequem saß er nicht auf seinem einen Bein, da er mit dem anderen das Haar halten mußte. Auch brach die Dämmerung immer rascher herein.

»Lieber Bruder!« krächzte es plötzlich von der Tannenspitze her – und Herr Spatt hätte in unsäglichem Schrecken fast das Haar fallen lassen. »Erschrick nicht, ich habe längst den Zipfel deiner graubraunen Jacke unter dem Ast hervorlugen sehen, auf dem wir über dir saßen. Meine Augen sind sehr viel besser, als der Herr Rat wahrhaben will, und jedenfalls sehen sie schärfer als die seinen. – Ja, ich weiß, lieber Bruder, du möchtest mich mancherlei fragen, aber die Kraft des Haares in deiner Kralle ist begrenzt, und du bringst es nicht über ein jämmerliches Piep hinaus. Fliege nur ungescheut los, und in wenigen Augenblicken hast du den Hof des Onkels erreicht. Dort wirst du schon alles zur gegebenen Zeit erfahren, was dir zu wissen not tut, nur merke dir eines: Küssemund ist ungesund!« Und damit erhob sich der große Schuhu, heiser aufkrächzend, in die Luft und flog von dannen, als wisse er recht gut, daß der Bruder Spatt ihm nur halb, nein, gar nicht traute und nie losfliegen würde, solange er noch in der Nähe sei.

Eine kleine Weile saß der Spatz noch geduckt im Baum, dann aber hob er sich in die Lüfte, und mit dem letzten Tagesschimmer flog er eilig nach Süd. Die untergehende Sonne durchbrach noch einmal das dichtgeballte Regengewölk, in der Ferne blitzte es, funkelte es – und nun war der große Wald zu Ende, Wiesen und Felder lagen sanft hingestreckt unter dem Fliegenden, als ruhten sie aus von der Beschwernis des Sommers; der Turmhahn funkelte heller … Mit einem Gruß flog der Spatz an ihm vorbei und überflog erst einmal, Einblick zu gewinnen, das Dorf.

Stattlich lag es da, ein behäbiger Hof neben dem andern, mit den räumigen, weißgetünchten, rotbeziegelten Wohnhäusern, die ererbten und bewahrten Wohlstand bewiesen; mit den langgestreckten Viehställen, aus denen hungrig jetzt die Stimme der nützlichen Insassen klang; mit den sauber geschichteten und getrampelten Dunghaufen, der nächstjährigen Ackernahrung; und mit den hohen Scheunen, die doch noch zu klein für den Erntesegen gewesen waren, denn manche Miete stand noch auf dem Acker. Jeder Hof führte sein Wahrzeichen: hier war es eine Reihe von Kastanien die Dorfstraße entlang, dort hatte ein längst begrabener Bauer Walnüsse angepflanzt, und ihre ungeheuren Kronen rühmten noch heute den Toten. Auf dem First einer Scheune lag ein großes Storchennest; ein anderer aber, dem wohl ein Bruder zur See fuhr, hatte die Barten eines Walfisches als einen Laubengang von der Straße zum Haus gesetzt.

Und hier ragte auch, angezeigtes Wahrzeichen Spattschen Geschlechtes, die stattliche Linde in den Abendhimmel, immer noch stattlich, trotz der drei abgestorbenen Äste. Dicke Eisenbänder um ihren Stamm legten Zeugnis davon ab, daß der jetzige Besitzer nicht willens war, die alte Gefährtin seines Hauses ohne Kampf dem Zerfall zu überlassen. Erhöht über allen anderen Häusern des Dorfes lag der Hof, in enger Nachbarschaft zu Kirche, Pfarrhaus und Schule, an einem kleinen Platz, zu dem sich hier die Straße weitete. Geräumiger noch schien dem Spatzen das Haus, länger die Ställe, höher die Scheunen – und mit einem Gefühl ungekannten Stolzes sah er auf den Hof hinab; mit einer noch nicht erfahrenen, freudigen Erwartung dachte er des kommenden, friedlichen, geruhsamen Winters.

Sorglich spähte er nach einem günstigen Fleck aus, auf dem unbeobachtet die Verwandlung aus einem Federwisch in eine Weißhaut zu bewerkstelligen sei, und er entschied sich für eine Laube, die, halb hinter Büschen verborgen, dunkel und verlassen im Garten an des Onkels Hause stand. Froh nun doch, den weiten Flug vollbracht zu haben, ließ er sich zur Erde hinab, hüpfte in die Laube und wollte gerade das Haar aus der Zehe fallen lassen, als das Geräusch nahender Schritte und Stimmen ihn warnte, noch ein weniges mit der Verwandlung zu warten. Hastig hüpfte er unter die Holzbank, und kaum saß er im dunkelsten Winkel, als die Laube auch schon betreten und die Bank über ihm besetzt wurde. Nun war es ganz dunkel um ihn, denn gegen den einzigen Fleck, der ihm noch ein wenig Helligkeit gespendet, den Laubeneingang, standen jetzt zwei Paar Beine. Hatte der Herr Spatt am Nachmittage bei seinem Fluge über den Wald sich viele Male die Vorteile freien Spatzenblickes vor dem überall verstellten Menschenblick gerühmt, so mußte er nun am Abend noch erfahren, daß sehr wenig dazu gehörte, einen Spatzenblick zu verstellen, nämlich nur ein paar Hosen und ein Frauenrock. Freilich war’s ihm auch wieder ein prickelndes Gefühl, daß er nun die ihm als so schön gerühmte Base nicht händeschüttelnd und von Angesicht zu Angesicht kennenlernen sollte, sondern als ganz ungefährdeter Beobachter bei einer vielleicht verbotenen Heimlichkeit.

»Wir sollten uns hier nicht so setzen«, sprachen mit grober Stimme die Hosen. »Ich muß noch die Pferde tränken und misten, Heu herunterstoßen, Holz in die Küche, Wasser ins Schaff tragen …«

O weh!, dachte der Spatz, das klingt nicht nach Winterruhe. Doch da lachte oben auch schon der Rock silberhell: »Oh, du peinlicher Brummbär, jetzt wird’s Winter, und was heute nicht geschieht, wird morgen getan. – Aber warum ich dich gerufen habe«, setzte sie leiser und geheimnisvoller hinzu, »heute abend oder doch noch in der Nacht kommt Verwandtschaft auf den Hof, man hat mir Botschaft gesandt …«

»Wie kannst du Botschaft haben?!« sprachen verdrossen die Hosen. »Ist doch seit drei Tagen kein Fremdes auf den Hof gekommen.«

»Ach, du Dummer!« lachte der Rock. »Weißt du denn noch immer nicht, daß es eine Post gibt und daß man Briefe schreiben kann?!«

»Wohl, wohl«, klang’s unzufrieden. »Das weiß ich nun auch, daß so ein glattes, dummes Stück Papier sprechen kann. – Aber auch der Briefträger hat sich nicht sehen lassen seit einer Woche. Nein, nein, ich fürchte, du hast dich wieder, trotz deines Versprechens, mit dem bösen Dreibein eingelassen …«

»Wie du nur so reden magst«, sprach das Mädchen unwillig und doch mit listiger Zärtlichkeit. »Versprochen bleibt versprochen, und das alte Zulpmaul mit seinen Eulen, Raben und Elstern ist mir ein rechter Ekel. Nein, höre mir lieber gut zu, es hat alles seine Richtigkeit, was ich dir erzähle, und dich geht es am Ende am meisten an.«

Ob das die Tante ist vom Herrn Stadtrat? überlegte der Spatz unter der Bank. Aber sicher ist, daß die Tochter da über mir hockt. Doch warum sie sich mit solch grobem Klotz abgibt, das verstehe ich nicht. Und der warnende Spruch flog ihm durch den Kopf: Küssemund ist ungesund! »So erzähle schon«, sprachen verdrossen die Hosen zum Rock. »Mir ist ganz, als hörte ich des Bauern Stimme vom Hof.«

»Also, daß Verwandtschaft heute noch kommt, habe ich dir schon gesagt«, sprach eifrig das Mädchen. »Aber was es für Verwandtschaft ist, das weißt du noch nicht. Ein verschollener Neffe und Vetter ist es, ein junges Bürschlein, wie Milch und Blut, aus der Stadt, mit weißen Patschchen wie ein klein Kind und einem braunen Schnurrbärtchen, so zart wie Gänseflaum.«

»Und was geht mich das an?« sprach brummig die grobe Stimme. »Meine Arbeit werden mir die weißen Patschchen nicht abnehmen.«

»Oh, über den langsamen Kopf von euch Männern in Liebesdingen!« rief das Mädchen unwillig aus. »Nein, deine Arbeit im Stall wird dir das Stadtherrchen schon nicht machen, aber neugierig wird es sein, wie deinem Mädchen sein braunes Schnurrbärtchen mundet.«

»Da soll doch der Teufel sich selber küssen!« riefen zornig die Hosen. »Sehe ich ihn nur einmal die Augen süß verdrehen, so gebe ich ihm eins hinter die Löffel, daß er den Doktor holen lassen muß!«

»Nicht doch! Nicht doch!« rief das Mädchen. »Wie du doch immer gleich so grob daherfährst. Gut und in aller Freundschaft wird der verlorene Vetter vom Hof aufgenommen werden, und wenn du dich ihm feindlich stellst, so wird nicht er es sein, den man aus der Türe tut.«

»Sondern wer?« fragten dumm die Hosen.

»Nein, wir müssen fein listig sein und ihm mit verstellter Freundlichkeit entgegentreten – auch du! Auch du!«

»Böh!« machten die Hosen.

»Ja, du kannst es schon, wenn du nur willst. Aber ist er dann ganz sicher und fühlt sich wie das Küken unter der Henne, so kann ja«, flüsterte sie ganz leise, aber die Spatzen hören fein, »so kann ja einmal im Dunkeln eine Bodenluke offenstehen, oder Langholz kann vom Wagen zurückrollen, oder eine Wand in der Sandgrube gibt nach …«

»Hast du doch mit der alten Tratschen geratscht!« sprachen die Hosen böse und sprangen mit einem Ruck auf. »Das ist Stank aus ihrem Gifttopf, wie er auch den Bauern krank macht – das rieche ich!«

»Aber höre doch …!« rief fliegend das Mädchen.

»Nein, nun gehe ich zu den Pferden. – Angst brauchst du nicht zu haben, verraten tue ich dich nicht, und helfen tue ich ihm auch nicht, und wenn er denkt, er kann hier scharmutzieren, so bekommt er es mit mir zu tun – aber Gift aus dem Sudeltopfe, nein!«

Und damit ging er endgültig fort und ließ das Mädchen zwischen Weinen und Zorn zurück. »Oh, der Tölpel, der Dummkopf!« schalt sie, und noch im Schelten klang ihre Stimme so süß, daß des Spatzen Herz zitterte. »Du törichter Starrsinn – na, warte du!«

Nun ging auch sie aus der Laube, und der Spatz blieb allein in einem Zustand höchsten Erstaunens und tiefster Verwirrung. Mancherlei an dem belauschten Gespräch wollte ihn recht seltsam bedünken, aber jetzt war keine Zeit für langes Nachsinnen. So sehr drängte es ihn, die schöne, mörderische Base, den vergifteten Onkel, das widrige Dreibein, den groben Knecht von Angesicht zu sehen. Rasch ließ er das Haar fallen und fuhr kräftig mit dem Kopf gegen die erbebende Laubenbank, denn in seinen Gedanken hatte er ganz vergessen, vor seiner Verwandlung unter ihr hervorzutreten.

Sich den Schädel, auf dem schon eine stattliche Beule zu wachsen begann, reibend, trat er ins Freie, rückte sein Röckchen zurecht und ging klopfenden Herzens auf das Haus zu.

Zweites Kapitel

»Ein stattlicher Mann in der Tat,

und auch korpulent.«

Shakespeare,

»König Heinrich der Vierte.«

E