cover
  Anneli Klipphahn– Die Sonne ist die Sonne und damit basta!– Vorlesegeschichten aus dem Winkelwald

ISBN 978-3-417-22877-9 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books, Leck

© 2017 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten

Das Kapitel „Knubbi” wurde in gekürzter Fassung zuerst veröffentlicht im RAABE Fachverlag für die Schule.

Gesamtgestaltung: Christoph Möller, Hattingen

Inhalt

Kuni will nicht warten

Die Entscheidung der Eule

Die Sonne ist die Sonne

Graulöckchen macht es anders

Die meckernde Meta

Das Geheimnis des Loblieds

Wurzi will nicht

Was kann Rosinchen helfen?

Ninchen und das Nein

Die große Reise

Der Hase Hubert und die Raupe

Die Freiheit der Lerche:

Elmondo schleppt

Die Nuss

Knubbi

Das neue Kleid

Der Tunnel

Das Plingding

Die Schatzkiste

Esmeralda – eine einsame Elster

Stichwortregister

Bibelstellenregister

Kuni will nicht warten

Neugierig spähte Kunibert, das Känguru, aus dem Beutel seiner Mutter. Ach, was es da draußen alles zu entdecken gab! Die Sonne schickte ihre hellen, warmen Strahlen zur Erde. Die grünen Blätter der Bäume nickten ihm freundlich zu. Blumen in den verschiedensten Farben lockten mit ihrem Duft.

Besonders der Geruch der würzigen Kräuter ließ Kuni das Wasser im Mäulchen zusammenlaufen. Und als er den Blick über die große Wiese wandern ließ, zuckte es in seinen Beinen. Er zupfte seine Mutter am Bauch und bettelte: „Bitte, Mama! Lass mich heute aus dem Beutel springen!“

„Heute noch nicht“, entgegnete die Mutter. „Hab noch ein bisschen Geduld, mein Kleiner. Bald kannst du springen, so viel du möchtest.“

„Wann ist denn bald?“, fragte Kuni.

„Bald ist nicht mehr lange. Einige Tage musst du noch warten.“

„Aber das dauert noch sooo lange! Bitte, Mama!“, bettelte Kuni.

Die Mutter schüttelte den Kopf. „Da draußen ist es gefährlich für kleine Kängurus. Warte, bis die Zeit gekommen ist.“

Kuni drängelte weiter: „Ich will doch nur schnell mal über die Wiese springen! Nur ein einziges Mal!“

„Nein, Kunibert!“, sagte die Mutter streng.

Da traute sich das kleine Känguru nicht mehr, weiter zu betteln. Denn wenn Mama Kunibert sagte, meinte sie es ernst.

Am nächsten Tag wurde Kuni durch laute Freudenrufe aufgeschreckt. Er richtete sich auf, lugte aus dem Beutel und entdeckte ein anderes Kängurukind. Fröhlich sprang es auf der Wiese herum und jubelte: „Ach, wie ist das Leben schön! Ach, wie ist das Leben schön!“

„Hallo“, rief Kuni. „Hallo du!“

Das Känguru blieb stehen und schaute sich um.

„Ich bin hier!“ Kuni wedelte mit den Vorderpfoten. „Hier, im Beutel meiner Mutter!“

Als das andere Känguru Kuni erblickte, hopste es auf ihn zu. „Hey du! Hast du mich gerufen?“

„Ja, das habe ich“, antwortete Kuni. „Ich möchte gern wissen, wie du heißt!“

„Ich bin Winni.“ Das andere Känguru schlug sich an die Brust. „Heute hat meine Mama mir erlaubt, das erste Mal allein herumzuspringen. Es ist wunder-wunderschön hier draußen! Komm und spiel mit mir!“

image

Bevor Kuni antworten konnte, schüttelte seine Mama so heftig den Kopf, dass Kuni in seinem Beutel hin und her geschaukelt wurde. „Nein! Kunibert darf noch nicht hinaus. Seine Zeit ist noch nicht gekommen.“

„Aber das dauert sooo lange, bis die Zeit vergeht“, jammerte Kuni erneut.

Winni hopste ganz nah an Kuni heran und flüsterte: „So sind die Mamas alle. Was meinst du, wie lange ich warten musste, bis ich endlich aus dem Beutel herausdurfte!“

Obwohl Winni in Kunis Richtung geflüstert hatte, schien Mama jedes Wort verstanden zu haben. Sie strich über Kunis Kopf und erklärte: „Alles im Leben hat seine Zeit. Mamas wollen ihre Kinder beschützen. Das machen sie, weil sie ihre Kinder lieb haben. Es ist gut, wenn du lernst, Geduld zu haben.“

Winni zwinkerte Kuni zu. „Sei nicht traurig! Bestimmt dauert es nicht mehr lange, bis du herauskannst! Wollen wir Freunde sein?“

„O ja!“, freute sich Kuni. „Besuchst du mich morgen wieder?“

„Klar komme ich morgen wieder! Morgen um die gleiche Zeit.“ Winni hopste von einem Bein auf das andere. „Und übermorgen auch. Und über-übermorgen auch. Immer und immer wieder, bis du mit mir herumspringen darfst. Aber jetzt kann ich meine Beine nicht mehr stillhalten. Mach’s gut, Kuni, bis morgen!“

Noch bevor Kuni antworten konnte, sprang das andere Känguru in großen Sätzen davon.

Da kuschelte sich Kuni gemütlich in Mamas Beutel zurecht und seufzte: „Ich habe einen Freund. Und morgen kommt er wieder. “

„Hat man so etwas schon gehört?“, murmelte die Mutter. „Ein Känguru, das einen Freund hat, bevor es auch nur drei Sprünge gehopst ist?“

Nachdem Kuni eine Weile geschlafen hatte, erwachte er und steckte seinen Kopf aus dem Beutel. Er blickte sich um und murrte: „Ich möchte bloß wissen, wo Winni bleibt. Mein neuer Freund hat doch versprochen, dass er mich bald wieder besuchen kommt. Aber weit und breit ist kein Winni zu sehen.“

„Morgen“, antwortete die Mutter. „Er hat gesagt, er kommt morgen wieder. Jetzt ist noch nicht morgen, jetzt ist noch heute. Warte, bis die Zeit gekommen ist.“

„Ich frage mich, warum das so lange dauert“, schimpfte Kuni. „Immer soll ich warten, bis die Zeit gekommen ist. Die Zeit scheint ja eine ganz schöne Bummeltante zu sein. Muss man sich denn von der Zeit alles gefallen lassen? Warum muss man immer warten, warten, warten?“

„Warten heißt nicht, dass du untätig herumsitzen musst. Ich will dir sagen, wie du dir die Zeit vertreiben kannst.“ Die Mutter sprang zu einem Busch. „Diese Blätter kannst du fressen, sie hängen genau in der richtigen Höhe für dich.“

Tatsächlich war er dem Strauch jetzt so nahe, dass ihn die Blätter an der Nase kitzelten. Kuni musste niesen. Dann zupfte er ein Blatt ab, zerkaute es und schluckte. „Das schmeckt nicht schlecht. Aber was muss ich noch tun? Wie kann ich die Zeit besiegen?“

Mama antwortete nicht gleich, denn sie war dabei, einen zarten, saftigen Zweig aufzufressen.

„Soll ich vielleicht boxen?“, fragte Kuni und schwang seine Fäuste. „Komm her, Zeit, ich will dich vertreiben! Komm schon, zeig dich!“

„Lass das, Kuni!“ Mama umfing ihn mit ihren Vorderbeinen. „Du kannst nicht gegen die Zeit kämpfen. Du kannst sie nur nutzen.“

Kuni boxte in die Luft. „Aber du hast doch gesagt, ich soll sie vertreiben?“

„Das ist nur so eine Redensart. Es bedeutet: Wenn du etwas tust, dann hast du das Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht. In Wahrheit vergeht die Zeit immer gleich schnell.“

Mama ließ ihn wieder los und Kuni zupfte ein weiteres Blatt ab.

Anschließend beobachtete er einen Käfer, der surrend davonflog. „Mama? Wie wäre es, wenn wir beide jetzt ganz schnell und ganz weit springen? Schneller und weiter, als dieser Käfer fliegen kann?“

Die Mutter schüttelte den Kopf. „Ganz schnell und ganz weit springe ich nur, wenn ein besonderer Grund dafür vorliegt.“

Kuni klatschte in die Pfoten. „Dieser besondere Grund liegt jetzt vor! Wir springen ins Morgen! Und schon treffe ich meinen Freund wieder!“

„Niemand kann ins Morgen springen, Kunibert!“, erklärte die Mutter. „Und jetzt will ich nichts mehr davon hören! Friss dich satt und hab Geduld.“

Zur versprochenen Zeit kam Winni wieder und berichtete begeistert von all dem Neuen, das er erkundet hatte. Auch am nächsten Tag besuchte er Kuni und an den folgenden Tagen.

Nach acht langen Tagen war es endlich so weit: Kuni durfte das erste Mal aus dem Beutel der Mutter hopsen! Er sprang mit Winni über die Wiese und schließlich in den Wald hinein, wo Winni ihm einige seiner Freunde vorstellte: ein Kaninchen, einen jungen Koalabär, eine Maus und einen Hirsch.

Ausgelassen hüpfte Kuni von einem zum anderen. „Ihr sollt meine Freunde sein! So viele Freunde!“

Der Hirsch wiegte bedächtig den Kopf hin und her.

„Was machst du da?“, fragte Kuni. „Warum schaukelst du deinen Kopf, als säße darauf ein Hirschbaby, das du in den Schlaf wiegen willst?“

„Das heißt: Wir werden sehen“, röhrte der Hirsch.

„Ja, wir werden sehen“, piepste die Maus. „Wir müssen dich doch erst einmal kennenlernen.“

Kuni blieb stehen und ließ die Vorderbeine hängen. „Aber … aber ich verstehe nicht … Winni ist doch mein Freund … und euer Freund ist er auch … Da könnt ihr doch auch meine Freunde sein?“

Das Kaninchen zuckte mit der Nase. „Man merkt, dass du noch sehr jung bist. Du solltest vorsichtig sein.“

Die Maus hob belehrend das Pfötchen. „Du kannst nicht jedem einfach so deine Freundschaft anbieten. Es gibt Tiere, die so etwas ausnutzen. Nimm dich in Acht vor dem Fuchs, der Schlange und dem Dingo.“

Ratlos schaute Kuni die anderen an. „Und wie merke ich, wer ein guter Freund sein kann?“

„Freundschaft braucht Zeit“, röhrte der Hirsch. „Hab Geduld, kleines Känguru. Mit der Zeit wirst du alle Bewohner unseres Waldes kennenlernen. Du wirst selbst herausfinden, wem du trauen kannst und wem du lieber aus dem Weg gehen solltest.“

Da ließ Kuni den Kopf hängen und seufzte: „Das dauert bestimmt ziemlich lange. Ich dachte, man findet schneller Freunde.“

Winni hopste an seine Seite und klopfte ihm auf die Schulter. „Einen Freund hast du ja schon mal. Und jetzt hüpfen wir weiter. Ich möchte dir noch mehr Tiere vorstellen. Sie sind Kängurus wie du und ich.“

Kuni schlug die Pfötchen zusammen. „Kängurus, sagst du? Das ist ja super! Vielleicht finde ich dort schnell neue Freunde.“

Eilig sprangen sie zu den anderen Kängurukindern. Nachdem Winni ihnen seinen neuen Freund vorgestellt hatte, schlug ein Kängurumädchen vor: „Lasst uns um die Wette hüpfen! Wer zuerst an dem großen Busch dort drüben ist!“

Kuni hopste, so schnell er konnte, aber trotzdem kam er als Letzter am Ziel an.

„Und nun üben wir uns im Hochsprung!“, sagte ein Junge, der ziemlich lange Beine hatte.

Kuni nahm Anlauf, ging in die Hocke und sprang, so hoch er konnte, doch leider hüpften die anderen viel höher als er.

Als schließlich ein kleiner, kräftiger Bursche rief: „Jetzt wollen wir boxen! Wer ist der Stärkste?“, zog Kuni sich unter einen Baum zurück und schaute nur noch zu.

Nach einer Weile kam Winni zu ihm und legte ihm eine Pfote auf die Schulter. „Sei nicht traurig, du musst das alles noch üben.“

„Üben, sagst du!“ Kuni schob die Unterlippe vor, verschränkte die Arme vor der Brust und stampfte auf. „Ich werde nie so gut springen und boxen können wie die anderen!“

„Doch, das wirst du“, entgegnete Winni. „Du musst nur fleißig trainieren und etwas Geduld haben.“

Während Winni ihm weiter gut zuredete, entdeckte Kuni ganz in ihrer Nähe ein Geschöpf mit einem sehr merkwürdigen Gesicht. Er zuckte zusammen und spürte, wie sein Herz schneller schlug.

image

„Das ist …“, sagte Winni, aber Kuni ließ ihn einfach stehen, flüchtete zurück zu seiner Mutter und versteckte sich in ihrem Beutel. Winni folgte ihm und erklärte: „Du bist vor einem Schnabeltier davongelaufen. Schnabeltiere sind nicht gefährlich.“

„Aber dieses Wesen sah grässlich aus“, jammerte Kuni. „Hattest du denn keine Angst?“

Winni lachte. „Aber nein! Ein Schnabeltier tut keinem Känguru etwas zuleide. Ich wollte dir Schnabelina vorstellen, doch du hast gar nicht auf mich gehört. Na gut, morgen weißt du es. Ruh dich jetzt aus; morgen komme ich wieder.“

Nachdem Winni davongesprungen war, sagte die Mutter: „Ach Kunibert, du musst noch viel lernen. Es gibt viele Geschöpfe, die nicht schön aussehen und trotzdem ein gutes Herz haben. Und es gibt andere, die kuschelig und freundlich erscheinen, aber sehr gefährlich sind. Hab Geduld, mein Sohn, mit der Zeit wirst du sie alle kennen. Bis dahin ist dir der Platz in meinem Beutel sicher.“

Erschrocken schaute Kuni in Mamas Gesicht. „Was heißt das: bis dahin? Was meinst du damit? Kann ich nicht immer in deinen Beutel flüchten, wenn ich Angst habe?“

Mama strich ihm über den Kopf. „Wenn die Zeit gekommen ist, bekomme ich ein neues Baby. Dann kannst du nicht mehr in meinen Beutel zurückkehren. Aber mach dir darum jetzt keine Sorgen, denn alles geschieht zur rechten Zeit. Du wirst dann selbstständig sein. Und du wirst gar keine Lust mehr haben, in den engen Beutel zurückzuklettern.“

„Wenn das so ist, möchte ich die Zeit jetzt am liebsten anhalten“, jammerte Kuni. „Ich will immer bei dir bleiben! Immer!“

Mama streichelte ihn weiter. „Das sagst du jetzt, weil du dir das Morgen noch nicht vorstellen kannst. Hab keine Angst, mein Sohn, und vertrau mir. Alles im Leben hat seine Zeit.“

Warum muss Kuni noch warten, bis er endlich aus dem Beutel springen darf?

Wann fällt es dir schwer, Geduld zu haben?

Wann möchtest du die Zeit am liebsten anhalten?

Die Entscheidung der Eule

Eugenia, die Eule, zwinkerte müde in den Sonnenaufgang. Die ganze Nacht über hatte sie den Winkelwald bewacht. Nun wollte sie schlafen.

Da fing unter ihrem Baum jemand an herumzuschreien. Eugenia erkannte die Stimme des Eichelhähers. Er kreischte: „Das Eichhörnchen muss bestraft werden! Es hat meine größten Eicheln geknackt.“

Auf einmal spektakelten viele Stimmen durcheinander. Um besser sehen und hören zu können, flog die Eule auf einen Ast des Nachbarbaumes.

Meine Eiche! Meine Eicheln!“, schrie der Eichelhäher immer wieder.

Ein Papagei, den die Eule nicht kannte, krächzte: „Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen.“

„Aber warum denn?“, fragte ein kleiner Hase. „Warum soll ein Eichhörnchen den Eichen weichen?“

Der Eichelhäher zeterte: „Ich spreche nicht von allen Eichen. Ich spreche von meiner Eiche und meinen Eicheln!“

Das Eichhörnchen saß zitternd auf einem Ast und schaute mit großen Augen den Eichelhäher an. „Aber ich wusste doch gar nicht, dass es deine Eicheln sind!“

Der Eichelhäher spreizte seine Flügel, als wollte er den ganzen Wald festhalten. „Ich sitze fast immer auf diesem Baum. Also ist es mein Baum. Und was auf meinem Baum wächst, gehört mir. Das ist ja wohl klar.“

Der Papagei nickte. „Was klar ist, muss klar bleiben.“

„Schlauschwätzer“, murmelte Eugenia. „Richtig heißt es: Was wahr ist, muss wahr bleiben.“

Aber da die anderen Tiere weiterspektakelten, hörten sie die Eule nicht.

Die Elster schnarrte: „Niemand darf einem anderen Tier sein Fressen wegnehmen. Das ist das Gesetz unseres Winkelwaldes.“

„Das stimmt!“ Der Maulwurf schaufelte eine Klaue voll Erde zur Seite. „Wo kämen wir denn hin, wenn jeder jeden beklauen würde.“

image

„Schlechte Beispiele verderben gute Sitten“, rief der Papagei.

Eine Kröte quakte: „Ich fresse keine Eicheln. Aber das Gesetz des Winkelwaldes muss eingehalten werden. Ich habe mir ja gerade hier eine Wohnung gesucht, weil ich mich hier sicher fühle.“

„Gesetz ist Gesetz, da beißt die Maus keinen Faden ab“, krächzte der Papagei.

„Warum sollte ich einen Faden abbeißen?“, piepste eine kleine Maus. „Hier ist doch gar keiner!“

Der Papagei plusterte sich auf. „Wer sucht, der findet.“

„Was redet ihr da!“, schimpfte der Eichelhäher. „Wir brauchen keinen abgebissenen Faden, sondern Gerechtigkeit! Das Eichhörnchen muss bestraft werden.“

Der Papagei nickte. „Was man sich eingebrockt hat, muss man auch auslöffeln.“

Nun wandte sich Frau Reh an den Papagei: „Darf ich mal fragen, wer Sie sind?“

„Fragen kostet nichts“, erwiderte der bunte Vogel und verbeugte sich. „Papagei mein Name.“

„Sie sind aber nicht in unserem Wald ansässig, oder?“, fragte Frau Reh weiter.

„Ruhe jetzt!“ Der Eichelhäher machte mit dem Flügel eine Bewegung, als wollte er die Frage von Frau Reh wegwischen. „Das tut jetzt nichts zur Sache. Wir sollten zur Tat schreiten und die Übeltäterin bestrafen.“

„Besser spät als nie“, krächzte der Papagei.

Der Eichelhäher räusperte sich. „Herr Papagei! Zwar habe ich Sie hier in unserem Wald noch nie gesehen, aber Sie scheinen ein kluger Vogel zu sein. Welche Bestrafung schlagen Sie vor?“

Da wurde es der Eule zu viel. Sie flog auf einen der unteren Äste und befahl: „Uhu, uhu, ich verlange jetzt Ruh!“

Erschrocken wichen die Tiere zurück und blickten zu der Eule hinauf. Jeder mochte Eugenia, denn sie setzte sich stets für die Bewohner des Winkelwaldes ein. Weil sie klug und gerecht war, hatte man sie einstimmig zur Richterin gewählt.

Frau Reh verneigte sich. „Guten Tag, Eugenia.“

Der Eichelhäher schnarrte: „Gut, dass du da bist, Hüterin der Gesetze. Das Eichhörnchen …“

„Uhu!“, unterbrach Eugenia den Eichelhäher. „Spar dir deine Reden! Ich weiß, was hier vorgeht! Ihr habt laut genug spektakelt und mich am Schlafen gehindert.“

Einige Tiere schauten betroffen zu Boden.

Eugenia blickte streng in die Runde. Dann deutete sie mit ihrer Flügelspitze auf den Eichelhäher. „Willst du einen bunten Vogel zum Richter machen? Soll dieser Papagei etwa entscheiden, was mit einer unserer Schwestern geschieht?“

Bevor der Eichelhäher antworten konnte, richtete sich der Papagei stolz auf und plapperte: „Ehre, wem Ehre gebührt.“

„Ruhe!“ Die Eule funkelte ihn an. „Behalte dein Papageienpapperlapapp für dich!“

Der bunte Vogel öffnete den Schnabel, um etwas zu erwidern, doch der Eichelhäher rief: „Still! Eugenia ist unsere Richterin.“

„Ja, das ist sie.“ Der Hase nickte heftig. Seine Löffel flogen vor und zurück, als wollte er damit einen Schwarm Stechmücken vertreiben. Dann zeigte er auf den Papagei. „Dieser Vogel kennt uns doch gar nicht, und was er sagt, hilft uns nicht weiter. Er plappert nur nach, was er irgendwo mal gehört hat.“

Mit gesenktem Kopf erklärte der Papagei: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“

„So wähle das Gold!“, befahl die Eule. Anschließend bat sie das Eichhörnchen, auf den Ast zu klettern, auf dem sie saß.

Nachdem das Eichhörnchen dieser Aufforderung gefolgt war, wisperte es ihr zu: „Ich wollte wirklich niemanden bestehlen. Ich dachte immer, das alles hier gehört uns allen.“

Eugenia nickte beruhigend und deutete mit ihrer Flügelspitze auf den freien Platz unter ihrem Baum. „Uhu! Jeder, der noch nie im Leben etwas gefressen hat, was ihm nicht gehört hat, soll sich jetzt dorthin stellen.“

Die Tiere blickten sich ratlos an. Einige schüttelten die Köpfe.

„Uhu! Ich wiederhole: Wer von euch hat noch nie etwas gefressen, was ihm nicht gehört hat?“

„So ein Tier gibt es nicht“, antwortete Frau Reh. „Jeder von uns ist auf das angewiesen, was Gott täglich wachsen lässt.“

„Das ist wahr“, murmelten einige.

Der Hase hopste von einem Bein auf das andere und erklärte: „Niemand kann nur von dem leben, was ihm allein gehört.“

Eugenia nickte. „Ich will euch eine weitere Frage stellen: Wer von euch ist sich ganz sicher, dass er noch nie etwas genommen hat, das ein anderer als sein Eigentum betrachtet hat?“

Wieder schauten sich alle an und schüttelten die Köpfe.

Da fragte die Eule weiter: „Meint ihr noch immer, ihr hättet das Recht, das Eichhörnchen zu bestrafen?“

Erneut schüttelten alle die Köpfe.

„Uhu!“, rief Eugenia. „Damit wäre das geklärt.“ Dann wandte sie sich an das Eichhörnchen. „Und du schaust dich in Zukunft erst einmal um, bevor du dir einfach nimmst, was dir gefällt.“

Das Eichhörnchen nickte mehrmals hintereinander. „Ja, das mache ich. Danke, Eugenia!“

„Uhu. Nun will ich endlich schlafen.“ Damit breitete die Eule ihre Flügel aus und flog zurück zu ihrem Schlafplatz.

Woran merkst du, dass Eugenia klug und gerecht ist?

Hast du dich auch schon mal gefühlt wie das Eichhörnchen?

Was lernen die anderen Tiere von Eugenia?

Die Sonne ist die Sonne

Es geschah an einem dieser trüben Tage im Herbst. Karli, ein junges Kaninchen, hatte schon einen weiten Weg zurückgelegt. Nun beschloss er, eine Pause zu machen. Er setzte sich unter eine Rotbuche und verspeiste ein Blatt vom Breitwegerich.

Auf einmal landete etwas Hartes auf seinem Kopf. Während Karli unter dem Baum hervorsprang, hörte er eine Stimme: „Entschuldigung! Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich wollte dich nicht erschrecken. Das ist mir aus Versehen passiert!“

Karli blieb stehen und suchte mit seinen Blicken die Äste des Baumes ab. Schließlich entdeckte er über sich ein Eichhörnchen.

„Ich heiße Emmy“, stellte sich das Eichhörnchen vor. Dann deutete es auf eine Frucht des Baumes. „Diese Bucheckern schmecken nach Sonnenstrahlen. Ich kann gar nicht genug davon bekommen. Aber wenn ich gewusst hätte, dass du da unten hockst, hätte ich natürlich die Schalen nicht einfach fallen gelassen.“

„Hallo Emmy! Ich bin Karli.“ Das Kaninchen hob sein Pfötchen und winkte. „Ich habe mal eine Frage: Welchen Geschmack haben Sonnenstrahlen?“

„Ähm … also … ach …“, stotterte das Eichhörnchen und kratzte sich am Kopf. „Also, ich kann dir das schwer erklären. Das ist so eine Redensart, die ich von meiner Tante übernommen habe.“

Karli hopste ein Stück näher an den Baum heran. „Du meinst wohl damit, dass dir diese harten Dinger mächtig gewaltig schmecken?“

Mächtig gewaltig?“ Das Eichhörnchen schwang sich auf einen tiefer liegenden Ast. „Woher hast du denn diese Wortnuss?“

„Das ist eine lange Geschichte“, seufzte das Kaninchen. „Weißt du, ich wohne eigentlich bei den Menschen. Der Ferdinand – das ist das Kind der Familie – ist mein Freund. Und der Ferdinand …“

„Also, das erzählst du mir lieber ein anderes Mal.“ Emmy winkte ab und angelte nach der nächsten Buchecker. „Wenn ich rede, kann ich nicht knabbern. Und wenn ich nicht knabbere, kann ich nicht fressen. Und das wäre doch schade, da hier die … die … mächtig waldigsten Bucheckern wachsen.“

„Das heißt nicht mächtig waldig, das heißt mächtig gewaltig“, verbesserte Karli. „Dieses Wort verwendet der Ferdinand immer, wenn ihm etwas richtig gut gefällt. Oder wenn ihm das Essen schmeckt. Aber in letzter Zeit hat ihm gar nichts geschmeckt. Der Ferdinand ist nämlich krank und …“

„Erzähl es mir ein anderes Mal“, unterbrach Emmy das Kaninchen erneut, zupfte eine neue Buchecker ab und betrachtete sie von allen Seiten.

„Na gut“, seufzte Karli. „Aber eine Frage habe ich noch. Wenn du schon nicht beschreiben kannst, wie Sonnenstrahlen schmecken, so kannst du mir vielleicht sagen, wo ich die Sonne finde.“

Da Emmy damit beschäftigt war, an der Buchecker zu knabbern, antwortete sie nicht gleich.

Deshalb sprach Karli weiter: „Wie ich schon sagte, ist der Ferdinand krank. Als ich überlegt habe, wie ich ihm helfen könnte, ist mir eingefallen, dass Ferdinands Mama immer gesagt hat: ‚Geh in die Sonne, das ist gesund.‘ Aber jetzt ist er krank und kann nicht zur Sonne gehen. Und da dachte ich, wenn er nicht zur Sonne gehen kann, muss eben die Sonne zu ihm kommen. Ja, sie muss kommen und ihn gesund machen. Aber ich weiß gar nicht, wo ich die Sonne finden kann, und …“

„Wasch? Du schuchscht alscho die Schonne?“ Weil das Eichhörnchen mit vollem Mund sprach, klang das S wie ein Sch.

Karli kratzte sich am Ohr. „Ja, deshalb bin ich von Ferdinand weggehoppelt. Und nun weiß ich nicht, wo ich die Sonne suchen soll.“

„Warte!“ Emmy schluckte ihren letzten Bissen hinunter und warf die Schale der Buchecker weg. Dann eilte sie den Stamm hinab und verkündete: „Ich komme mit. Ich will die Sonne auch kennenlernen. Denn ich habe gehört, dass von der Sonne alles Leben kommt. Ohne Sonne wächst kein Baum. Und ohne Baum gibt es keine Früchte. Ohne Früchte kein Essen und ohne Essen kein Leben.“

Emmy hob belehrend das linke Pfötchen. „Jedenfalls hat das meine Mama gesagt. Und meine Mama ist sehr klug.“ Nun zuckte das Eichhörnchen mit den Schultern. „Aber leider hat sie mir nicht gesagt, wo die Sonne wohnt.“

mächtig gewaltig