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Meike Schwermann

Schmerzmanagement bei chronischen Schmerzen

Leitfaden für die Pflegepraxis

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030887-9

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-030888-6

epub:   ISBN 978-3-17-030889-3

mobi:   ISBN 978-3-17-030890-9

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Inhalt

 

 

  1. Einleitung
  2. 1 Ethische und gesetzliche Rahmenbedingungen
  3. 2 Schmerz und Schmerzerleben bei Chronifizierung
  4. Pathophysiologie und Psychologie der Chronifizierung
  5. Neuropathische Schmerzen
  6. Viszerale Schmerzen
  7. Kreuzschmerzen
  8. Nackenschmerzen
  9. Kopf- und Gesichtsschmerz
  10. Chronischer Unterbauchschmerz bei Frauen
  11. Chronisches Schmerzsyndrom des kleinen Beckens
  12. Osteoarthritis, Rheumatoide Arthritis
  13. Fibromyalgiesyndrom
  14. Tumorschmerzen
  15. 3 Stadieneinteilung der Schmerzchronifizierung
  16. 4 Krankheitskonzepte in Bezug auf die Chronifizierung von Schmerzen
  17. Das bio-psycho-soziale Modell
  18. Das »total pain« Konzept
  19. 5 Ziele des Schmerzmanagements bei chronischen Schmerzen
  20. 6 Schmerzerfassung bei stabiler und instabiler Schmerzsituation
  21. Das initiale Assessment
  22. Das differenzierte Assessment chronischer Schmerzen
  23. Multimodales Assessment
  24. 7 Multimodale Förderung des Empowerments der Betroffenen
  25. 8 Information, Schulung und Beratung von Patienten mit chronischem Schmerzerleben
  26. 9 Einbindung von pflegerischen Schmerzexperten in die Versorgung
  27. 10 Multiprofessionelle Umsetzung der medikamentösen und nicht-medikamentösen Schmerztherapie
  28. Medikamentöse Therapie bei nicht-tumorbedingten Schmerzen
  29. Management medikamentöser Nebenwirkungen
  30. Nicht-medikamentöse Maßnahmen
  31. 11 Evaluation der Maßnahmen
  32. 12 Verbesserungspotentiale für die Versorgungssituation in Deutschland
  33. Literatur
  34. Anhang
  35. Der Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen

 

Einleitung

 

 

Chronische Schmerzen bedeuten für die Betroffenen häufig eine tiefgreifende Einschränkung. Ihr Alltag kann geprägt sein durch Isolation, Angst, Bedrohung, Stress und der mühsamen Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an Lebensaktivität. Menschen mit chronischen Schmerzen haben in vielen Fällen lange Leidensgeschichten hinter sich, die durch eine Unter- oder Fehlversorgung im Gesundheitswesen geprägt sind.

Die Aussagen über die Häufigkeit chronischer Schmerzen in Deutschland basieren nach der Deutschen Schmerzliga e. V. (2013, S. 3) bislang auf Studien aus anderen westlichen Industrienationen und internationalen Analysen, die teilweise auch deutsche Untersuchungen berücksichtigen. Etwa 12 bis 15 Millionen Menschen in Deutschland – bis zu einem Viertel der Bevölkerung – leiden demnach unter chronischen, länger andauernden oder wiederkehrenden Schmerzen. Ein Drittel dieser Patienten, etwa fünf Millionen, sind stark beeinträchtigt in ihrer Lebensfreude und -qualität. Sie haben problematische Schmerzzustände: Ihr Leiden hat sich verselbstständigt und gilt als eigenständige Schmerzkrankheit. »Normale Ärzte stufen die Leiden dieser Patienten nicht selten als therapieresistent ein, obwohl auch ihre Qualen durch eine moderne Behandlung zumindest gelindert werden könnten« (Deutsche Schmerzliga e. V., 2013, S. 3). Untersuchungen für das Europäische Weißbuch Schmerz (Pain Proposal) ergaben: 43% der Patienten mit Chronischen Schmerzen müssen hierzulande länger als ein Jahr warten, bis ihre Diagnose gestellt und eine geeignete Therapie eingeleitet wird – bei vielen dauert es bis zu fünf Jahre oder länger. Chronische Schmerzen verursachen neben dem individuellen Leid hohe volkswirtschaftliche Kosten, die in Deutschland jährlich bei 38 Milliarden Euro liegen. 28 Milliarden Euro davon entstehen allein durch Arbeitsunfähigkeit und Berentung (Initiative Wege aus dem Schmerz, 2010, S. 9).

Die International Association for the Study of Pain (IASP) definiert Schmerz als

»unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung […], die mit tatsächlicher oder potentieller Gewebsschädigung zusammenhängt oder in Worten einer solchen Schädigung beschrieben wird« (Merskey & Bogduk 1994 in: Flor, 2011, S. 90).

Basierend auf der Erkenntnis, dass Schmerzen das physische, psychische und soziale Wohlbefinden und somit die Lebensqualität des Betroffenen und seiner Angehörigen beeinflussen, wurden die Expertenstandards vom DNQP (2011, 2014) entwickelt, um einen pflegerischen Beitrag zum Schmerzmanagement zu beschreiben.

Der vom DNQP (2014) entwickelte Expertenstandard »Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen« stellt strukturelle Voraussetzungen, den Prozess des pflegerischen Schmerzmanagements sowie Ergebniskriterien dar, die notwendig sind, um ein wissenschaftsbasiertes Schmerzmanagement umsetzen zu können. Der Expertenstandard ist für das pflegerische Schmerzmanagement von Menschen mit Tumorschmerzen und mit nicht-tumorbedingten chronischen Schmerzen, wie z. B. Rheuma, Arthritis, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen oder somatoformen Schmerzstörungen entwickelt. Er bezieht sich auf alle Altersgruppen und ist für alle Settings (Krankenhaus, ambulante Pflege, Altenheim oder auch Hospiz) umsetzbar. In der Entwicklung des Expertenstandards wurden 28 internationale systematisch recherchierte Leitlinien einbezogen (Doll, 2014, S. 262–263).

Das Ziel des Expertenstandards liegt darin begründet, die Schmerzwahrnehmung der Pflegefachkräfte zu verbessern und die Zeit zwischen dem Auftreten von Schmerzen und deren Linderung durch ein individuell angepasstes Schmerzmanagement zu verkürzen.

»Die Chronifizierung von Schmerzen wird aktuell nicht mehr nur als ein zu einem aktuellen Zeitpunkt eintretender Zustand diskutiert, sondern der Übergang wird mehr und mehr als fließend und am individuellen Schmerz- und Krankheitserleben ausgerichtet« (DNQP, 2014, S. 22).

Pflege spielt im multiprofessionellen Kontext eine zentrale Rolle im Management chronischer Schmerzen und soll aktiv dazu beitragen, die Erfahrungen der Betroffenen von Unter- und Fehlversorgung zu durchbrechen.

Die Umsetzung der Expertenstandards zum Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten/chronischen Schmerzen erfordern von den Pflegekräften Expertenwissen. Das bedarf institutioneller Rahmenbedingungen, die den Mitarbeitern die sachlichen, aber auch die personalen und zeitlichen Ressourcen zur Verfügung stellen. Nur auf dieser Grundlage ist eine fundierte und zielgruppenorientierte Schmerzanamnese, die Koordination der Umsetzung der medikamentösen und nicht-medikamentösen Schmerztherapie, die Evaluation der Wirksamkeit der Maßnahmen sowie die Anleitung, Schulung und Beratung der Betroffenen zu ermöglichen.

Des Weiteren – und hier gibt es noch enormen Entwicklungsbedarf – erfordert es die Bereitschaft der anderen Professionen im multiprofessionellen Team, dass die qualifizierten (und in Zukunft zum Teil auch akademisierten) Pflegekräfte als Experten anerkannt werden und ihre Expertise und die Koordination des wissenschaftsbasierten Schmerzmanagements in die Behandlung maßgeblich mit einfließt.

In diesem Buch werden die Anforderungen an das Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen auf der Grundlage des Expertenstandards (DNQP, 2014) dargestellt.

Dabei werden die ethischen Grundlagen und das pflegerische Selbstverständnis in Bezug auf das pflegerische Schmerzmanagement sowie in Studien ermittelte Versorgungsprobleme dargestellt, die gängigsten Instrumente zur Schmerzerfassung und zur Evaluation der Schmerztherapie erläutert und kritisch diskutiert.

Möglichkeiten der medikamentösen und nicht-medikamentösen Schmerztherapie bei chronischen Schmerzen werden aufgeführt und die Anforderungen an die Patientenedukation sowie die multiprofessionelle Zusammenarbeit genannt.

Abschließend werden Qualifikationsmöglichkeiten, Projekte und Zertifizierungsverfahren zur Umsetzung eines fundierten multiprofessionell-orientierten Schmerzmanagements vorgestellt.

 

1          Ethische und gesetzliche Rahmenbedingungen

 

 

Chronische Schmerzen bleiben eine Herausforderung für alle Beteiligten. In vielen Fällen können sie auch mit fundierten Therapieansätzen nicht vollständig gelindert werden. Das Ziel des Schmerzmanagements ist es, dass mit dem Schmerz lebenswert gelebt werden kann und nicht gegen ihn gearbeitet werden muss.

»Der Anspruch auf Schmerztherapie ist ein Menschenrecht« (EFIC, Human Rights Watch 2009, zitiert nach Deutsche Schmerzgesellschaft e. V., 2012). »Der Sicherstellung der Therapie akuter und chronischer Schmerzen gebührt daher eine hohe Priorität im Gesundheitswesen« (Chief Medical Officer UK 2009, zitiert nach Deutsche Schmerzgesellschaft e. V., 2012).

Um die qualifizierte Versorgung chronisch schmerzbetroffener Menschen zu gewährleisten, braucht es in Deutschland vermehrt ein konzeptionelles Vorgehen mit integrativen, aufeinander abgestimmten Therapiemaßnahmen in Form multimodaler Therapiekonzepte.

Erläuterung Multimodale Schmerztherapie

(Lat.) Multi = viele/modal = Arten (der Behandlung)

Bei einem interdisziplinären multimodalen Therapiekonzept geht es um die Entwicklung körperlicher, gedanklicher und verhaltensbezogener Bewältigungsstrategien unter Begleitung eines multiprofessionellen Teams. Dabei wird die symptomatische Behandlung chronischer Schmerzen verlagert zur Therapie mit körperlichen, psychischen und sozialen Behandlungsschwerpunkten.

Multimodale Programme stehen unter ärztlicher Leitung und enthalten medizinische, psychologische, physiotherapeutische und sporttherapeutische Behandlungseinheiten. In regelmäßigen Teambesprechungen unter Teilnahme aller Professionen werden die individuellen Ziele sowie die Evaluation des jeweiligen Behandlungskonzeptes gemeinsam abgesprochen (Thomm, 2011, S. 25).

Eine umfassende Versorgung kann nur gelingen, wenn eine schmerzmedizinische multiprofessionell orientierte Expertise flächendeckend zur Verfügung steht, um jene Patienten zu identifizieren, bei denen schmerztherapeutische Frühinterventionen eine Chronifizierung verhindern können. Hierzu braucht es eine abgestufte Versorgung mit Hausärzten als Primärversorger, aber auch die Umsetzung deutlicher Richtlinien für die Weiterüberweisung der Betroffenen, die eine leitlinienorientierte Versorgung ermöglichen. Die Ethikcharta der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. wird derzeit überarbeitet und steht in keiner Fassung zur Verfügung. Sie erhebt den Anspruch der Betroffenen auf eine, dem aktuellen Wissensstand angepasste, Schmerzbehandlung. Ebenso ist darin verankert, dass jeder Mensch mit Schmerzen einen Anspruch auf eine sorgfältige Untersuchung der Schmerzursachen sowie auf umfassende Diagnostik und Therapie unter Einschluss psychologischer, psychiatrischer und sozialer Aspekte hat. Auch ist dort manifestiert, dass der chronische Schmerz als bio-psycho-soziale Erkrankung ein interdisziplinäres Vorgehen erfordert (DGSS, 2007 in: Schwermann, 2016, S. 12).

Im SGB XI, § 11 ist die Umsetzung von Expertenstandards und Qualitätsprüfungen von Pflegeinrichtungen geregelt. Die Sozialgesetzbücher legen die Zuständigkeiten der Kostenübernahme im Falle des behandlungsbedürftigen chronischen Schmerzes fest. Neben dem SGB V und XI werden in vielen Fällen auch Leistungen aus der Renten- (SGB VI) und der Unfallversicherung 7SGB VII) bezogen.

Hall et al. (2009 in: Dietl & Korcak, 2011, S. 122) stellen in Ihrer Veröffentlichung die zwei wesentlichen ethischen und rechtlichen Elemente der Schmerzbehandlung auf: Das Recht auf Schmerzbehandlung und die Arzt-Patient-Beziehung. Nach Hall et al. gibt es bislang weder rechtliche noch ethisch geschaffene Versorgungsverpflichtungen außerhalb der traditionellen Arzt-Patient-Beziehung. Aufgrund der fehlenden allgemeinen Verpflichtung gibt es kein allgemeines Recht, das in Anspruch genommen werden kann.

Laut Bericht des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) sind bei einer angemessenen Versorgung chronischer Schmerzen sozialmedizinische und ethische Aspekte auf der Makro-, Meso- und Mikroebene zu unterscheiden.

»Auf der Makroebene ist zu berücksichtigen, dass Patienten ein Recht auf eine ausreichende und individuell angemessene Schmerztherapie zu garantieren ist. Palliativmedizinische Versorgung ist als ein Grundrecht aller Sterbenskranker zu verstehen. Auf der Mesoebene ist zu beachten, dass die Pflege und Betreuung Sterbenskranker in besonderem Maß nicht nur klinische, sondern auch ethische Kompetenz, Kommunikation und interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert. Auf der Mikroebene ist zu bedenken, dass besondere Aufmerksamkeit den vulnerablen Patientengruppen gilt, wie z. B. Neugeborenen, Kindern und Jugendlichen sowie alten und mental eingeschränkten Patienten« (Dietl & Korcak, 2011, S. 122).

Aus dieser Analyse heraus begründet sich u. a. die Notwendigkeit evidenzbasierter schmerztherapeutischer Maßnahmen auf der Mikro-, der Meso- und der Makroebene. Durch eine differenzierte Überprüfung der Versorgungsmaßnahmen kann einer Über-, Unter- oder Fehlversorgung entgegengewirkt werden.