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Prof. Ernst Peter Fischer

WISSENSCHAFTSGESCHICHTE

WELCHE NATURWISSENSCHAFT BRAUCHT DER GEBILDETE MENSCH?

ALS DAS NEUE NOCH NEU WAR

GROSSE IDEEN DER WISSENSCHAFT, TEIL 1

GROSSE IDEEN DER WISSENSCHAFT, TEIL 2

Inhaltsverzeichnis

WELCHE NATURWISSENSCHAFT BRAUCHT DER GEBILDETE MENSCH?

Einführung

Was ist Naturwissenschaft und wozu Naturwissenschaft?

Was ist Bildung?

Atomtheorie der Materie und Evolutionstheorie der Biologie

ALS DAS NEUE NOCH NEU WAR

Innovation

Begriff des Neuen

Das tatsächlich Neue

Idee des Fortschritts

Francis Bacon

Kepler

Galileo Galilei

René Descartes

Wahrscheinlichkeit – Statistik

Überlegungen zum „Neuen“

Das Individuum

Ist das Neue noch das Gute?

Humaner Fortschritt

Nachhaltigkeit

GROSSE IDEEN DER WISSENSCHAFT – Teil 1

Das Atom

Die Logik des bohrschen Atommodells

Die Atome Caesars

Naturgesetze sind das, was wir der Natur vorschreiben

Das Quantum der Wirkung

Quantensprünge

Welle oder Teilchen?

Die Unstetigkeit der Natur

Etwas, das in Arbeit ist

Energie

Erster Hauptsatz der Thermodynamik: Energieerhaltung

Zeittranslations-Invarianz

Energie – ein Archetypus menschlichen Denkens

Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik

Entropie – sterben nach dem Maximum

Entropie – ein Maß für die Ordnung der Welt?

Die Unordnung eines Systems

Vorrat von Zufälligkeiten

Die Objektivität der Wissenschaft

Evolution

Lamarck, Darwin und Wallace

Konstanz der Arten – eine Idee Platons

Lamarckismus

„Kampf ums Überleben“ – Motor der Evolution

Die Natur produziert zu viel

„Natürliche“ und „sexuelle“ Selektion

„Parental investment“

Kreationismus ist Denkverbot

Der größte Gedanke des 19. Jahrhunderts

GROSSE IDEEN DER WISSENSCHAFT, Teil 2

Genetik

Das Gen – eine physikalische Einheit

Die Doppelhelix

Merkwürdige Gene

Verstehen wir „Gene“ eigentlich?

Was machen Gene?

Gene sind keine Kausalfaktoren

Gene sind nicht programmatisch

Die „Künstler des Lebens“

Element der Konstanz

Zellen

Alles Leben ist zellulär

Die Zellmembran

Mitochondrien

Telomere und „das Unsterblichkeitsenzym“

Das „Unsterblichkeitsprinzip“

Information

Was ist Information

Binäre Digits

Eine physikalische Größe

Information – Teil der physikalischen Gesetzmäßigkeiten

Raum und Zeit = Raumzeit

Vierdimensionale Raumzeit

Raumzeit und Zeitraum

Komplementarität

Welle oder Teilchen?

Von oben und von unten

Sein und Nichtsein

Komplementarität der Betrachtung

Komplementarität im Alltag

Aufklärung und Romantik

Kausalität und Form

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WELCHE NATURWISSENSCHAFT BRAUCHT DER GEBILDETE MENSCH?

Die Antwort hängt davon ab, was man unter Bildung versteht. Wenn Bildung die Form ist, die Kultur in einem Individuum annimmt, lautet die nächste Frage, in welcher Kultur wir leben. Die Antwort ist einfach. Wir leben in einer Kultur, deren Gegenwart von der Wissenschaft und ihren Auswirkungen geprägt wird. Gebildete Menschen sollten wissen, dass es ihnen gut geht, weil ihre Vorfahren die Wissenschaft erfunden haben. Sie verstehen, dass Wissenschaft nichts Äußerliches ist, sondern in ihnen steckt. Ein gebildeter Mensch braucht soviel Wissenschaft, dass er in der Lage ist, sich an der Diskussion ihrer Inhalte zu beteiligen und dabei Genuss zu empfinden, um dann die Dialogbereitschaft zu entwikkeln, die nötig ist, um die Verantwortung zu übernehmen, die Wissenschaft heute benötigt.

EINFÜHRUNG

Kennerschaft

Die Frage ist: Wie hängen Naturwissenschaft und Bildung zusammen?

Das Ziel ist: Beim Menschen das zu erreichen, was man in der Kunst Kennerschaft nennt.

Niemand muss ein theoretisches Musikverständnis haben, um Kenner von Schuberts Streichquartett oder von Mozarts Opern zu sein. In der Wissenschaft jedoch besteht der Eindruck, dass jemand genau Bescheid wissen muss über Details, über Messmethoden und vieles andere, um sich dazu äußern zu können. Man ist entweder Fachmann oder Laie, aber nicht Kenner.

Wie aber lässt sich eine Kennerschaft in den Naturwissenschaften erreichen?

Um dieses Thema zu erörtern, gilt es folgende Frage zu beantworten:

Welche Naturwissenschaft braucht der gebildete Mensch, der sich eben über diese Wissenschaft unterhalten möchte? Das Thema ist nicht leicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass der große Max Planck einen Aufsatz geschrieben hat, in dem er feststellt, dass Wissenschaft ihrem Wesen nach unpopulär sei.

Wissenschaft ist unpopulär

Ich glaube auch nicht, dass wir Wissenschaft dadurch populär machen, dass wir alles etwas einfacher darstellen, also schlicht und simple. Dann verschwindet eigentlich das, was wir erklären wollen.

Das Beispiel, das ich immer gerne benutze, ist: Wenn Sie einen Parallelschwung im Tiefschnee erklären wollen und es ganz einfach machen, ist es ein Stemmbogen. Aber den wollten Sie nicht erklären. Es ist auch nicht mehr das, was von Interesse ist.

Planck war der Meinung, dass Wissenschaft ihrem Wesen nach unpopulär ist. Er meinte damit, dass sich niemand außerhalb der Wissenschaft für ihre Methoden interessiert, sowohl für die theoretischen Methoden als auch die Meßmethoden. Er glaubte auch, dass niemand außerhalb der Wissenschaft sich für die Verschärfung ihrer Begriffe wirklich interessiert. Wenn ein Wissenschaftler über Kraft spricht, dann meint er etwas anderes, als wenn Sie im Alltag über Kraft sprechen. Oder wenn die Wissenschaftler über Energie sprechen, dann meinen sie etwas anderes, als wenn Sie im Alltag über Energie sprechen.

Das ist nicht immer leicht zur Deckung zu bringen, deshalb ist die Wissenschaft ihrem Wesen nach unpopulär.

Planck hat aber trotzdem versucht, Wissenschaft öffentlich zu machen, in dem er über die Wissenschaft selbst nachgedacht hat. Die Frage ist: Wie denkt man über Wissenschaft so nach, dass sie für einen gebildeten Menschen interessant sein kann?

Ich persönlich glaube, dass wir das Problem in der allgemeinen Öffentlichkeit nicht einmal im Ansatz gelöst haben.

Seit den 1960er Jahren wird versucht, Wissenschaft an den Mann, an die Frau oder an das Fernsehpublikum, an die Zeitschriftenleser zu bringen. Gar nicht überlegt wurde, was daran eigentlich schief gegangen ist, was daran nicht gelungen ist.

Ich glaube, das Problem ist, dass man sich bei der Wissenschaft auf die Vermittlung von Informationen beschränkt. Was die Menschen aber wirklich interessiert, ist Wissenschaft zu bekommen, mit der sie spazieren gehen können, über die sie sich komplentativ unterhalten können. Oder eben Wissenschaft, die ihnen eine Einheit zeigt.

Diese Einheitlichkeit in der Wissenschaft ist allerdings für die Wissenschaftler selbst schwierig geworden. Als Planck seine Reden gehalten hat, versuchte er diese Einheit zu zeigen und dahinter wenigstens das Bedürfnis der Einheit erkennen zu lassen.

Ich glaube, das ist das, was den gebildeten Menschen interessiert. In diese Richtung möchte ich auch meine Überlegungen richten, also, welche Naturwissenschaft braucht der gebildete Mensch?

Er braucht auf keinen Fall die Informationen, die es heute in vielen Medien gibt. Ebenso braucht er auf keinen Fall die Skepsis, die es in vielen Medien gibt, denn die Wissenschaft bestimmt unser Leben so, dass wir ohne sie den nächsten Tag nicht erleben könnten.

Wenn wir also dieses Thema angehen, dann haben wir zwei große Begriffe über die wir uns zunächst mal verständigen müssen.

Das ist zum einen der Begriff der Naturwissenschaft und zum anderen der Begriff der Bildung.

WAS IST NATURWISSENSCHAFT UND WOZU NATURWISSENSCHAFT?

Das Experiment

Ich möchte zunächst einmal den Begriff „Naturwissenschaft“ deutlich machen und zeigen, was ich darunter verstehe.

Ich liebe die Definition, die der in den 80er Jahren sehr populäre Hoimar von Dithfurth einmal gegen hat:

„Naturwissenschafter versuchen die Welt ohne Wunder unter den erschwerten Bedingungen des Experiments zu erklären.“

Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wissenschaft muss immer die Frage an die Natur stellen. Es reicht nicht, nur die Frage an ihren Kollegen oder an ihren Nachbarn zu stellen. Sie müssen ein Experiment machen, um dann im Experiment zu erfahren, ob das, was Sie vermuten, was Sie hypothetisch annehmen, auch zutrifft.

Zum Beispiel, können Sie in der Philosophie Jahrhunderte lang die Frage diskutieren, ob Fliegen ein Bewusstsein haben oder nicht. Oder ob Fliegen lernen können oder nicht. Der Naturwissenschaftler würde Sie bitten, das Experiment dazu zu machen.

Wie würde ein Experiment aussehen, in dem Sie nachweisen oder fragen wollen, ob Insekten Bewusstsein haben oder nur Maschinen sind, die Sie zufällig im Sommer gerne stechen? Wie sieht so ein Experiment aus? Das ist eine ganz spannende Frage. Die Naturwissenschaft entscheidet sich am Experiment.

Das kann dann übrigens dazu führen, dass Theorien, die nicht mehr im Experiment geprüft werden können, wie zum Beispiel die modernen Theorien der Kosmologie, vielleicht gar nicht mehr wissenschaftlich genannt werden können.

Naturwissenschaft im Alltag

Zurück zur Frage: Was ist eigentlich Naturwissenschaft, oder wie tritt sie bei uns in Erscheinung?

Im Alltag tritt sie heute massiv in Erscheinung, weil die Menschen längst die erste Natur aufgegeben haben und in einer zweiten Natur leben, die sie eingerichtet haben. Menschen sind umgeben von Technik.

Wir sind total von technischer und wissenschaftlicher Materie umgeben. Die Wissenschaft hat die Welt massiv und entscheidend beeinflusst. Sie brauchen nur an das Radio zu denken, an den Fernsehapparat, an das Automobil, an das Telefon. Alle diese Dinge, die Sie benutzen.

Die Frage ist, ob Sie nicht etwas über diese Geräte wissen sollten. Wissen Sie zum Beispiel, wie ein Handy funktioniert? Wissen Sie, wie ein Auto seine Mobilität erhält? Wo die Energie steckt, die Sie beim tanken in ihr Auto füllen? Das sind Dinge, über die man nachdenken kann. Sie können auch andere Fragen stellen. Wissenschaft taucht auch jederzeit in Fernsehnachrichten auf. Zum Beispiel, wenn Sie den Wetterbericht hören. Da wird plötzlich von einer Kaltfront geredet, von Hochdruck oder Tiefdruck. Dann wird von Windströmungen oder von Jetstreams erzählt. Das müsste man eigentlich alles wissen, das müsste man alles verstehen.

Ich halte das für wichtig. Das wäre zum Beispiel Wissenschaft, die ein gebildeter Mensch braucht, um sich in der Menge der Nachrichten, die er bekommt, wohl zufühlen. Sie möchten ja auch verstehen, was im Irak los ist, was mit der Gesundheitsreform oder einer Steuererhöhung?

Aber wenn Sie nicht verstehen, was eine Kaltfront ist, dann ist das eigentlich merkwürdig. Diese Dinge zu verstehen, halte ich für eine Notwendigkeit.

Es gibt sehr viele Fragen, die sich im Alltag stellen können, die naturwissenschaftliche Hintergründe haben, auf die ich aber später erst noch eingehen will.

Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen

Es ist nicht nur wichtig, dass wir wissen, was Naturwissenschaft ist, wie sie aussieht, wie sie methodisch vorgeht. Die spannendere Frage, die sich für unsere Gesellschaft und auch für den gebildeten Menschen stellt, ist die: Seit wann und wozu treiben wir eigentlich Naturwissenschaften? Das kann man historisch ziemlich genau positionieren. Es gibt zwei Antworten auf die Frage: Wozu betreiben die Menschen Naturwissenschaften? Die erste Antwort stammt aus der Antike, die zweite aus der Moderne.

Beginnen wir mit der Antwort aus der Antike. Sie stammt von Aristoteles, dem großen griechischen Philosophen. In seiner Schrift Metaphysik heißt der erste Satz. Ich zitiere: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“

Deshalb machen auch wir Wissenschaft. Denn Wissenschaft ist der systematische Versuch, sich Wissen anzueignen, das wir uns von Natur aus aneignen wollen, so wie es Aristoteles sagte.

Sein oben genannter Satz wird oft zitiert. Man hat den Eindruck, er ist an dieser Stelle zu Ende. Aber tatsächlich geht er weiter, weil Aristoteles begründet, warum wir nach Wissen streben. Und diese Begründung ist das Entscheidende: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen, weil sie Freude an der Sinneswahrnehmung haben.“

Kurz gesagt:

Wir wollen wissen, weil wir Freude an der Natur haben, Freude an der Wahrnehmung der Natur. Und wer hat die nicht?

Wer sieht nicht gerne im Frühling wie die Blüten aufgehen? Wer beobachtet nicht gerne Vögel?

Wer sieht nicht gerne Sonnenuntergänge?

Wer beobachtet nicht gerne Wolken am Himmel?

Wer beobachtet nicht gerne die Natur überhaupt?

Ästhetisch neugierig

Dieses Wort „Sinneswahrnehmung“, das Aristoteles benutzt, heißt auf Griechisch „aisthesis“. Damit sagt er eigentlich, dass Menschen ästhetisch neugierig sind. Und das sind wir ja.

Kinder sind ästhetisch neugierig. Sie wollen wissen, warum das Wasser nass ist. Sie wollen wissen, warum man trinken muss. Sie wollen wissen, warum Männer Bärte haben und Frauen nicht. Sie wollen wissen, warum die Wolken nicht vom Himmel fallen. Sie wollen wissen, warum der Himmel blau ist. Das alles wollen Kinder aus ästhetischer Neugierde wissen. Wir alle sind als Kinder ästhetisch neugierig gewesen. Jetzt kommt ein Problem, das aber nur als Nebenbemerkung erwähnt werden soll. Wenn Kinder zur Schule gehen, werden sie dort nicht ästhetisch neugierig empfangen, sondern begrifflich gelangweilt. Denn in der Schule lernen sie Naturgesetze.

Ich lerne das Reflexionsgesetz. Ich verwandle etwas wie das Licht, das draußen leuchtet, das scheint, das glitzert, das blendet, das blinkt, das wärmt. Alles das, was Licht kann, verschwindet im Physikunterricht und wird zu einem schwarzen Strich, der sozusagen durch ein Buch geistert. Daran aber sind der ästhetisch neugierige Knabe und das ästhetisch neugierige Mädchen nicht interessiert.

Wir sind ästhetisch neugierig und genau deshalb treiben wir Naturwissenschaft. Es ist unsere Natur: Aus der Freude an der Wahrnehmung der Welt, das Wissen erwerben zu wollen, das dieser Freude weiter auf die Beine hilft. Das ist der erste Grund, warum wir Naturwissenschaft treiben. Das können wir in kurzen Worten zusammenfassen:

Wir treiben Naturwissenschaft, um die Freude zu vermehren.

Macht über die Natur

Der zweite Grund ist der genau gegenteilige Grund. Der kam erst im 17. Jahrhundert auf. Damals erfinden vier oder fünf europäische Wissenschaftler die Idee der Wissenschaft. Das waren in England Francis Bacon, in Deutschland Johannes Kepler, in Italien Galileo Galilei und in Frankreich René Descartes.

Das tun sie unter der Prämisse, dass das Wissen das sie erwerben wollen, helfen soll, die Existenzbedingungen des Menschen zu erleichtern. Das ist die grundlegende Vorgabe. Sie wird übrigens am schönsten formuliert in dem Brecht Stück „Das Leben des Galilei“.

Da heißt es:

Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Bedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern.“

„Das einzige Ziel der Wissenschaft“, sagt Galilei, und das ist natürlich die typische Übertreibung eines Italieners. Aber tatsächlich gibt es mindestens noch einen zweiten Grund für die Wissenschaft, nämlich die von Aristoteles angesprochene Freude an der Wahrnehmung der Welt.

Aber der im 16. /17. Jahrhundert formulierte Grund ist ebenso wichtig. Das heißt, wir treiben Wissenschaft, um Macht über die Natur zu haben, und diese Macht zu nutzen, um den Menschen zu helfen, ihr Leben zu erleichtern und Wohlstand zu schaffen.

Es gibt also zwei große Gründe, warum wir Wissenschaft treiben:

Der erste Grund ist, Freude zu mehren.

Der zweite Grund ist, Leiden zu mindern.

Ich sage das so pointiert, um diese Aussagen über die westliche Vorgabe der Wissenschaft mit folgendem Zitat zu konfrontieren:

„Vom buddhistischen Standpunkt aus betrachtet entspringt das menschliche Bedürfnis nach Wissen und Verständnis der eigenen Existenz, dem profunden Bestreben, Freude zu mehren und Leid zu überwinden.“

So schreibt der Dalai Lama in seinem Buch „Das Universum im einzelnen Atom“ .

Ich sage das nur deswegen, weil manchmal das Gefühl vorherrscht, dass die westliche Wissenschaft keine philosophische Grundlegung hat, sondern nur ein Machtstreben darstellt. Aber der buddhistische Standpunkt ist identisch. Das buddhistische Bemühen, Freude zu mehren und Leid zu mindern ist identisch mit den Ansätzen der westlichen Wissenschaften.

Da ist nur die Frage: Wie macht man das? Wie setzt man dieses Bedürfnis um?

Die Buddhisten machen das mit Sicherheit anders, als die westliche Wissenschaft. Die westliche Wissenschaft entwikkelt sich zu einer Technik. Die buddhistische Wissenschaft zu einer Form des geduldigen, meditativen Umfangs mit der Natur.

Wir können jetzt die Frage stellen, was davon der angemessene, der humanere, der zukunftsträchtigere Weg ist? Hier stellt sich für mich wieder die Frage, welche Naturwissenschaft der gebildete Mensch denn braucht?

WAS IST BILDUNG?

Bildung ist dialogisch

Was ist Bildung?

Bildung ist ein komplizierter Begriff, der auf verschiedene Weise definiert werden kann.

Es gibt ganze Bibliotheken, die erläutern, was ein gebildeter Mensch ist. Und es ist einer der schlimmsten Vorwürfe, zu sagen, „ du bist aber ungebildet.“

Wir sind zwar alle nicht gebildet, aber wir möchten auf keinen Fall ungebildet sein.

Wie also kann man Bildung definieren?

Bei so bedeutungsschweren Begriffen, die natürlich in der deutschen Sprachtradition eine große Rolle gespielt haben und spielen, empfiehlt es sich immer, erst einmal zu sehen, wie dieses Wort früher definiert wurde.

Eine Definition in einem Konversationslexikon aus dem Jahr 1903 lautet, ich zitiere:

„Gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiß und bei allen Dingen, von denen in Gesellschaft die Rede ist, mitreden kann.“ Das klingt so, als ob ein Talkmaster der Protagonist eines gebildeten Menschen ist. Er redet bei allen Dingen mit – und ist meist gut angezogen.

Aber Scherz bei Seite, nicht der Talkmaster ist entscheidend, sondern wichtig ist für mich an dieser Definition, dass Bildung etwas mit reden zu tun hat.

Das heißt, nicht der einzelne Mensch, der irgendwo sitzt und das Wissen sammelt, ohne es von sich zu geben, ist gebildet, sondern der, der aufgrund seines Wissens Kontakt mit andern aufnimmt, der mit anderen in Verbindung tritt.

Ich denke, Bildung ist etwas, das im Dialog zwischen Menschen passiert. Diese führen dann ein gebildetes Gespräch, wenn sie sich unterhalten, ohne über ihre unmittelbaren Notwendigkeiten des Einkaufens, des Steuerbezahlens oder anderer, aktueller Dinge des Tages zu sprechen.

Wenn Sie sich über eine Oper unterhalten, ein Theaterstück, oder eine wissenschaftliche Entdeckung dann führen Sie ein gebildetes Gespräch.

Grundidee der Bildung ist, dass sie etwas ist, das Menschen im Gespräch miteinander verbindet und die Fähigkeit zur Kommunikation verleiht. Bildung ist dialogisch. Bildung findet im Dialog statt.

Der Einzelne kann nicht für sich gebildet sein. Er muss sich mit jemandem austauschen.

Ich glaube, dass nicht unbedingt sehr viel Wissen dazu gehört, um sich an einem gebildeten Gespräch zu beteiligen. Aber es gehört der Wunsch dazu, etwas Wissen zu wollen. Wenn Sie einfach nur neugierig sind und dann Fragen an jemanden stellen, der das Glück hatte, als Professor, zum Beispiel, viel lernen zu dürfen, dann hat das Bildungsgespräch begonnen.

Das Dialogische, das Hin und Her, das Wechselspiel zwischen den Partner, halte ich im Zusammenhang mit Bildung für wichtig und entscheidend.

Prozess und Produkt

Bildung hat zwei Bedeutungen.

Bildung heißt etwas, was Sie schon gebildet haben, also ihre Bildung. Das, was Sie gemacht haben, zum Beispiel, ein Kunstwerk oder ein Buch. Das haben Sie geschaffen. Das ist Ihr Werk, Ihr Geschaffenes. Das ist die Bildung, die sich da zeigt.

Zweitens bezeichnet Bildung den Prozess, der zu einer Schaffung, zu einem Werk führt.

Bildung ist immer das Machen und das Gemachte. Das Gestalten und das Gestaltete.

Bildung ist das Produkt und der Vorgang oder der Prozess zugleich. Das bedeutet auch, dass Bildung nie fertig ist, weil sie immer weitergeführt werden kann. Bildung ist ein offener Prozess. Die eigentliche Bildung ist die Wissenschaft selbst. Weil Wissenschaft ein offener Prozess ist, der nie zu Ende kommt.

Dieser Prozess der Bildung, der Wissenschaft, braucht einen Ort. Das ist die Universität.

Aus diesem Grund hat auch Wilhelm von Humboldt 1810 die Universität Berlin mitbegründet.

Er hat das nicht getan, um den Professor frei und einsam irgendwo sitzen zu lassen, sondern weil Humboldt ganz klar erkannt hatte, ich zitiere:

„ ... dass Wissenschaft etwas ist, das noch nicht gefunden ist und nie ganz aufzufinden ist.“

Sie ist aber schon da. Ich habe ja schon einen wissenschaftlichen Vorrat, einen Wissensvorrat. Aber ich weiß, ich kann diesen immer weiter bearbeiten, immer wieder erneuern. Ich kann an der Statue der Wissenschaft immer weiter arbeiten und damit gleichzeitig an meiner inneren Statue modellieren.

Bildung ist ein offener Prozess. Bildung braucht den Dialog. Bildung braucht die Auseinandersetzung mit dem, der mir gegenüber ist. Das ist ganz wichtig zum Verständnis von Bildung.

Wenn man also fragt, welche Bildung der Naturwissenschaften braucht der gebildete Mensch, dann braucht er eben die Naturwissenschaft, von der er weiß, dass sie immer offen ist, dass sie immer neue Fragen stellen und nicht zum Abschluss kommen kann.

Die Romantik

Merkwürdigerweise ist die Wissenschaftsgeschichte durchsetzt mit Vorschlägen, dass die Wissenschaft fertig ist -einen Endpunkt gefunden hat.

Man hat im 18. Jahrhundert schon angefangen Enzyklopädien zu schreiben. Philosophen waren im 18. Jahrhundert der Meinung, dass die Astronomie allmählich fertig sein würde. Im 19. Jahrhundert war man der Meinung, dass die Physik allmählich fertig sein würde.

Max Planck, zum Beispiel, ist als Student entmutigt worden, Physik zu studieren. Da gäbe es nur noch ein paar kleine Korrekturen zu machen, tatsächlich aber wäre die Physik quasi schon fertig. Es gäbe nur noch Materialkonstanten zu entwickeln, und es wäre vielleicht besser, er würde Klavierspieler werden.

Planck ist diesem Rat nicht gefolgt, sondern hat Physik studiert und durch die Entdeckung des Quantums eine ganz neue Welt geschaffen. Diese Idee, dass etwas abgeschlossen sein kann, entspringt dem Geist der Rationalität.

Ratio heißt ursprünglich Rechnung. Alles was berechenbar ist, ist irgendwann abgeschlossen, berechenbar.

Sie können berechnen, wie lange eine Sendung im Fernsehen dauert. Sie können berechnen, wie viel Geld sie auf dem Konto haben.

Die Grundidee ist, dass das Rationale nie alles sein kann. Darüber hinaus gibt es die Grenzen der Vernunft, die aber selbst nicht der Vernunft unterliegen. Sie sind offen, sie bleiben offen. Dieser Grundgedanke kommt im frühen 19. Jahrhundert auf, vertreten u. a. von Wilhelm von Humboldt. Diese Zeit ist durch die Romantik geprägt. Die Romantik ist immer der Meinung, dass es ein offenes System des Denkens gibt, in das die menschliche Kreativität immer neue, grundlegende Gedanken einführen kann.

Die Form

Bildung ist seit dieser Zeit etwas, das offen bleibt. Bildung ist etwas, das im Gespräch entsteht. Bildung ist etwas, das eine Gestaltungsaufgabe hat. Da ist natürlich auch der Versuch, sich selbst zu gestalten, sich selbst zu entwerfen, seinem eigenen Leben eine Form zu geben.

Diese Form-Bedingung ist wichtig. Bildung ist die Form, die Kultur in einem Individuum annimmt, die diese dann einem anderem im Gespräch mitteilen möchte. Der Zuhörer bietet darauf hin seine eigene Form der Widerrede an. Es entsteht das Bildungsgespräch, in dem die Beteiligten versuchen, eine neue Formung dessen, was sie wissen durchzuführen.

Geschichte der Wissenschaften