Über Gerhard Henschel

Foto: Jochen Quast

Gerhard Henschel, geboren 1962, lebt als freier Schriftsteller in der Nähe von Hamburg. Sein Briefroman Die Liebenden (2002) begeisterte die Kritik ebenso wie die Abenteuer seines Erzählers Martin Schlosser: Kindheitsroman (2004), Jugendroman (2009), Liebesroman (2010), Abenteuerroman (2012), Bildungsroman (2014) und zuletzt Künstlerroman (2015). Arbeiterroman ist der siebente Band seiner Chronik, die er entlang des Lebens von Martin Schlosser erzählt. Henschel ist außerdem Autor zahlreicher Sachbücher. Er wurde 2012 mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis ausgezeichnet, 2013 mit dem Nicolas-Born-Preis und 2015 mit dem Georg-K.-Glaser-Preis.

Arbeiterroman

In meinem Arbeitszimmerfenster konnte ich um halb fünf Uhr morgens mein Spiegelbild betrachten: Martin Schlosser, 25, Studienabbrecher, Möchtegernschriftsteller, wohnhaft in Oldenburg, Nadorster Straße 157. Niemand kennt ihn. Zur Zeit muß er seinen Unterhalt noch als Hilfskraft in der Spedition Rhenus verdienen, doch er schreibt an seinem ersten Buch, schon seit anderthalb Jahren, und bald wird es fertig sein …

My mind’s distracted and diffused

My thoughts are many miles away …

Was sollte werden, wenn ich mich getäuscht hatte? In mir selbst?

»Martin? Wird der nicht nächstes Jahr fünfzig? Soweit ich weiß, krebst der noch immer als Hilfsarbeiter rum. Hat lange nichts mehr von sich hören lassen. Feilt wahrscheinlich jede Nacht an dem Opus Magnum, das er für seine Schublade schreibt …«

»Und was ist aus seiner Freundin geworden? Dieser komischen Sozialpädagogin?«

»Frag mich was Leichteres. Oder warte mal – lebt die nicht davon, daß sie selbstgemachte Ohrringe auf Flohmärkten verkauft?«

 

Ab halb sechs hinkte meistens unsere Vermieterin durch den Garten. Frau Morgenstern. Hatte sich das Frühaufstehen vermutlich schon in den Schlesischen Erbfolgekriegen angewöhnt.

Ich kroch noch einmal zurück zu Andrea ins Bett, und dann mußte ich hinaus ins feindliche Leben und LKWs entladen. Eine Palette nach der anderen, mit allem, was das Herz begehrte: Schweinedarmtonnen, Gartenstühle, Spielwaren, Fernsehgeräte, Farbeimer, Konserven, Dachziegel und Süßigkeiten. Einer der Kartons war aufgeplatzt, und die dämlichen Schoko-Crossies hatten sich über die halbe Ladefläche verteilt.

Noch dümmer war’s, wenn lose Styroporkügelchen herumflogen. Die wurde man nie wieder los.

Meinem alten Kompagnon Matthias kippte dann eine ganze Palette mit Raviolidosen um. Die waren zwar eingeschweißt, aber die Plastikfolie riß, so daß die Dosen bis sonstwohin kullerten. Ein Geschepper wie bei einer Offensive der Blechbüchsenarmee.

»Da kommt Freude auf!« schrie Voss, der Schichtleiter.

Keine angenehme Arbeit. Und mit neun Mark die Stunde auch nicht gut bezahlt. Wenn Andrea putzen ging, lag ihr Stundenlohn eine Mark höher.

 

Zuhause setzte ich mich ans Klavier.

Blue skies

Smiling at me

Nothing but blue skies

Do I see …

Barpianist, das wäre eine luzidere Verdienstquelle gewesen, aber dazu langte es bei mir nicht.

 

Wir aßen Kartoffelgratin mit Blumenkohlröschen und Parmesan.

»Isch hänn dir schone mo jesorrt, dat dat net ming Leibgerischd wörr«, sagte ich in einem Phantasiedialekt, und Andrea stieg sofort darauf ein: »Mir könne net immer bloß Körriwoscht fresse, du ahle Knallbotz!«

So ging es hin und her.

»Motze, ja, dat kannste, abbä koche tuste wie ’ne Wasserleische …«

»Mußt du grad sorre, du Hängefott! Du häss doch in de Küsch noch kei einzische Handschlach getönn, seit isch disch kenn!«

»Isch hänn dir äwwens schon jesorrt, dat de gut motze kannz. Awwä sünz ooch nix!«

»Dat will isch gar net wisse, wat du mir äwwens jesorrt häss …«

»Ja. Logisch. Weil de äwwens owwens nix als motze kannz!«

»Von weesche äwwens owwens … du kannst doch net ma Deutsch!«

»Awwä dau mit deine Gosch! Da falle eime ja äwwens die Ohre ab, wemma disch babbele hört!«

Ein zänkisches altes Ehepaar spielen. Herrlich. Sofern man es nicht übertrieb.

 

Die Stunde der Wahrheit nahte: Nachdem ich die letzte der spinnerten Geschichten verfaßt hatte, aus denen sich mein Prosadebüt mit dem Arbeitstitel »Die Weißheit der Indianer« zusammensetzen sollte, stand mir nur noch die Aufgabe bevor, alles abzutippen, die sechshundert Bilder einzukleben, mehrere Kopien zu machen und sie im Copy-Shop binden zu lassen, bevor ich die Verlage meiner Wahl mit dem fertigen Werk beglücken konnte.

 

Zwischendurch kam immer mal Andreas schöne Freundin Lydia zu Besuch, die bei Walter Kempowski Pädagogik studierte. In einem Restaurant namens Ali Baba würden sie und andere Studenten oft noch mit ihm zusammensitzen, erzählte sie, und er sei ausgesprochen nett zu ihr. »Obwohl er weiß, daß ich noch nie ein Buch von ihm gelesen hab!«

Was ich mir damit erklärte, daß er Lydia wegen ihrer Schönheit und ihrer charmanten Jugendfrische alles verzieh.

 

Die neuen Wranglers, deren Ankauf sich nicht mehr hinauszögern ließ, gingen ziemlich ins Geld. Und dann war schon wieder anderer Nachschub fällig: Waschpulver, Zahncreme, Klopapier, Seife, Rasierklingen, Streichhölzer, Tee, Marmelade, Mülltüten, Strümpfe, Tintenpatronen, Briefumschläge, Schreibmaschinenpapier, Uhu, Heftklammern und Diaphragmasalbe. Ganz zu schweigen von den Grundnahrungsmitteln.

Sie frage sich, wie wir das eigentlich hingekriegt hätten die letzten Monate über, sagte Andrea. »Wo wir doch auch noch Telefon und Strom und Öl und all so’n Killefitz bezahlen müssen …«

 

Dann fiel mein rechter Brillenbügel ab. Das Schräubchen hatte sich gelöst und selbständig gemacht, und ich ängstigte mich vor den Kosten der Reparatur, doch bei Optiker Bode am Schloßplatz wurde mir für das Heilemachen meiner Brille nichts berechnet: Das gehöre zum Kundendienst.

 

Ab und an zog ich eines von Andreas Büchern aus dem Regal. »Ich ging den Weg des Derwisch« von Reshad Feild: Darin legte der Verfasser Zeugnis von seiner Lehre bei einem sufischen Meister ab, der ihm permanent die Hammelbeine langgezogen habe:

»Du bist in mein Haus gekommen, und nun zählt jeder Augenblick. Ich möchte, daß du nicht länger hierbleibst als unbedingt nötig; wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich will dir einiges von dem Wissen weitergeben, das mir gegeben wurde, damit du heimkehren und andere lehren kannst.«

Die Tatsache, daß ein anatolischer Derwisch hier mit einem Zeitbegriff operierte, der auch dem Produktionsleiter einer Würstchenfabrik zuzutrauen gewesen wäre, hatte dem internationalen Siegeszug des Buchs keinen Abbruch getan.

Andrea besaß auch den Bericht einer gewissen Sylvia Winter über ihre Zeit als Jüngerin Bhagwans (»Die erwachende Göttin«).

Darauf folgt jetzt sofort die Nachricht, daß 21 Leute erleuchtet sein sollen! Das drückt bei mir alle Knöpfe, die drückbar sind. Warum nicht ich?

Die Stilblüten der esoterischen Literatur hätte man zu einem eigenen Roman zusammenfügen können, so wie es Cervantes mit den Versatzstücken der Ritterromane getan hatte, dachte ich. Mal alles sammeln, was es da so gab, eine Geschichte daraus basteln und ihr einen möglichst beknackten Titel geben: »Das erwachende Selber« oder so.

Ich las mich querbeet durch den Kanon der New-Age-Literatur: Carlos Castaneda, Edgar Cayce, Heinz Körner, Sri Aurobindo, Maharishi Mahesh Yogi, Fritjof Capra, Erich Fromm …

»Das wird also dein nächstes Buch?« fragte Andrea.

»Schon möglich.«

»In dem du dich über das alles lustig machst?«

»Ja. Warum auch nicht?«

»Weil nicht alles Spirituelle Quatsch ist.«

»Es ist aber auch nicht jeder Quatsch spirituell.«

»Und was ist mit Leuten, denen das, was du für Quatsch hältst, heilig ist?«

»Die müssen damit leben, daß es auch Leute gibt, denen das Quatschmachen heiliger ist als scheinheiliger Quatsch.«

»Du hast echt auf alles ’ne Antwort«, sagte Andrea, und das fand ich unfair, denn ich hatte mich nur ihren Fragen gestellt und im Gegensatz zu den Schlaumeiern aus der Esoterikabteilung nie behauptet, daß ich auf alles eine Antwort hätte. Schon gar nicht auf die letzten Fragen.

Mein Zettelkasten füllte sich mit Schrottzitaten. Beispielsweise aus dem Bestseller »Ganz entspannt im Hier und Jetzt«, den der einstige Stern-Journalist Jörg Andrees Elten alias Swami Satyananda geschrieben hatte, nachdem er in Poona erweckt, aber auch verprügelt worden war:

Inzwischen habe ich begriffen, daß Schlägereien kein Selbstzweck sind, sondern ein Mittel, um dich ins Hier und Jetzt, zur Totalität, zu voller Awareness zu bringen.

Eine prima Ausrede: »Der Faustschlag war kein Selbstzweck, Euer Ehren. Ich wollte den Kläger zu voller Awareness bringen!«

Und nicht anders als Reshad Feilds zappeliger, nach weltlichen Erfolgen gierender Meister träumte auch Swami Satyananda von einem Triumph im Diesseits:

Erst wenn Hunderttausende zu Bhagwan kommen, werden die Reporter die flachen Surfbretter ihres Verstandes auf die hochwogende Woge des Masseninteresses werfen.

Solche Deppensätze konnte ich 1:1 in meinen Roman übernehmen.

 

Und was gab es Neues aus der Welt der Mode?

Summerdarks. Dezente Farben und fröhliche Floralmuster, weich fließende Stoffe und klare Linien, kurze enge Formen und lange Flatterröcke. Club-Style. Frische Farben. Heavy Single.

Aha.

 

Manchmal sehnte sich Andrea, wie sie sagte, »doch schon sehr nach einem richtigen Badezimmer«, und ich konnte sie verstehen. Das durch zwei Holzwände und einen Vorhang abgeschirmte Waschbecken im nicht beheizbaren Flur war nur ein schwacher Ersatz. Aber deswegen zahlten wir ja auch bloß 180 Mark Miete für unsere Vierzimmerwohnung mit Außentoilette.

 

Am Internationalen Frauentag war im Berliner Lokalteil der taz eine »Pornoseite« erschienen, die man außerhalb Berlins leider nicht zu Gesicht bekommen hatte. Daraufhin waren die empörten »taz-Frauen« in den Streik getreten, und einige der männlichen Mitarbeiter hatten Selbstkritik geübt:

Ich hab vorher auch nicht diese Sensibilität gehabt, – also daß in dieser Seite natürlich wesentlich mehr drinsteckt, in dieser Situation, in dieser Zusammenstellung, zu diesem Zeitpunkt …

Ich empfinde das nur als ne Nabelschau, was jetzt hier passiert. Wenn, dann müßte das auf n anderes Niveau, daß sich da gesellschaftliche Konflikte eher widerspiegeln, auf ne andere Ebene gehoben werden als die, wie sie jetzt hier läuft …

Ich finde das von dir unheimlich selbstgerecht. Das ist wieder typisch männlich …

Ich für mich gehe davon aus, daß einer der gravierendsten Sozialisationsfehler, die Männern so ansozialisiert werden, damit auch mir, darin besteht, sich auf Frauen zu fixieren …

Ein heilloses Geschwalle von Typen, die sich gegenseitig mit ihrem Abscheu vor der Pornographie zu übertrumpfen versuchten.

Die Reaktion hier in den Gängen und die Diskussion darüber, – das hat mein Verhältnis dazu auf ne andere Stufe gehoben. Ich betrachte die Reaktionen auf diese Seite, von den Frauen, die da gestreikt haben, auch als Reaktionen aus nem Frust heraus …

Ich denk da muß man sich schon drüber einig sein, auf was für ner Ebene man diskutiert. Ich fand die Seite auch daneben …

Genau das gleiche ist mir mal vor Jahren passiert, da hat eine Freundin zu mir gesagt, sie hätte Angst, daß ich sie vergewaltigen kann, das hat mich total kalt getroffen … ich wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, daß sowas sein kann – ich ne Frau vergewaltigen … Aber die Situation ist einfach die … das ist da, es ist also ständig da … daß wir also mit diesem Umgang mit Sexualität, diese Darstellung von Frauen, daß wir da Gewalt ausüben und daß wir allein dadurch, daß Frauen eben vergewaltigt werden, potentielle Vergewaltiger sind …

Wie erfrischend wirkte dagegen Andreas Bemerkung: »Also, diese Pornoseite hätte ich gern mal gesehen!«

 

Die Frage der Frankfurter Rundschau, was von der Studentenbewegung geblieben sei, beantwortete der Philosoph Jürgen Habermas kurz und knapp: »Frau Süssmuth.«

Vielleicht, weil Rita Süssmuth als christdemokratische Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit die Verwendung von Kondomen propagiert hatte.

 

Mama und Papa inserierten in der Nordwest-Zeitung, daß sie ein Haus in Oldenburg suchten. Seit Papas Pensionierung bestand für die beiden ja auch wirklich kein Grund mehr, in Meppen wohnen zu bleiben. Mama wollte sowieso schon lange von dort weg.

 

Was man so für Postwurfsendungen bekam, zum Beispiel vom Autohaus Krzykowski:

Achtung! Radiergummi geschärft! Dreimal dürfen Sie rubbeln! Allerdings: Rubbelkönig kann nur werden, wer nicht mehr und nicht weniger als drei Felder entrubbelt. Zuviel gerubbelt, ist am Ziel vorbeigerubbelt. Da rubbeln wir kein Auge zu. In diesem Sinne: Fertig machen zum Rubbeln!

Und mit solchem Geblödel sollten Kunden gewonnen werden? Wenn ich die Absicht gehabt hätte, ein Auto zu kaufen, wäre ich zu einem seriöseren Händler gegangen.

 

Die Truppen des Diktators Saddam Hussein hatten, wenn man den Nachrichtenmeldungen trauen durfte, in einem Ort namens Halabdscha Tausende irakischer Kurden mit Senfgas massakriert. Und in Frau Morgensterns Garten hatte die Zeit der Krokusblüte begonnen.

Wie viele Kilometer lagen zwischen Oldenburg und Halabdscha? Dreitausend? Viertausend?

 

Unser Alltag sei ihr »irgendwie zu einförmig«, sagte Andrea, aber er hätte schlimmer sein können. Täglich ein paar Stunden Arbeit in der Spedition (ich) bzw. als Babysitterin und Putzfrau (Andrea), im übrigen viel freie Zeit fürs Schreiben, Lesen und Klavierspielen (ich) bzw. für die Beschäftigung mit Astrologie und Bauchtanz (Andrea), morgens Brötchen, mittags Müsli, nachmittags Tee und am Abend was Warmes, vielleicht ein Spaziergang oder ein Kinobesuch, in Ausnahmefällen auch mal ein Fernsehkrimi und zu gegebener Zeit Sex.

Was sollte falsch an einem solchen Leben sein? Mir fehlte nichts zum Glück außer einem Verlag. Und mehr Geld für Bücher.

 

In seiner »Hinkepott« betitelten Autobiographie, die ich für das Oldenburger Stadtmagazin Diabolo besprechen wollte, ging der Zeichner Horst Janssen aufs Emsland ein:

Diese Geographie wäre mir gleichgültig, gäbe es da nicht den Punkt Meppen, wo sich die Hase mit der Ems vereinigt.

Als Jugendlicher war er ab 1942 in der emsländischen Kleinstadt Haselünne in einer »Nationalpolitischen Erziehungsanstalt« gedrillt worden. Des Emslands gedachte er trotzdem noch immer mit Sympathie:

Es ist das melancholischste, tiefatmigste, dunkelste und hellste Land der Welt und aller Galaxien. Es stinkt nach Moor und duftet nach Kiefer. Es ist rostig und maigrün, es ist rosaviolett wie die Lüneburger Heide und so hell und blau wie eine Sommermarine; es ist so unendlich weit, voller knuffiger Enge; es ist so verschrottelt, uralt und voll ewigem Wind, der sich an sirrenden Moorsommertagen just hier so gern schlafen legt, daß es so still ist wie in Vakua. Vor, über und in Allem ist es aber ein hohes Land. Über diesem Land, das sah ich zu meiner Zeit, ist jene Öffnung, durch die allein man den Himmel sieht. Und in diesem Loch werden alle Farben zu dem schönsten Grau zusammengemischt, um sich in Licht zurückzuverwandeln. Die dicken Wolken kann man getrost der Erde zurechnen.

Eine mir gänzlich neue Sichtweise. Man konnte diese Landschaft also auch lieben!

 

Mama und Papa kamen zum Tee. Sie hatten ein Haus in Oldenburg-Osternburg besichtigt: Baujahr 1973, Wohnzimmer mit Kamin und Sichtbalken, Eßzimmer, Küche, Abstellraum, zwei Bäder und fünf weitere Zimmer sowie ein Partyraum mit Bar. Außerdem eine Doppelgarage mit Abstellkammer. Festpreis 340000 Mark.

»In den Garten müßte man allerdings ziemlich viel Arbeit reinstecken«, sagte Mama. »Den haben die jetzigen Besitzer einfach verlottern lassen …«

Und nach Papas Ansicht war der Dachstuhl morsch.

 

Bei meiner sukzessiven Gesamtlektüre der Fackel war ich im November 1921 angelangt. Damals hatte Karl Kraus seinen bitteren Spott über die Deutschen ausgegossen, die Kaiser Wilhelm II. wiederhaben wollten:

Gewiß, ein Monarch kann auf Regierungsdauer ein Trottel sein, das widerstreitet nicht dem monarchischen Gedanken. Wenn er sich aber auch in der Zeit, da er kein Monarch mehr ist, wie ein Trottel benimmt, nämlich durch die Art, wie er wieder ein Monarch werden möchte, so sollte man doch meinen, daß auch die Anhänger des monarchischen Gedankens ihm die Eignung hierzu absprechen müßten. Freilich huldigen ja die Anhänger des monarchischen Gedankens auch der Anschauung, daß ein Trottel, der einmal ein Monarch war, gar nicht aufgehört habe, einer zu sein, nämlich ein Monarch, so daß ihn der Umstand, daß er sich auch während der Unterbrechung als ein solcher gezeigt hat, nämlich als ein Trottel, nicht hindern könne, der Monarch zu werden, der er immer war und ist. Woraus ferner hervorgeht, daß auch die Anhänger des monarchischen Gedankens nie aufhören, das zu sein, was sie sind und immer waren, nämlich Anhänger des monarchischen Gedankens.

So unwahrscheinlich es auch sein mochte, daß Wilhelm II. das gelesen hatte. Ich hätte sehr gern sein Gesicht dabei gesehen.

 

Nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg erklärte der christdemokratische Ministerpräsident Lothar Späth, die CDU habe »den richtigen Kurs gefahren«, und der Grüne Rezzo Schlauch gab kund, seine Partei habe »einen Spagat gefahren«, obwohl gerade dieser Mann nicht so aussah, als ob er körperlich zu so etwas imstande wäre.

 

Jeweils ein Exemplar meines fertigen Bildergeschichtenbuchs schickte ich an die Verlage Haffmans, Rasch und Röhring, Greno, Semmel und Zinnober.

Für eine baldige Antwort wäre ich Ihnen sehr verbunden!

Wie lange ich bei Rhenus allein für das Porto ochsen mußte, rechnete ich lieber nicht aus.

Andrea fand ja, daß es genügt hätte, erst einmal nur Haffmans zu bemustern und dann abzuwarten, aber ein paar Eisen mehr im Feuer konnten nicht schaden.

 

In der Zeit machte sich der Kritiker Andreas Kilb über Ulla Hahns Gedichtband »Unerhörte Nähe« lustig. Doch genaugenommen hätte er sie nur zitieren müssen:

Danke ich brauch keine neuen / Formen ich stehe auf / festen Versesfüßen und alten / Normen Reimen zu Hauf // zu Papier und zu euren / Ohren bring ich was klingen soll / klingt mir das Lied aus den / Poren rinnen die Zeilen voll // und über und drüber und drunter / und drauf und dran und wohlan / und das hat mit ihrem Singen / die Loreley getan.

Heine und die Folgen! Erschienen war dieser Summs in der Deutschen Verlags-Anstalt.

 

Wenn ich im Aldi oder auch in anderen Supermärkten in der Schlange weit genug vorgerückt war, stellte ich mich in die Lücke zwischen dem Laufband und meinem Einkaufswagen, um meine Einkäufe möglichst weit vorn hinzulegen, damit die Kassiererin nachher nicht ewig aufs Pedal zu treten brauchte. Aber wenn ich dann an meine Ursprungsposition hinter dem Einkaufswagen zurückkehren wollte, hatte der Kunde hinter mir seinen eigenen Einkaufswagen in neunundneunzig von einhundert Fällen schon so weit nach vorn geschoben, daß das nicht mehr ging.

Wie schafften es solche Spatzengehirne überhaupt, sich zu vermehren? Dazu bedurfte es doch einer ganzen Serie zielgerichteter und gut aufeinander abgestimmter Handlungen?

Andrea warf mir vor, daß ich arrogant sei. »Es sind nun mal nicht alle Leute so schlau wie du! Und wenn du selber mehr Verstand hättest, dann würdest du nicht nach jedem kleinen Einkauf ’ne halbe Stunde rumjammern über die Blödheit der Menschen!«

 

Bei Rhenus mußten Matthias und ich mal wieder die großen Kabeltrommeln sortieren, die sich auf dem Brachland hinter der Halle angesammelt hatten.

Tiefe, ölig schimmernde Pfützen und der Boden ein einziger Brei. Nach anderthalb Stunden sah Matthias wie ein Golem aus. Und ich bestimmt nicht besser.

 

Im FAZ-Magazin gab der Schauspieler Helmut Lohner bekannt, was für ihn das größte Unglück sei:

Die immer größer werdende Unglaubwürdigkeit der Politiker.

Und wann war die Unglaubwürdigkeit der Politiker kleiner als 1988 gewesen? 1958? 1928? Im Dreißigjährigen Krieg? Oder während der Regentschaft des Königs Echnaton?

 

Ich kam zwar rasch voran, als ich nach Meppen trampte. Aber diese Autoradiokacke!

»Hejo, Mango, Fanta Mango, klingt’s über das Meer. Wie die Sonne auf Hawaii schmeckt die tolle Fanta Mango. Fanta Mango, klingt’s über das Meer. Eins, zwei, drei, und die Südsee kommt, ah, Fanta Mango, klingt’s über das Meer …«

»Ah – auch schon probiert? Die tolle Fanta Mango? Da, wo es Fanta gibt. Fanta Mango!«

»Mahlzeit! Hier – Lotto für mich und für Tom!«

»Ist ja nett, daß der Chef für den Lehrling seinen Lottoschein abgibt …«

»Nett! Als Chef bin ich der einzige im Betrieb, der noch Botengänge machen darf. Kucken Sie mal in die Lehrverträge!«

»Lotto, Lotto, jede Woche Lotto. Verpaß deine Chance nicht!«

»Ich will so bleiben, wie ich bin …«

»Du darfst!«

»Will so bleiben, wie ich bin …«

»Du darfst!«

»Ich hab Du darfst für mich entdeckt …«

»Du darfst!«

»Na sowas – hat mein Mann doch tatsächlich meinen Du-darfst-Fruchtjoghurt gegessen. Dabei sagt er immer, er mag keine kalorienreduzierten Sachen. Aber beim Joghurt ist das natürlich was anderes. Da sind ja auch ganze Fruchtstücke drin.«

»Du darfst! Alles was mir schmeckt!«

»Das sollte allen zu trinken geben! Hier swingt der Kaffee in der Tasse, denn hier kommt Swing, der freche Kaffee von Jacobs! Aber Vorsicht, meint Herbert, der schmeckt so schwarz, daß man kaum die Hand vor Augen erkennt. Das ist Swing. Ob mit Milch oder nicht – egal. Swing! Der Kaffee mit dem schwarzen Charakter. Swing! Der freche Kaffee von Jacobs. Denn Frech kommt weiter!«

»Ich hab mir grad ’ne Waschmaschine gekauft, so groß wie ’n Sparschwein. Die Arielette von Ariel flüssig. Mit der geht bis zu zwanzig Prozent weniger Waschmittel in der Waschmaschine verloren. Denn sie wirkt sofort mitten in der Wäsche. Fast wie ’ne kleine Waschmaschine in der Waschmaschine. So wird’s mit Ariel flüssig porentief rein.«

»Die schönsten Pausen sind lila – Lila Pause oladio!«

»Milka Lila Pause, die Schokoriegel, die so zart und crisp sind. Lila Pause Joghurt-Crisp, Lila Pause Nougat-Crisp und Lila Pause Korn-Crisp. Lila Pause Milka. Ein Genuß, bei dem man alles vergißt!«

»Die schönsten Pausen sind lila – Lila Pause oladio!«

Zum Dreinschlagen.

 

In Hannover hatten Mama, Papa und Volker die Computermesse CeBIT besucht. Das meiste sei allerdings Tinnef gewesen, sagte Papa. »Technisches Spielzeug für Kindsköpfe. Volker würde jedenfalls besser daran tun, sich auf den Hosenboden zu setzen, als seine Zeit mit solchen Kinkerlitzchen zu verbringen!«

 

Kartoffelsuppe mit Würstchen und Lauch und gerösteten Weißbrotwürfeln, die sich Croûtons nannten …

Die Körnchen, die einem beim Himbeerjoghurtessen zwischen den Zähnen steckenblieben, gingen nur mit der Zahnbürste wieder raus.

 

An seinem letzten Arbeitstag auf der Meppener Erprobungsstelle war Papa von seinen Kollegen mit einem Buch bedacht worden. Hoimar von Ditfurth: »Unbegreifliche Realität. Reportagen Aufsätze, Essays eines Menschen, der das Staunen nicht verlernt hat«.

Zur Erinnerung an den heutigen Tag von den Restmitgliedern des ehemaligen FBWM III aus dem Zuggebäude 1a.

Bundeswehr-Chinesisch.

 

Ein anderer Kollege hatte Papa zum Abschied einen Brief geschrieben:

Lieber Herr Schlosser, wir kennen uns nun schon lange, auch aus der Zeit unserer gemeinsamen Tätigkeit hier in Koblenz. Sie waren seinerzeit Referatsleiter für Waffenleitung, ich Referatsleiter für leichte Waffen. Ich weiß aus dieser Zeit, daß Sie große Verdienste insbesondere um den nun schon legendären Leo I und seine Leistungssteigerung haben, und ich weiß, daß es auch seinerzeit nicht leicht war, die sachlichen Notwendigkeiten durchzusetzen, so z.B. beim Feuerleitrechner. Deshalb können Sie heute umso mehr stolz darauf sein, daß der Leo I international hohes Ansehen genießt und viele Schießwettbewerbe gewonnen hat.

Davon, daß er auf das hohe internationale Ansehen dieses Panzers stolz gewesen wäre, hatte ich Papa nie etwas angemerkt.

Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Sie Ihren Ruhestand recht genießen können und sich die mit dem Lebensfortschritt verbundenen Sorgen für Sie auf ein Minimum beschränken werden, so daß Sie dann weitgehend unbeschwert sich neuen Interessen zuwenden und diese gemeinsam mit Ihrer Familie genießen können.

Richard Schlosser, der Genußmensch!

Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns später bei dieser oder jener Gelegenheit in Meppen treffen und ich dann in das zufriedene Gesicht eines glücklichen Pensionärs blicken darf.

Ungeachtet der Sorgen, die mit dem »Lebensfortschritt« einhergingen. Ein schnurriges Synonym für Altern und Vergreisen.

 

Während Papa im Keller Blumenkästen zimmerte, nahm Mama sich in der Küche das angelaufene Silberbesteck vor.

Sidol Metallpolitur.

»Auch für Papa ist das Haus inzwischen viel zu groß«, sagte Mama. »Wir brauchen was Kleineres und Pflegeleichteres! Und zwar in einer Stadt, in der ich mich wohler fühle als hier. Ich will in keiner katholischen Gegend mehr wohnen!«

»Und wenn Papa sich weiterhin sträubt?«

»Dann müssen wir uns eben gütlich trennen.«

 

In der ZDF-Sendung Das literarische Quartett rührte Marcel Reich-Ranicki die Trommel für Ulla Hahn: »Sie hat bewiesen, daß man melodiöse, schöne Gedichte schreiben kann!« Und: »Kennen Sie noch einen Lyriker, über dessen Band man so lange reden kann heute?«

Von Robert Gernhardt schien er noch nie was gelesen zu haben.

 

Vier- oder fünfmal mußte ich Papa im Keller helfen: Bretter anreichen, Pinsel auswaschen, PVC-Folie zuschneiden, Sägespäne auffegen, 3,5x30-mm-Schrauben zusammensuchen, Spachtelmasse anrühren …

Wie wäre Papa in seiner Werkstatt wohl mit begabteren Handlangern als mir umgesprungen? Hätte er auch Thomas Alva Edison als »Tränentier«, Wernher von Braun als »Weihnachtsmann« und Leonardo da Vinci als »Rhinozeros« tituliert?

 

Der Spielfilm »Die Körperfresser kommen«, der am Samstag im Spätprogramm lief, war so spannend, daß sich einem die Därme verknoteten, aber Papa schlief dabei ein.

Den Bösen, gegen die die kleine Schar der Guten keine Chance hatte, fiel selbst die schöne Elizabeth Driscoll (Brooke Adams) zum Opfer, und am Ende wurde die letzte Überlebende (Veronica Cartwright) von dem Duplikat eines verstorbenen Freundes (Donald Sutherland) mit einem Schrei, der sogar Papa aus dem Schlaf riß, an die außerirdischen Invasoren verraten.

 

In der Nadorster Straße erwartete mich das Päckchen, das ich dem Verlag Rasch und Röhring zugesandt hatte. Es war mit dem Vermerk zurückgekommen:

Annahme verweigert

Eine gute Methode, wenn man unverlangte Einsendungen abschmettern wollte. Womit man natürlich das Risiko einging, daß man aus Bequemlichkeit einen künftigen Klassiker an die Konkurrenz verlor.

 

Um halb drei müsse sie zu ihrer Putzstelle, sagte Andrea, und es wäre nett, wenn ich die Wäsche aufhängen könne. »Ich bin wohl so gegen sechs oder halb sieben wieder da, um dich zu verschmausen …«

 

Der »freche Kaffee von Jacobs« inspirierte mich zu einer Zeichnung: Vor einem müden Mann mit schweren Tränensäcken und Kartoffelnase steht eine volle Kaffeetasse, aus der sich eine Sprechblase erhebt: »Losloslos, mach die Augen auf, du mieser alter unrasierter Drecksack! Alte fette graue verschissene Ratte! Zack, zack!«

Darunter der Slogan:

MUCKEFUCK!

Der frechste von allen.

Dieses Blatt schickte ich der Redaktion des Hamburger Satiremagazins Kowalski zu. Vielleicht gefiel das da ja wem.

 

Nicht abgeneigt gewesen wäre ich einem Seitensprung mit der schönen Eiskunstläuferin Katarina Witt. Aber unsere Wege wollten sich einfach nicht kreuzen.

 

Für meinen esoterischen Roman war mir auch die »Autobiographie eines Yogi« von Nutzen. In diesem Weltbestseller führte der erleuchtete Meister Paramahansa Yogananda einen schlagenden Beweis für die Wahrheit der Lehre von der Reinkarnation ins Feld:

In zahlreichen Bibelstellen wird auf das Gesetz des Karma und seine logische Folge, die Wiedergeburt, angespielt, so z.B. in folgender: »Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.« (1. Mose 9,6) Wenn jeder Mörder selbst »durch Menschen« getötet werden muß, so wird diese Vergeltungsmaßnahme in den meisten Fällen mehr als eine einzige Lebensspanne in Anspruch nehmen. Die heutige Polizei ist einfach nicht schnell genug!

Obwohl sie sich gewiß auch in Indien alle Mühe gab.

 

Zu ihrem 25. Geburtstag wünschte sich Andrea von mir nur eins: Ich solle nicht mehr »Tante Dagmar«, »Tante Luise«, »Tante Gisela«, »Tante Therese«, »Tante Gertrud« und »Tante Doro« sagen und auch nicht mehr »Onkel Rudi«, »Onkel Walter« und »Onkel Dietrich«, sondern meine Tanten und Onkel einfach beim Vornamen nennen. »So wie jeder Mensch, der aus dem Vorschulalter raus ist. Du sagst ja auch nicht ›Schwester Renate‹, ›Schwester Wiebke‹ und ›Bruder Volker‹ …«

Eine Ausnahme durfte ich bei meiner Großtante Hanna machen: Bei ihr war der Begriff »Tante« unauflöslich mit dem Namen »Hanna« verschweißt. Und auch Oma Jever und Oma Schlosser blieben Oma Jever und Oma Schlosser.

 

Im Programmkino Casablanca sahen wir uns die Komödie »Tote tragen keine Karos« an, in der Steve Martin als Privatdetektiv Rigby Reardon u.a. mit Barbara Stanwyck, Humphrey Bogart, Cary Grant, Bette Davis und James Cagney zusammentraf. Am komischsten fand ich die Szene, in der Reardon fast eine Minute lang Kaffeepulver aus einer scheinbar unerschöpflichen Packung in einen Kochtopf schüttete.

 

Lingam und Yoni. Romeo und Julia. Yin und Yang.

If I’m not too far off

I think we did this once before …

Ich konnte nie genug davon bekommen. Oder allenfalls für ein paar kurze Stunden.

 

In Kowalski stellte Richard Kähler eine These auf, die mir stichhaltig erschien:

Die ganze Computertechnikerei ist in Wirklichkeit ein gigantisches, weltweites Arbeitsbeschaffungsprogramm von Männern für Männer, die keine Freundin haben.

Solche Sätze hätten mal auf Würfelzuckerpapier gedruckt werden sollen. Und nicht immer nur irgendwelche abgedroschenen Aphorismen von Abraham a Santa Clara oder Blaise Pascal.

 

Sehr erheiternd war ein kleiner Aussetzer der Tagesschau-Sprecherin Dagmar Berghoff. Statt »WTC-Turnier« hatte sie aus Versehen »WCT-Turnier« gesagt, und danach konnte sie vor lauter unterdrücktem Lachen kaum noch die Lottozahlen ablesen.

 

Als ich unseren Küchenmülleimer leeren ging, sah ich den Vollmond.

Breitest über mein Gefild

Lindernd deinen Blick …

Ich rief Andrea nach draußen. Diesen Anblick durfte sie sich nicht entgehen lassen.

 

Renate rief an und berichtete, daß ihre Katze Missy sieben Junge geworfen habe. »Jetzt lassen wir sie aber sterilisieren!«

Renate und Olaf waren hart im Nehmen. Wer halste sich denn nach drei Kindern auch noch acht Katzen auf?

 

Der Oldenburger Ostermarsch endete in der Fußgängerzone am Lefferseck. Auf der Abschlußkundgebung spielte dort ein Gitarrenschrammler-Duo namens »Kuddel und Jan«, und die Festrednerin Dorothee Sölle rief zur Begrüßung ins Mikrofon: »Liebe Friedensleute!«

Sie trug einen rot-braun-grün-orange-gestreiften Poncho und redete Stuß: »Die in den Herzen dieser Deutschen verwurzelte Friedensliebe läßt sich nicht mehr zurückdrehen …«

Als gewaltfrei konnte man den Umgang dieser Pazifistin mit der Sprache und der Logik wirklich nicht bezeichnen. Über die nicht mehr zurückdrehbare Friedensliebe der Deutschen hätte Dorothee Sölle jedenfalls anders gedacht, wenn sie mal in einen der Züge gestiegen wäre, die laut Fahrplan besonders geeignet »für Bundeswehr-Familienheimfahrten« sein sollten.

 

Selbst in die Fernsehnachrichten schlich sich das Frömmeldeutsch ein: Vom ZDF erfuhr man, daß Willy Brandt von seiner Moskaureise »ein zusätzliches Stück Hoffnung« mitgebracht habe.

Andrea fragte mich, ob ich sonst keine Sorgen hätte. »Was bringt dir das, wenn du dich darüber aufregst, wie andere Menschen reden?«

»Das sind nicht einfach andere Menschen, sondern Journalisten, die dafür bezahlt werden, daß sie in klarer Sprache politische Fakten erörtern. Und nicht dafür, daß sie rumsülzen wie halbdebile Kirchentagsbesucher.«

»Dann mach die Kiste doch aus!«

Welch brillante Idee – man halte sich die Ohren und die Augen zu und singe »Lalala«, und schon sind alle Probleme gelöst.

 

Ich zog mich in mein Zimmer zurück und übte Klavier.

Love makes me treat you the way that I do

Gee Baby, ain’t I good to you …

»Nu! Nu!« schrie Frau Morgenstern von draußen durchs zue Fenster. »Scheene Musik!«

 

Nach der Arbeit fuhr ich zu Matthias in die Lindenstraße mit, und er las mir beim Bier was von seinem neuen Lieblingsschriftsteller Flann O’Brien vor. Eine Geschichte über die gewerbliche »Buchhandhabung« für Leute, die keine Zeit zum Lesen hätten, aber Wert darauf legten, prestigeträchtig zerlesen wirkende Bücher zu besitzen.

Handhabung De Luxe. Jeder Band wird übel zugerichtet, die Buchrücken der kleineren Bände werden in einer Weise beschädigt, die den Eindruck entstehen läßt, sie seien in Brust- oder Hosentaschen herumgetragen worden, eine Passage in jedem Band wird mit Rotstift unterstrichen plus Ausrufungs- oder Fragezeichen am Seitenrand, ein altes Programm vom Gate Theatre wird jedem Band als vergessenes Lesezeichen beigelegt (3 Prozent Ermäßigung, wenn alte Programme des Abbey Theatre akzeptiert werden), nicht weniger als dreißig Bände werden mit alten Kaffee-, Tee-, Porter- oder Whiskeyflecken behandelt und nicht weniger als fünf Bände mit dem gefälschten Namenszug des Autors versehen.

Es gebe auch »Le Traitement Superbe«, sagte Matthias. Dazu gehörten handschriftliche Randbemerkungen wie »Gut gegeben!« oder »Na, na, na«.

Später setzten wir uns zu Heike rüber. In ihrem Zimmer lag ein Buch mit Lyrik von Lesben für Lesben herum. Alles in Kleinschreibung. Am häufigsten schienen die Wörter »schlange«, »lilith«, »lippen«, »orchidee«, »schenkel«, »muschel«, »mond« und »delta« vorzukommen.

Als ich eines dieser Gedichte rezitierte, riß Heike mir das Buch aus den Händen und fauchte mich an: Das süffisante Grinsen könne ich mir schenken! »Wenn Frauen nach einer neuen Sprache für ihre Gefühle suchen, dann steht euch Wichsern kein Urteil darüber zu!«

Austeilen konnte sie immer noch so gut wie in der Zeit, als sie meine Freundin gewesen war.

 

Hin und wieder sah ich meinen Vetter Robert auf seinem Liegerad durch den Stadtverkehr karriolen. Merkwürdig, daß der TÜV solche Kisten überhaupt zuließ.

 

Meine Speditionsarbeiterschwielen cremte ich mit Ringelblumensalbe ein, die aber nicht viel half. Ich hatte Pranken wie der Homo heidelbergensis.

 

Ich schrieb dann auch mal wieder eine Geschichte über meinen fiktiven Freund Bruno: Er hat die Antwort auf einen Liebesbrief erhalten und will sie sich vorlesen lassen …

Ich zerschnitt, mir der Bedeutung dieses intimen Vorgangs für Brunos überspannte Nerven und den Fortgang unserer Freundschaft durchaus bewußt, den Umschlag und zog den Brief – es war nur ein einziges Blatt – hervor. Bruno zündete sich eine Zigarette an, und es entging mir nicht, daß seine Finger zitterten.

Ich entfaltete das Blatt und strich es glatt.

»Vorlesen?«

»Vorlesen.«

»Also«, sagte ich und begann. »An alle, die für den Frieden sind!«

Daß Bruno zusammenzuckte, war nicht zu übersehen, aber nun mußte er mitten hindurch.

»Dies ist ein Kettenbrief. Sorge bitte dafür, daß die Kette nicht abreißt. Schreibe bitte auf eine Karte: WIR WOLLEN FRIEDEN FÜR DIE WELT

In der Küche pfiff der Teewasserkessel, und ich preschte hin, bevor das Pfeifen Andrea weckte.

 

Was zunahm, war die Zahl der Männer mit einem weintraubenbündelförmigen, an einer Gürtelschlaufe festgehakten Schlüsselbundgehänge an der Hüfte, das bei jedem Schritt klirrte. Als wären das alles Gefängnisaufseher. Doch was hatten sie groß zu verschließen außer der Wohnungstür, der Haustür und der Autotür? Die Briefkastentür vielleicht noch und die Kellertür, aber sonst?

 

In der NDR Talk Show diskutierten der halbseidene CDU-Rechtsaußen Heinrich Lummer, der dubiose Barschel-Affären-Veteran Reiner Pfeiffer, der Showmaster Rudi Carrell und der Rhetorikprofessor Walter Jens über »Glaubwürdigkeit in der Politik«.

Bombenthema, Bombenbesetzung. Fehlten eigentlich nur noch Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt.

 

»Dein Vetter Gustav hat um einen Rückruf gebeten«, sagte Andrea, als ich weichgeregnet von der Arbeit kam. »Dem geht’s wohl gerade nicht so blendend …«

Ich besorgte Bier und besuchte ihn in seiner Rumpelkammer in der Bahnhofsallee.

Die Sache war die, daß er seine Stelle in der Cloppenburger Anwaltskanzlei verloren hatte. »Jetzt b-b-b-bin ich w-w-wieder a-a-arbeitslos«, sagte er.

Ich hatte ihn lange nicht mehr so stottern gehört.

Das gab sich aber nach dem ersten Bier, und nach dem zweiten kam er richtig in Schwung. Wie er zum Beispiel einmal dem FDP-MdB Detlef Kleinert begegnet sei: »Das war in Hannover auf einer Party deines Onkels Rudolf, der ja, wie du weißt, mit ihm gemeinsam eine Kanzlei innehat. Der besagte Herr Kleinert hatte sich bereits einige Schoppen Wein zugerüstet, und er stand da mit dem Ellenbogen an die Wand gelehnt und informierte alle, die es hören oder auch nicht hören wollten, mit seinem dröhnenden Bariton darüber, daß er seinem Parteifreund Werner Maihofer in dessen Amtszeit als Bundesinnenminister des öfteren die Meinung gegeigt habe …« Gustav senkte seine Stimme um eine Oktave, um Kleinert nachzuäffen: »›Herr Maihofer!‹ hab ich gesagt, ›das können Sie doch nicht machen, Herr Maihofer!‹ hab ich gesagt …«

 

Auf dem Sonntagsflohmarkt neben dem Famila-Center kaufte ich mir zwei Romane des Franzosen Maurice Leblanc, in denen der »Gentleman-Gauner« Arsène Lupin die Hauptrolle spielte. Champagneresk, diese Krimis. Sowas konnte in Deutschland keiner. Oder ich wußte nichts davon.

 

Zum 26. Geburtstag bekam ich von Andrea eine Schreibtischunterlage, aus Meppen zwei Oberhemden, von Dagmar die neue Cohen-LP und von Oma Jever zwanzig Mark:

Ich weiß, daß Du ein glücklicher Mensch bist. Vielleicht hilft der beiliegende Schein dazu, daß das Glück noch ein bißchen gefestigt wird!

Wir festigten es, indem wir essen gingen: Ente knusprig gebacken mit acht Kostbarkeiten für zwei Personen. Passenderweise wurden dazu Glückskekse mit Spruchweisheiten gereicht. Die für Andrea lautete:

Fröhlichkeit und Mäßigkeit sind die zwei besten Ärzte.

Und die für mich:

Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist ein Lächeln.

Wäre nicht ein Kinnhaken der kürzeste gewesen?

 

Von Cohens neuen Songs mochte ich »Take This Waltz« am liebsten.

Now in Vienna there are ten pretty women

There’s a shoulder where Death comes to cry …

Und wie viele Jahre mußte man nun wieder auf die nächste Platte warten? Vier? Oder gar fünf?

 

In der Innenstadt verbreitete sich ein Irrer über die nahende Apokalypse: »Dem Adolf habt ihr gehorcht, ihr Versager! Und heute gehorcht ihr dem Helmut! Aber wenn das siebente Siegel bricht und der erste Engel in seine Posaune bläst, dann wird ein Hagel und Feuer, mit Blut gemengt, auf die Erde fallen! Und dann wird euch keine Haftpflichtversicherung und kein Penicillin mehr was nützen! Ihr Schweinepack! Ihr dient der Hure Babylon! Denn von dem Wein des Zorns ihrer Hurerei haben alle Heiden getrunken! Hat jemand Ohren, der höre!«

Er hatte seine braune Lederjoppe lose über den Schultern hängen und die Hände in den hinteren Hosentaschen stecken, während er da lang lief und herumschrie.

 

Als um vier Uhr morgens, wie üblich, mein Wecker klingelte, war Andrea verschwunden.

Ich hätte ihr zu laut geschnarcht, sagte sie später, und da sei sie halt ins Gästezimmer umgezogen. »Und dann hast du auch noch wie verrückt mit den Zähnen geknirscht …«

 

Unter aller Kanone waren Tag für Tag die politischen Karikaturen von Felix Mussil in der Frankfurter Rundschau. Auch diesmal wieder: Helmut Kohl trägt ein großes Paket, auf dem »Steuerreform« steht, und schreitet an einem Loch vorüber, neben dem ein Deckel liegt, auf dem »Niedersachsen« steht. Aus dem Loch ragt eine Hand, die einen Stock hält, an dem ein Zettel hängt, auf dem »Sozialhilfekostenfrage« steht, und über diesen Stock droht Kohl zu stolpern.

Es konnte nicht jeder Karikaturist ein Honoré Daumier sein, aber wenn man so mörderisch untalentiert war wie Felix Mussil, hätte man doch wirklich besser einen anderen Beruf ergreifen sollen.

 

Ich trampte nach Göttingen, um an einer Fete teilzunehmen, die in der Wohngemeinschaft meines alten Konfraters Hermann stieg.

Mit einer Flasche Bier in der Hand stand ich dort vor dem Bücherregal eines neu in die WG eingezogenen Geologiestudenten: »DuMonts Bastelbuch der Drachen«, »Einstein für Anfänger«, »Die Grenzen des Wachstums«, »Nach uns die Zukunft«, »Utopie der Barrikaden«, »Glück des Fliegens«, »Warten auf Godot«, »Worte des Statthalters Kohl«, »Das Heyne-Buch der Zimmerpflanzen«, »Die offenen Adern Lateinamerikas«, »Die Kunst des Liebens«, »Haben oder Sein«, »Entmündigung durch Experten«, »Der kleine Prinz« …

Die Bibliothek des geistigen Mittelstands.

 

Als Hermann und ich anderntags an der Leine entlangspazierten, warf ich einen flachen Stein aufs Wasser, um ihn tanzen zu sehen, und er ditschte viermal auf, bevor er unterging.

»Daß du dich nicht schämst«, sagte Hermann. »Dieser Stein hat da womöglich seit dreihundert Jahren gelegen und sich nach und nach mit den anderen Steinen in seiner Nähe angefreundet. Steine werden nämlich nur ganz langsam Freunde! Die brauchen Jahrhunderte dafür! Und jetzt kommst du und reißt den armen Kerl aus seinem angestammten Umfeld raus!«

 

Von der Autobahnauffahrt Göttingen-Grone bis zur Autobahnabfahrt Oldenburg-Haarentor fuhr ich bei einem Physiklehrer mit, der mir dreieinhalb Stunden lang was über fraktale Apfelmännchen, die Mandelbrotmenge, das Möbiusband und den Schmetterlingseffekt erzählte. »Gödel, Escher, Bach«, das Buch, das solle ich mal lesen, meinte er. Da würden manche dieser Dinge auch für Laien ganz verständlich dargestellt.

Ich mußte dann noch drei Kilometer weit nachhause petten. Ofener Straße, Peterstraße, Pferdemarkt …

 

Von Lydia, die uns zur Teestunde besuchte, erfuhren wir, daß im Herbst Walter Kempowskis neuer Roman erscheinen werde.

Endlich! Nach vier Jahren Wartezeit!

Die aufreizend laszive Sitzhaltung, die Lydia dabei auf Andreas Sofa einnahm, hätte auch Egon Schiele gefallen.

 

Ich übte ein neues Stück auf dem Klavier.

I could cross the burning desert

If I had you by my side …

Während ich spielte, seilte sich vor meinen Augen eine riesige schwarze Spinne von der Decke ab, und es dauerte fast zwanzig Minuten, bis ich diesen Brocken eingefangen hatte und im Garten aussetzen konnte.

 

Nach der »Rhythmenlehre« des Astrologen Wolfgang Döbereiner sei für ungefähr Mitte 1989 »eine Art Untergang der Bundesrepublik« zu erwarten, sagte Andrea. »Das kann ein Atomkrieg sein oder die Wiedervereinigung oder irgendwas Drittes.«

»Und glaubst du das?«

»Man weiß ja nie …«

Den Gedanken, daß die Russen kommen könnten, weil Saturn im Jupiter steht, hatte man im Pentagon bestimmt noch nicht erwogen.

 

Wenn man zum Woldsee wollte, mußte man in Wechloy in den Drögen-Hasen-Weg einbiegen. Eine zauberhafte Strecke.

Wir fuhren einmal um den See herum und gingen dann im Wald spazieren.

Die Gamslein Paar um Paare,

Sie kommen von weit her,

Die Rehe und das Hirschlein,

Das schöne Wildbret schwer …

Als kleineres Tier, zum Beispiel als Ohrenkneifer oder als Feuerwanze, wäre ich wahrscheinlich schmählich an der Aufgabe gescheitert, in diesem Dickicht ein Weibchen zur Begattung aufzutreiben.

Das regelte wohl irgendwie der Instinkt, wenn man das Pech hatte, als Insekt wiedergeboren zu werden. Aber welche Tiere hatten eigentlich guten Sex?

Leider hörte man auch tief im Wald den Autobahnverkehr. Also doch besser in ein entlegenes Dorf ziehen? Wie Arno Schmidt?

 

Auf dem Flohmarkt erstand ich für eine Mark fünfzig ein Büchlein mit drei Dylan-Interviews aus den Jahren 1977/78. In seinem Film »Renaldo und Clara«, hatte Dylan da gesagt, trete Bob Dylan nicht auf:

Seine Stimme ist da, seine Lieder werden verwendet, aber Bob ist nicht im Film. Es wäre blöde. Hast du jemals ein Picasso-Gemälde mit Picasso im Bild gesehen? Du siehst nur seine Arbeit.

Das gleiche galt wohl für Horst Janssens Selbstporträts und Walter Kempowskis autobiographische Romane. Aber hatte Gustave Flaubert nicht erklärt, er sei Madame Bovary?

 

Bei den schleswig-holsteinischen Landtagswahlen holte sich die SPD die absolute Mehrheit (54,8 %). Die CDU verlor mehr als neun Prozent, und die wetterwendische FDP flog raus.

Unrühmlich schnitten allerdings auch die Grünen ab (2,9 %). Offenkundig wollten sich die Wähler ihre schönen Atomkraftwerke in Brokdorf, Brunsbüttel und Krümmel nicht wegnehmen lassen.

 

Wie aus einem Wurfzettel hervorging, veranstalteten die Betreiber eines Sonnenstudios in der Nadorster Straße am 9. Mai die »First Sun Up’s Staff Squash Championship«.

Wenn das der Turnvater Jahn gewußt hätte!

 

In Flann O’Briens Roman »Der dritte Polizist« stellte ein irischer Sergeant Betrachtungen über die Vermengung der Atome von Fahrrädern und Fahrradfahrern an:

»Das Brutto- und Nettoresultat davon ist, daß die Persönlichkeit von Menschen, die die meiste Zeit ihres natürlichen Lebens damit verbringen, die steinigen Feldwege dieser Gemeinde mit eisernen Fahrrädern zu befahren, sich mit der Persönlichkeit ihrer Fahrräder vermischt – ein Resultat des wechselseitigen Austauschs von Atomen –, und Sie würden sich über die hohe Anzahl von Leuten in dieser Gegend wundern, die halb Mensch und halb Fahrrad sind.«

Solche Leute könne man daran erkennen, daß sie sich beim Stehen mit einem Fuß auf dem Kantstein abstützten …

In diesem einzigartigen, von Harry Rowohlt übersetzten Roman fand sich auch der entzückende Satz:

Nach oben wurde das Ganze durch den Himmel abgerundet, heiter, undurchdringlich, unaussprechlich und unvergleichlich, mit einer lieblichen Insel aus Wolken, in der Stille verankert, zwei Meter zur Rechten von Mr Jarvis’ Plumpsklo.

 

Im Namen des Berliner Senators für Kulturelle Angelegenheiten mußte mir ein Dr. Dietger Pforte zu seinem Bedauern mitteilen, daß ich bei der Vergabe der diesjährigen Aufenthaltsstipendien für junge deutschsprachige Autoren im Literarischen Colloquium nicht hätte berücksichtigt werden können.

Wenn er glaubte, daß mich diese Absage aus der Bahn warf, hatte er sich aber geirrt.

 

Die beste Szene in Loriots Kinofilm »Ödipussi« war die mit den verkalkten Eheleuten, die ihre Probleme nach dem Willen einer Psychotherapeutin durch buntere Polsterbezüge »besser in den Griff kriegen« sollten. Mit dem grauen Sofabezug seien sie aber »eigentlich ganz zufrieden« gewesen, sagen sie, und da legt ihnen Loriot, der einen Möbelhändler spielt, eine Stoffkollektion in 28 Grautönen vor: »Mausgrau – Staubgrau – Aschgrau – Steingrau – Bleigrau – Zementgrau …«

 

Und wieder eine Flohmarktbeute: »Wilhelm Hauff’s sämmtliche Werke« in einer fünfbändigen Ausgabe von 1853. Der Kalif Storch, das Gespensterschiff, der kleine Muck und der Zwerg Nase waren mir hochwillkommen. Nur vom Gedichteschreiben hätte Hauff die Finger lassen sollen.

Drum schreiten die Turner das Thal entlang,

Drum tönet ihr muthiger froher Gesang.

Hurrah! Hurrah! Hurrah!

Du fröhliche Turnerlust!

Das klang dann doch zu sehr nach Tony Marshall.

 

Seit dem Eklat wegen der Lesbenlyrik hatte ich keine Lust mehr, Heike zu besuchen, und aus mir unbekannten Gründen schien nun auch Matthias verstimmt zu sein. Bei Rhenus redete er nur das Nötigste mit mir: »Dein Reißverschluß ist offen.« Oder: »Hast du Ebbo irgendwo gesehen?« Oder: »Weißt du, wo der Schlüssel für den roten Gabelstapler ist?«

 

Andrea meinte, daß wir »öfter mal ausgehen« sollten.

»Und was verstehst du darunter?«

»Daß wir mal tanzen gehen oder so.«

Ich wollte aber nicht in Discotheken rumhopsen. Weder im Renaissance noch im Ede Wolf oder wie die hießen. Für Läden, in denen man sich anbrüllen mußte, hatte ich nichts übrig.

 

Philip Roth, »Die Anatomiestunde«:

»Da ruft doch kürzlich jemand bei mir an und sagt: ›Appel, wieviel würden Sie zahlen, wenn Sie Fotos von Hugh Hefner beim Ficken veröffentlichen könnten?‹ Er sagt, er könnte ein Dutzend Fotos beschaffen, die Hefner beim Ficken mit seinen Bunnies zeigen. Ich habe gesagt, keine zehn Cents würde ich dafür geben. ›Sie glauben wohl, es ist eine Neuigkeit, daß Hefner fickt? Beschaffen Sie Fotos, auf denen der Papst beim Ficken zu sehen ist – dann kommen wir ins Geschäft.‹«

Entliehen aus der Katholischen Volks- und Jugendbücherei St. Marien des Pfarrverbandes Nord in Oldenburg. Anything goes.

 

Beim Palettenstapeln hatte ich löchrige Handschuhe an, und ein Holzsplitter bohrte sich in die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand. Steckte fest verkeilt im Fleisch und war innendrin abgebrochen, so daß ich ihn auch mit einer Pinzette nicht zu fassen kriegte. Ich mußte die Haut erst noch mit einer Stecknadel weiter aufschlitzen. Ein kolossaler Spaß!

 

Am Zwischenahner Meer besuchten Andrea und ich das Freilichtmuseum: ein altes Bauernhaus mit Eichenfachwerk, ein Back- und Brauhaus, eine Scheune, eine Schmiede, eine Windmühle und manches andere. Und alles tat dem Auge wohl.