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Marina Achenbach

Ein Krokodil für Zagreb

Roman

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Edition Nautilus GmbH

Sekas Freunden

DER BRUNNEN

1

Sonne auf dem Pflaster, darauf zittern die Schatten der runden Blättchen eines Straßenbaums. Am Nebentisch eine heftige Bewegung, zwei junge Frauen rücken von der Wand ab. »Was ist das für ein Vieh? Sticht das?« Auf der Lehne ihrer Bank sitzt eine hellgrüne Heuschrecke. Der Begleiter der Mädchen erhebt sich, drückt eine Zigarettenschachtel flach und hält sie vor das kleine Tier. Die Heuschrecke glänzt in den späten Sonnenstrahlen. Er steht gebückt vor ihr, sie rührt sich nicht, seine Augen wandern verlegen umher. Da strecke ich den Arm aus zu ihnen hinüber und schiebe mit dem Zeigefinger die Springerin an, und sie faltet ihre Marionetten-Beine auf und steigt, als hätte sie darauf gewartet, auf die Pappe. Der Mann schüttelt sie unter dem Baum am Straßenrand ab, dreht sich um, sein Gesicht ist verzogen.

Als ich vier Stockwerke höher in mein Zimmer zurückkomme, dessen Fenster über den Cafétischen und den Baumwipfeln weit offen stehen, sitzt die hellgrüne Heuschrecke mit ihren vorsichtig kreisenden Fühlern und angelegten Flügeln, durchsichtig wie Wasser, auf meinem Tisch. Sie steigt sofort auf den Finger, den ich ihr hinhalte. Und während ich sie zum Fenster trage, beißt sie mir in die Haut am Nagelrand. Sie krabbelt auf das warme Zinkblech, hockt abflugbereit.

Am Abend tönen von der Straße die todmüden Trompeten balkanischer Musiker herauf, ich stelle mich ans Fenster, da springt die vergessene Heuschrecke aus dem Vorhang auf meine Schulter, dahin, wo der Hals anfängt, auf die nackte empfindliche Haut. Sie springt weiter auf das Fensterbrett, wartet dort auf etwas. Ich bringe ihr einen Tropfen Wasser, der sich rund wie eine Perle vor ihr aufwölbt, sie streckt den winzigen Kopf mit Augenpunkten und den kantigen Beißwerkzeugen vor und trinkt, ohne die Haut der zitternden Wasserperle zu zerstören. Und als hätte nur dieser Tropfen noch sein müssen, springt und fliegt sie leicht taumelnd hinaus in den Abend. Ich weiß, die Heuschrecke – das ist Ado.

2

Ado schaut in den Spiegel. Eine Reporterin des Zagreber Abendblatts ist ihm angekündigt.

Seka steigt in die Straßenbahn. Der Februartag ist grell vom weißen Sonnenlicht auf frischem Schnee. Die 20-jährige Reporterin hat ihrem Chef ein Interview mit dem Flüchtling aus Hitlers Deutschland abgerungen. Zuletzt nimmt sie die Steinstufen in die Oberstadt. In ihr bilden sich die ersten Sätze, ganze Dialoge, doch sie weiß nur eines: dieser Deutsche wird dem Zagreber Zoo ein Krokodil zum Geschenk machen. Mit seiner Geschichte möchte sie Mitgefühl für die Verfolgten wecken, denen die Flucht gelang, die aber das Königreich Jugoslawien nur unwillig über die Grenze hereinlässt.

Als seine Tür aufgeht, sieht sie den Mann mit Rasierschaum im Gesicht. Und er sieht, dass die Journalistin sehr jung ist. Sie schätzt ihn auf vierzig. Ihr Blick ist ernst unter hohen Augenbrauen, ihr geschminkter Mund ist fein geschnitten. Er entschuldigt sich vergnügt, spielt Verlegenheit und bietet ihr Platz auf einer Couch an. Sie setzt sich und wartet. Sie fühlt sich benommen.

Vor ihr baut sich ein Hund auf, seine Brust hell, Spucke hängt in Fäden links und rechts aus der breiten Schnauze, er starrt sie vor Erwartung schnaufend an. Etwas drückt von unten hart gegen ihr Bein. Unter der Couch schiebt sich ein Krokodilskopf hervor. Sie schreit nicht auf. Ado tritt aus dem Bad und sieht sie aufmerksam das anderthalb Meter große Krokodil beobachten, das sich auf seine Beine erhoben hat und vorantappt, hin zur angelehnten Balkontür.

Als wäre Seka in einem Märchen auf die Probe gestellt worden: Würde die verirrte Wanderin furchtsam um Hilfe rufen? Dann hätte sie die Probe nicht bestanden und müsste zurück in den Wald, in dem sie verloren gegangen ist. Doch wenn sie angstlos ist, was in Wirklichkeit heißt, reinen Herzens, wird ihr die Spur gezeigt, auf der sie den purpurfarbenen Vogel wiederfinden kann, der ihr als Kind entflogen ist. Es ist das Jahr 1938.

3

Die Augen über dem Schaum blassblau, aufmerksam, mit einer Beigabe von Staunen. Über den Augen seine hohe Stirn. Der nasse Rasierpinsel in der Hand, seine gespielte Verlegenheit. Die ausholende, aber wohlgeführte Geste, mit der er ihr das Glas Wasser reichte. Seka sieht es, während sie schreibt und die Splitter zusammenfügt, die Ado vor ihr ausgestreut hat: der breite Kindheitsfluss Main, die Theater, in denen er spielte, das Arbeiterstraßentheater in Berlin, die Flucht, als ein SA-Trupp an die Eisentür seiner Dachwohnung schlug und er durchs Fenster auf das Ziegeldach des Nachbarhauses kletterte und dann noch einmal zurückkroch, um das handgroße Krokodil, das er gerade erstanden hatte, zu greifen. Mit erzwungener Ruhe durch das fremde Treppenhaus Etage für Etage hinuntergehen, hinaus auf die Straße und ohne Verzug zum Anhalter Bahnhof, eine Fahrkarte nach Prag kaufen, als wäre es eine normale Reise. Das Krokodil unter seinem Hemd. Es kratzte ihn. In Prag kamen jeden Tag Flüchtlinge aus Deutschland an, die Stadt füllte sich mit ihnen, sie hungerten. Weiter nach Jugoslawien zum Freund Dr. Klapper, der auf seinen Flucht-Irrwegen das dalmatinische Fischerdorf Zaton Mali gefunden hat. Hier in der warmen Luft fängt das kleine Krokodil an zu wachsen. Seka ist noch nicht gesättigt von den Erzählungen, ist begierig auf Ados Sprechen. Auf seinen Blick.

Für dieses Jahr ist die Hochzeit mit ihrem Verlobten Fred vorgesehen. Er ist der künftige Erbe einer Glühbirnenfabrik, der einzigen in Jugoslawien. Es ist eine vernünftige Ehe, die Eltern haben sie vorausgedacht, und die beiden bejahen die Idee, denn auch sie denken sich die Ehe als einen zuverlässigen Raum. Sie würden sie großzügig, ohne Zwänge leben, anders als ihre Eltern. Fred würde Seka nie an tagelangen Ausritten in die bosnischen Berge hindern und nicht an Ausflügen mit ihren Freundinnen und Freunden nach Venedig, dem Ort der kleinen Fluchten, wo sie die Versprechen und Verlockungen der Moderne auskosten. Wo sie lieben dürfen, wen sie wollen. Ein Haus für das Paar wird von einem avantgardistischen Architekten entworfen, es blickt mit hohen Fenstern auf die Stadt hinab, Fred fährt jeden Mittag zur Baustelle, er fragt sie, welche Zimmer sie haben möchte. Seka hebt ihre flügelartigen Schulterblätter.

Die Mutter hört sich beim Abendbrot die Geschichte von Ado von Achenbach, dem Emigranten mit Krokodil, und seinem Freund Dr. Klapper an, sie ist eine wohltätige Dame und Vorsitzende des Roten Kreuzes in Zagreb und beschließt, diesen Flüchtlingen zu helfen: »Laden wir ihn und seinen Freund doch zum Mittagessen ein.« Seka schreibt eine Karte, Ado ruft freudig an, sie horcht auf sein umständliches Kroatisch. Mittags kommt sie aus der Redaktion zum Essen, bringt auch den Chefredakteur mit, der wie die Mutter neugierig auf die Deutschen geworden ist. Das Zagreber Bürgertum pflegt seine Rituale der Gastfreundschaft. Die Mutter sitzt schon mit den zwei Männern beim Aperitif, sie reden und lachen. Sind sie beschwipst?, fragt sich Seka. Ein lebhaftes, vergnügtes Mittagessen. Seka kehrt mit dem Chefredakteur zur Zeitung zurück. Die beiden Emigranten bleiben. Am nächsten Tag verkündet die Mutter leichthin: »Ich verreise für 14 Tage mit Herrn von Achenbach nach Makarska.«

Dieser Satz ist eine Grausamkeit. Hatte nicht etwas Unaussprechliches begonnen? Die Mutter greift in ein noch kaum sichtbares Gewebe hinein. Trauer überschwemmt Seka. Ihr eingeborenes Muster ist Selbstbeherrschung. Gefühlsausbrüche sind verpönt, das ist als Gesetz tief in ihr verankert. Und obwohl sie seit langem weiß, dass es Dressur ist, hat sie diese Haltung doch zu ihrer eigenen gemacht. Oh diese Not. Sie hebt den Bann der Diskretion auf, zieht ihren Verlobten ins Vertrauen.

Für sie ist Fred die Verkörperung einer sanften, arglosen Güte. Er ist vier Jahre älter als sie, übergroß, linkisch und liebt sie, seit er sie als Dreizehnjährige sah. Da war ihre Familie aus Sarajevo nach Zagreb gezogen. Er begleitet sie als treuer, ihr ergebener, kluger Freund. Hin und wieder sagt er: »Ich weiß, ich bin langweilig.« Sie winkt ab, viel später tut es ihr leid, dass sie ihm nie widersprochen und den Satz geantwortet hat, den er sich wünschte. Fred sieht, wie sich Seka von ihm entfernt. Eher als sie begreift er, dass es nicht mehr aufzuhalten ist.

Ado und die Mutter kehren wie angekündigt nach 14 Tagen aus Makarska, vom Familiensitz an der Adria, zurück. Seka hat sich entschlossen zu handeln. Im ersten günstigen Moment sagt sie zu Ado: »Ich muss Sie sprechen. Allein. Um 18 Uhr im Café Gundulić.«

Dort im großen Café am zentralen Platz der Stadt spricht sie es aus: »Ich bin in Sie verliebt.«

Er weiß keine Antwort, erbittet sich Bedenkzeit und schlägt für das Wochenende einen Spaziergang vor, um sich auszusprechen. Sie gehen hinaus in die ungezähmten Hügel, die Zagreb umgeben. Babu, der Boxer, rennt voraus. »Sagen wir uns Du, wie Freunde«, beginnen sie.

4

Links sitzen meine Freunde. Ich drehe den Kopf zu ihnen. Sie lächeln mir zu. Wovon habe ich eben gesprochen? Von Ado und Seka? Langsam drehe ich den Kopf wieder in den Raum, viele mir aufmerksam zugewandte Gesichter. Da höre ich mich sagen: »Jetzt habe ich einen Filmriss.« Von der Seite eine Stimme: »Sollen wir unterbrechen?« Für Sekunden frage ich mich: Ist das nicht unmöglich? Aber schon geniert mich nichts mehr. Wie einen Hauch fühle ich Paco an der Seite und mich am Arm hinausführen, durch den ganzen Raum voll gelb leuchtendem Sonnenlicht. Ich verlasse sie einfach alle. Draußen im kleinen Hof unter Bäumen noch helleres, zwischen den Blättern flimmerndes Nachmittagslicht. Und eine Bank, auf ihr liege ich, hoch über mir ragt eine Gestalt auf, hinter ihr blauer Himmel, sie fragt etwas, ich weiß nichts zu antworten, aber grüble nicht. Ein warmer Körper, an dem mein Kopf lehnt, Hände auf meinen Knöcheln. Mit großen Schritten nähern sich Männer, ihre weißen Turnschuhe knirschen im Kies. Zwei Augen dicht über meinen. »Schau mich an, Dunja, nicht die Augen schließen, nicht wegsinken, Dunja, schau mich an.«

5

Der Riss. Neben mir liegt ein Mädchen aus Afrika, ihre große Familie sitzt um das Bett. Sie beten und reden in ihrer weichen Sprache und erklären mir behutsam: Es ist hier die Neurologische Abteilung im Virchow Klinikum.

Das Mädchen kommt aus dem Kongo, ihr Vater war Präsident einer Region. Seine Gegner haben die Familie überfallen, die dicke Mutter hat sich in einem rasenden Furor den Angreifern entgegengeworfen und die Kinder gerettet. Der Präsident ist mit seiner Familie geflüchtet, bei der Ankunft am Flughafen Orly ist die Tochter ins Koma gefallen. Ihr sind Rückfälle geblieben.

Wie die Zeit hier nichtig verrinnt – Blutabnahmen – in Röhren geschoben – Knistern und Brummen im Schädel. Die liebe Familie W’Otepa mit ihren Gebeten.

Andreas öffnet die Tür zum Klinikzimmer, das erschrockene Bruder-Gesicht, da ist er zugleich Ado und Seka, über die ich im Erzähl-Café gesprochen hatte.

Was hat mich stocken lassen? Kein Hirnschlag, dieser Verdacht über Stunden. Der Körper hat das Denken gekappt und mich in den Dämmerzustand versetzt, bis auf wenige Erinnerungsinseln. Trage ich unerkannt etwas in mir? Am Meer könnte ich es finden, mit dem Finger in den Sand schreiben, der Wind nimmt’s mit. Ich glätte die Stelle und schreibe immer weiter. Was ich schreibe, fliegt weg. Doch es soll unversehens zu mir zurückkommen, auf fast durchsichtigen Blättern, noch lesbar.

6

In der U-Bahn auf der Bank gegenüber redet ein achtjähriger Knabe auf seine Mutter ein. Sie sprechen Deutsch, aber er will ein Fremder sein. Wie einst ich. »Das hier ist nicht dein Land, nicht wahr, Mama? Wo die Adler sind, das ist dein Land!« Ein dunkles Wolltuch liegt locker um ihren Kopf, sie antwortet ihm leise. Er lässt seine Stimme kräftig tönen, damit die Umsitzenden ihn als Fremden erkennen. »Die Großmutter hat ein Steinhaus für uns gebaut, da war ich noch ganz klein, nicht wahr, Mama?!« Und dann nennt er das Land: »Im Libán wird es nicht kalt, nicht Mama? Im Libán ist kein Winter.« Sie murmelt etwas. »Im Libán gibt es nur manchmal Regen.« Unendlich verliebt spricht er den Namen aus.

Den Geschichten der Eltern glaubt man ganz und gar und füllt sie mit den eigenen jubelnden und bedrängenden Gefühlen. Er sieht den Adler Kreise ziehen und sieht die Großmutter mit heißen Händen Steine zu einem Haus aufschichten. Sie kann es, sie kennt Geheimnisse, denn sie ist von woanders.

Seka erzählt ihr Leben lang Geschichten, wir hören süchtig zu, obwohl wir sie verdächtigen, dass sie übertreibt. Aber wir spornen sie an mit einem geflüsterten: »Und dann?« Sie rollt ihren Erzählfaden auf, lässt ihn schwirren und kreisen.

Wenn wir anfangen, sie nach Umständen und Gründen zu fragen, versickert ihre Erzähllust. Ein geordnetes Berichten langweilt sie. Sie steht auf und kocht sich einen Tee. Als wollte sie uns sagen: Wenn ihr mir nicht glaubt, finde ich es traurig, aber auch euch, meinen Lieblingen, wird es nicht gelingen, mich zu zähmen.

7

Der Vater durchtrennt ihre Nabelschnur. Am 17. April 1917, im Revolutionsjahr. Auch Bosnien bäumt sich auf in diesem dritten Kriegsjahr. Vorbei am Haus der Majstorović’s ziehen Bauern hinab ins Zentrum der Stadt, aus ihren Bergen, von denen aus sie die spitzen Minarette und die schweren Glockentürme der Kirchen von Sarajevo sehen. Eine dunkle, vorandrängende Menge nimmt die Straßenbreite ganz ein. Dem Strom drängt sich der Vater entgegen, der aus seiner Kanzlei kommt, er teilt ihn und schaut in die Gesichter, vielleicht erkennt er einen seiner bäuerlichen Klienten. Erreicht den Nebeneingang seines Gartens, lehnt sich ans rostige Tor, das unbenutzte. Oben im Fenster beobachtet ihn seine schwangere Frau, und plötzlich sieht sie, wie er mit dem ganzen Gittertor nach hinten stürzt und hilflos auf dem Rücken liegt. Die hinabziehende Menge stockt, verknäult sich, was ist passiert, etwa Gewalt gegen ihn, den beliebten Rechtsanwalt? In diesem Augenblick spürt die Mutter, dass das Baby aus ihrem Leib gleitet. Es stürzt sich wie in einem großen Ausatmen hinaus.

Die Mutter kauert sich auf den Teppich, ruft nach Tereza, ruft die anderen Namen der im Haus Beschäftigten, niemand hört sie. Alle sind von der nie gesehenen Protestflut aus den Bergen aufgesogen. Die Mutter begreift, dass sie allein im Haus ist, sie zieht das Neugeborene in seinem Schleim auf ihren Bauch, reicht mit einem Arm bis zu einem Plaid, holt es herunter und hält damit das Kind und sich warm. Gefasst, wie es ihre Art ist, wartet sie. Es ist der siebte Monat der Schwangerschaft und ihr drittes Kind.

So findet sie der Vater. Er durchschneidet die Nabelschnur, nimmt die winzige Tochter mit den feinen Knöchelchen in seine beiden Hände, ihn überwältigt eine ungeahnte Zärtlichkeit.

8

Sie geht die Treppen hinunter, Schritt für Schritt, es ist still im Haus, das Treppengeländer glänzt dunkel. Sie drückt die Tür zur Küche auf. Ein Sonnenstreifen trifft sie in die Augen. Die Köchin Tereza dreht sich zu ihr um. Sekas Augen leuchten dunkelgelb, mit verstreuten grünen und schwarzen Punkten. Gibt es ein Tier, das solche Augen hat? Tereza wartet, bis sich die eigenartige Tochter des Hauses auf das breite Fensterbrett hockt und ihr geduldig beim Kochen zuschaut, obwohl sie fast nichts isst und Speisen ihr gleichgültig sind. Sie weiß, dass die Mutter diese Küchenbesuche nicht schätzt, dass ihr auch die knochigen Knie ihres Kindes missfallen, die Blässe und die unbewegte Miene, die sie für aufsässig hält. Tereza weiß alles im Haus, unausgesprochen ist sie die Vertraute ihrer Patronin. Doch wenn es um die kleine Seka geht, fügt sie sich nicht ihrer herrischen Laune.

Tereza knetet einen weißen Teig, sie drückt ihn rhythmisch, lässt das Gewicht ihres Rückens, ihrer Brust bis in die großen Hände sinken. Den Teig schlägt sie in ein frisch gewaschenes Tuch ein, legt ihn auf ein Brett. Sie nimmt ihr Messer, mit dem ihr alles gelingt. Niemand sonst darf damit etwas schneiden. Vor langer Zeit hat sie es einem Händler aus dem Kosovo abgekauft, auf der Klinge sind die Schmiedespuren eingedrückt. Das Messer schärft sie kurz an der Unterseite einer Tonschale und beginnt, Gemüse zu putzen. »Ja, meine Sekica, die richtige Reihenfolge ist beim Kochen die größte Kunst. Darin liegt das Geheimnis. Alles hat eine eigene Zeit, um gar zu werden. Wer diese Zeiten kennt, ist der Meister.« Ein Küchenmädchen schiebt Holz in den gemauerten Herd. Tereza holt einen schwarzen Topf aus Eisen für das Fleisch von der Wand herunter. »Nur dir erzähle ich das alles, mein Herz, srce moje sladko, du verleitest mich, meine Geheimnisse zu verraten«, sagt sie, und der im Fenster hockenden Seka gleitet ein Zärtlichkeitsschauer die Wirbelsäule hinunter.

Aus der Küche führt eine Tür in den Garten, durch sie springt Slavica herein, Terezas unbändige Tochter. Mit ihrem ganzen Körper drückt sie sich an die Mutter. Beide wohnen im kleinen Haus im Garten. Ein Vater ist nie zu sehen, mit dieser Mutter wie ein Berg ist ein Vater entbehrlich. Die Mädchen nicken sich höflich zu wie zwei Erwachsene. Sie sind im selben Jahr geboren und sind nah und vertraut, wenn sie allein im Garten spielen, der sich den Abhang hinunter bis fast ans Zentrum von Sarajevo streckt. Sie schleichen durch Büsche, die dicht und starr stehen wie ein Dschungel, kriechen durch den Zaun zur gutmütigen Wäscherin nebenan, die sie immer bei den Bottichen und Wäscheleinen finden. Doch die Mädchen sind zwei Ungleiche: Slavica steht unter dem Schutz ihrer mächtigen Mutter und verteidigt diesen Platz, Seka ist ohne solche Geborgenheit. Tereza sieht den frühen Kummer und weiß, dass sie ihn den Kindern nicht ersparen kann.

9

Sekas ältere Schwester Jelena ist hell und kräftig, sie ist die andere, die gesunde, neben der dunklen, dünnen, herben Seka. Nach der Sturzgeburt, als die Eltern fürchteten, dass sie nicht überleben werde, gaben sie ihr den Namen Marija. Aber alle nennen sie zärtlich Seka, Schwester, Jelenas kleine Schwester.

Als die beiden Mädchen acht und fünf Jahre alt sind, erkranken sie an Diphtherie. Es werden viele sterbenskrank, ein Erdbeben in Bosnien scheint die Krankheiten aus den Klüften freigesetzt zu haben. Fieber, Atemnot, Ohnmacht. Ein Luftröhrenschnitt rettet die Schwestern.

Seka löst sich aus ihren Fieberträumen, zu ihren Füßen ein Inder mit weißem Turban. Er hält ihre Zehen umfasst, lächelt, schiebt seinen Kopf nach links, nach rechts und begrüßt sie höflich: »Da sind Sie ja wieder.« Ihre Schwester Jelena sei schon gesund, erklärt er, sie warte zu Hause auf Seka. Von nun an ist dieser Krankenpfleger um sie. Er atmet mit ihr, streicht mit schmalen dunklen Fingern über ihren Rücken, ihre Hände, ihre Stirn, er singt schwebende, hingezogene Melodien. Sie weiß nicht, wer ihn aus der Ferne nach Bosnien gebracht hat, es scheint, als sei er ihretwegen gekommen. Das geht so, bis sich der Frühling zeigt, und eines Tages wickelt er Seka in Schal und Decke ein und setzt sie zur Mutter in die Kutsche. Die Kutsche rollt an, sie sieht noch den Turban über dem schlanken Kopf, will weinen, doch dann hört sie die Hufe auf dem Steinpflaster, sieht glänzende Blattknospen, die aufspringen wollen, riecht die Erde, die nass ist vom getauten Schnee. Sie nimmt mit ihren entleerten Sinnen die vergessene maßlose Welt auf und fährt ihr entgegen.

Am Friedhof lässt die Mutter einbiegen, nach wenigen Metern steht die Kutsche vor einem frischen Grab, die Mutter steigt aus und legt Blumen darauf. »Hier liegt Jelena.« Seka glaubt die Mutter zu hören: Wie kann es sein, dass du überlebt hast und nicht meine gesunde und strahlende Jelena? Beide verzeihen es einander nie.

10

Der Vater nimmt sie auf eine weite Reise mit, bis zur arabischen Halbinsel, zu den Wüstenfelsen von Petra, zu seinem Freund, der Archäologe ist und dort an Ausgrabungsstätten arbeitet. Die Luftveränderung soll Seka stärken. Weiße Zelte sind auf einem Bergplateau für die Archäologen und Reisenden aufgestellt, auf einer Bank im Zelteingang liegt sie, im Rücken glänzende bunte Kissen, und schaut auf einen Berg, in den von unten bis oben Stufen geschlagen sind, die zu einem heiligen Grab führen. Rot der Felsen, weiß die Stufen, schmal und ungleichmäßig. Mit Blicken folgt sie von ihrem Lager aus den Leuten in langen Gewändern und den Eseln, die den ganzen Tag hinaufsteigen und wieder hinunter. Auch die Archäologen mit ihren weißen Hüten sieht sie hinaufwandern, sie ziehen an der Pilgerstätte vorbei und verschwinden hinter dem Bergkamm. Seka mag die Geschicklichkeit der Esel.

Das Zeltdach ragt über ihre Bank, weiße Troddeln hängen herab, sie glitzern mit einem eingeflochtenen Silberfaden. Seka schaut auf die weichen Quasten, die sich im leichten Wind drehen, sie folgt ihrem Schwirren und Silberfunkeln vor der durchsichtigen Luft und beginnt zu schweben wie diese Troddeln. »Vielleicht bin ich schon in der anderen Welt?« Sie ist nicht traurig, in ihr ist ein Wundern. Der Vater kommt.

– Woran denkst du, Sekica?

– An nichts.

– Doch, sag es mir.

Sie dreht sich weg: Weißt du es denn nicht von allein?

Eine kräftige Bö fährt in die Zelte, und der Vater ruft in den Wind: »Fliegen müsste man können, so wie der Hut!« Und er schleudert seinen Strohhut in die Luft, beide sehen zu, wie er vom Plateau in das weite Tal hinabsegelt.

11

Großvater Vukobegović holt seine jüngste Enkelin Seka in der Kutsche ab. Er lebt allein auf einem Landgut bei Brčko, in Nebenhäusern wohnen zwei Schwestern, die nicht geheiratet haben und für ihn sorgen. Ihm gehören die Felder und Wälder rundum, es wird gepflügt, gepflanzt, geerntet, alles ist in Bewegung, doch nie erlebt Seka dort jemanden in Unmut oder Zorn, als ob unter der Weisheit des Großvaters alles zur Ruhe komme. Im Haus besteht die untere Etage aus den beiden Minderluk-Zimmern, in denen rundum Wollmatratzen an den Wänden liegen, darauf Kelims mit ihren verwunschenen Ornamenten. Für Gäste werden die Matratzen nachts ausgebreitet. Hinter geschnitzten Holztüren, die eine ganze Wand einnehmen, sind Betten und Decken zusammengerollt. In der oberen Etage schläft der Großvater. Und auch Seka. Niemand sonst.

Im Sommer stellt der Großvater zwei Kanapees in den Garten, dort plaudert er im Schatten der Baumkronen mit seinen Besuchern, raucht, trinkt Tee, liest. In einen Baum hängt er einen Topf mit einer roten Geranie. Wie sich das Rot und das Grün gegenseitig stärken, darauf weist er die Enkelin hin. Er nimmt sie ernst, seit sie miteinander sprechen können.

In einem der unteren Zimmer liest der Großvater mit drei Freunden jede Woche im Koran. Die Folianten liegen aufgeschlagen vor ihnen in leichten Holzgestellen. Seka schaut ihnen von der Treppe aus zu, wie sie sitzen und sich versenken. Sie hoffen, erklärt ihr der Großvater, dass sie etwas bislang Übersehenes entdecken werden.

Im Nebenraum steht ein aufklappbares Tischchen mit Filzbelag und Goldrand, auf dem der Großvater Patiencen auslegt. Er spielt die Große Napoleon, bei der er in komplizierten Zahlenreihen rechnen muss. Er ist immer besorgt, seine Patience könnte vom Wind, von den Katzen, vom Personal durcheinandergebracht werden, aber wenn es geschieht, kann er sie rekonstruieren. Er spielt sie wochenlang, und wenn sie aufgeht, ist er glücklich, schickt sogar Briefe mit dieser Nachricht herum. Die Kleine Napoleon bringt er der Enkelin bei.

Vor langer Zeit ist seine Frau auf der Reise bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben. Die Kutschen rollten aus Istanbul, dem prachtvollen Mittelpunkt der unermesslichen islamischen Welt, heim nach Bosnien und hatten schon Bulgarien fast durchquert, da setzten bei ihr die Wehen ein. Vier Tage kämpfte sie um ihr Leben, am Ende war sie verblutet. Das Kind lebte. Sie fuhren in der Kutsche weiter: der Vater mit dem Kind und einer Amme, die es stillte. Und mit der Toten, um sie zu Hause zu begraben.

Er erzog seine Tochter selbst, heiratete nicht wieder, widmete ihr seine ganze Aufmerksamkeit, liebte sie verschwenderisch. Als sich ihr klarer Verstand zeigte, suchte er für sie die beste Schule in der Gegend. Es war ein Kloster der Franziskaner, er zögerte nicht, sie dorthin zu geben, für ihn waren Christentum und Islam einander nah. Als sie zu einer eifrigen Katholikin wurde, tat es seiner Liebe zu ihr keinen Abbruch. Er verzieh ihr alles.

Diese Tochter des Großvaters ist Sekas Mutter. Über ihr herrisches Gebaren können beide gemeinsam klagen.

12

Auch die Großmutter Majstorović ist Witwe und lebt auf ihrem Landgut Konarica. Hier ist Sekas Vater geboren, es ist die katholische Seite der Familie. Dass die Großmutter aus einer armen Bauernfamilie stammt und ihr reicher Mann, der an Syphilis gestorben ist, ein haltloser Spieler war, weiß schon die kleine Seka. Alle wissen es und vergessen es nie, anerkennen jedoch, dass die Bauerntochter das Gut klug führt. Die Großmutter ist nicht sanft und zärtlich, sie denkt sich keine Vergnügungen für ihre Enkelin aus wie der Großvater Vukobegović. Ihren arbeitsamen Rhythmus verändert sie um keine Minute ihr zuliebe, aber das ist für Seka keine Abweisung, es ist etwas anderes, es hat mit der Arbeit zu tun und mit den Dingen auf dem Gut, von denen die Großmutter mehr als alle anderen versteht.

Seka reitet mit ihr, seit sie laufen kann, auf Pferden ziehen sie durch einen Hain mit hohen, gerade gewachsenen Bäumen, unter denen Gras sprießt. Die Großmutter untersucht Blätter und Baumrinde, um rechtzeitig Käfer zu entdecken, bevor sie die Bäume angreifen. Wenn einer gefällt wird und die Knechte die Äste absägen, steht sie besorgt dabei. Für so einen Baum gibt es viel Geld, sagt sie zur Enkelin. Beim Abtransport mit dem Pferdewagen hängt der Stamm über die hintere Radachse hinaus. Es macht Seka traurig wie ein Begräbnis.

Unten am Fluss nistet jedes Jahr ein Schwanenpaar, sein Nest baut es auf einer modrigen Insel neben der Brücke. Die Großmutter betrachtet versonnen die großen stillen Vögel und lässt die Insel, die manchmal überschwemmt wird, befestigen. Aber an einem Tag werden die beiden Schwäne riesig und wild, sie töten die Ferkel an der Brücke, über die sie zur Bahnstation getrieben werden. Die ungeheuren Flügelschläge der Schwäne, das Schreien der Ferkel, das Wasser rot von Blut. Die Großmutter brüllt vom Pferd herunter zu Seka: »Weg hier! Sofort!« Ein Knecht führt sie hoch in den Wald. Die Großmutter kommt lange nicht zurück. Seka weint bei Tisch. Die Großmutter sagt: »Hör auf. So ist das Leben.« Sie vertreibt die Schwäne nicht, reitet immer wieder zu ihnen hinunter. Als hätte sie ein Geheimnis mit ihnen.