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Peter Waldmann

Der konservative
Impuls

Wandel als
Verlusterfahrung

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

© 2017 by Hamburger Edition

Umschlaggestaltung und Grafik: Wilfried Gandras

Petra
zum Gedächtnis

Inhalt

Einleitung

IIndividuelle Verlusterfahrungen

Tod und Trauer

Exil und Diaspora

Die Infragestellung der Geldwertillusion: Hyperinflation

Zwischenbilanz 1

IIVerlust politischer Stabilität: Revolution und Reaktion

Die Französische Revolution von 1789 und ihre Folgen

Spaniens gewundener Weg zur Demokratie

Eine konservative Revolution: Iran 1979

Zwischenbilanz 2

IIIAlles gerät in Bewegung: Prozesse nachholender Entwicklung

Südkoreas Sprung zur industriellen Exportnation

Auf der Schwelle stehen geblieben: Argentinien

Widerwillig, gleichwohl erfolgreich: Modernisierung im Baskenland

Zwischenbilanz 3

IVVerluste und Gegenreaktionen: der konservative Impuls im Kontext

VTheoretische Verortung

Literatur

Schaubilder

Dank

Zum Autor

The past is never dead. It is not even past.

William Faulkner: Requiem for a Nun,
Erster Akt, Szene III

Einleitung

Über Jahrzehnte hinweg beschäftigte ich mich in Forschung und Lehre mit nachholender Entwicklung, vorzugsweise (aber nicht nur) am Beispiel Spaniens und Lateinamerikas. Das war einerseits anregend und spannend, doch zugleich auch anstrengend und wenig befriedigend. Denn die vorherrschenden Entwicklungstheorien, insbesondere die über eine lange Zeit hinweg dominierende Modernisierungstheorie, wurde den Problemen sogenannter Nachzüglergesellschaften, die unter dem Druck einer beschleunigten Entwicklung und Anpassung an die Standards der Moderne standen, keineswegs gerecht.

Nun ist das Scheitern der Modernisierungstheorie in Bezug auf die meisten »Dritte-Welt-Regionen« inzwischen so offenkundig und die Kritik an ihrer Einseitigkeit und Schwäche bereits so oft vorgebracht worden, dass es sich an dieser Stelle erübrigt, sie nochmals ausführlich wiederzugeben. Nur auf zwei Mankos sei besonders hingewiesen. Das war zum einen ihr Operieren in großzügig bemessenen, sich über Jahrhunderte oder noch länger erstreckenden Zeiträumen, aus denen kein Kriterium darüber abzuleiten war, wie mit Schwierigkeiten mittelfristiger Natur, etwa einer Militärdiktatur oder der Entscheidung zwischen autozentrierter oder außenorientierter Entwicklung, umzugehen sei. Zum anderen war es, ähnlich wie bei der Theorie der Diffusion von Neuerungen, das einseitige Interesse, das der Geschwindigkeit und Sequenz, in denen Elemente der Moderne in den als einheitlich traditionell unterstellten Gesellschaften Fuß fassen und Verbreitung finden, entgegengebracht wurde.

Dabei lag es für einen aufmerksamen Beobachter peripherer und semiperipherer Regionen auf der Hand, dass Entwicklungen »nach vorne« oft von »rückwärts« gerichteten Bewegungen begleitet werden. Beispielsweise konnte Spanienkennern nicht entgehen, dass gleichzeitig mit dem gesellschaftlichen Modernisierungsschub, der nach Francos Tod 1975 einsetzte und bis in die frühen 1990er Jahre anhielt, Heiligenkulte und religiöse Wallfahrten sich ebenfalls wachsender Beliebtheit erfreuten. Dies geschah zur selben Zeit, da im Iran, als Reaktion auf die Herrschaft von Schah Reza Pahlavi, der eine Entwicklungsdiktatur unter dem Vorzeichen forcierter Säkularisierung errichtet hatte, Ayatollah Khomeini ein nicht minder despotisches, jedoch unter dem Diktat der Erneuerung des schiitischen Glaubens stehendes Regime etablierte. Und ging nicht ausgerechnet von den türkischen Einwanderern nach Deutschland, die ihre Heimat um einer besseren sozioökonomischen Zukunft willen verlassen hatten, die Gründung der stark vergangenheitsorientierten Kaplan-Sekte aus, deren charismatischer Führer nichts Geringeres als die Einrichtung eines den gesamten Vorderen und Mittleren Orient umfassenden Großkalifats im Sinn hatte?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es wird keineswegs bestritten, dass die meisten Gesellschaften, ausgehend von der Entwicklung Europas und den USA, in eine umfassende, von spektakulären wirtschaftlichen und technischen Fortschritten begleitete Bewegung geraten sind, der sich derzeit kein Staat und keine substaatliche gesellschaftliche Gemeinschaft entziehen kann und für die sich mangels eines überzeugenderen Konzeptes der Begriff »Modernisierung« durchgesetzt hat. Zudem ist einzugestehen, dass die Modernisierungstheorie, die diesen Prozess zu modulieren unternimmt, ihre ursprünglichen Schwächen teilweise korrigiert hat: etwa durch die von Shmuel Eisenstadt angestoßene Debatte über »Multiple Modernities«, die einräumt, dass es nicht nur einen Entwicklungsweg gibt, desgleichen durch die stärkere Berücksichtigung von Außeneinflüssen auf den jeweiligen nationalen Entwicklungsweg bzw. die Entwicklung von Zivilisationen oder die Ermahnung zu vermehrter Kontingenzsensibilität bei der Analyse konkreter Entwicklungsprozesse.1

Allerdings erweist sich gerade der Kontingenzbegriff bei näherem Hinsehen als eine Art Catch-all-Formel, deren Funktion weniger in der Heilung als in der Vertuschung signifikanter Mängel der Modernisierungstheorie besteht. Will man diese substanziell verbessern, das heißt brauchbar für die Interpretation und Erklärung spezifischer Fälle sozialen Wandels machen, so reicht es nicht aus, diesen bestimmte Entwicklungsschemata überzustülpen und darüber zu spekulieren, warum sie ihnen mehr oder weniger entsprechen. Vielmehr wird man den jeweiligen Prozess des sozialen Wandels selbst genauer analysieren müssen. Dieser erschöpft sich ja nicht in mehr oder weniger radikalen Brüchen und der darauf folgenden Emergenz neuer Strukturen, sondern dahinter steht meist ein Ringen zwischen am Status quo festhaltenden und diesen in einer bestimmten Richtung verändernden Kräften. Sozialer Wandel, vor allem beschleunigter sozialer Wandel, verläuft so gut wie nie reibungslos. Durch ihn können sich nicht nur neue soziale Gruppen profilieren, sondern zugleich werden die in der Tradition verhafteten sozialen Akteure alarmiert und mobilisiert. Sie werden die sich abzeichnenden Veränderungen nach Möglichkeit abbremsen oder sogar (wenn sie genug Macht haben) blockieren. Möglicherweise lenken sie den Wandel aber auch in eine neue Richtung, versuchen ihn zu steuern oder anzuführen.

Genau hier setzt die Untersuchung an. Das sich fortschrittlich gebende Neue, das auf sämtliche Nachzüglergesellschaften einstürmt, sind stets dieselben »Errungenschaften« der Moderne: die jüngsten Produkte des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts, die eine Steigerung der Lebensqualität versprechen, weniger soziale Ungleichheit und mehr soziale Gerechtigkeit als Normen im gesellschaftlichen Bereich sowie demokratische Partizipation und Beachtung der Menschenrechte als Norm im politischen. Wie weit und in welcher Form diese Zielvorstellungen umgesetzt werden, welche Chance sie haben, zu allgemein akzeptierten Orientierungswerten und Verhaltensmustern zu werden, hängt neben äußeren Gegebenheiten, vor allem den jeweiligen wirtschaftlichen Ressourcen, in starkem Maße von den gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen und dem Selbstverständnis der etablierten Gruppen ab. In der kooperativen oder konfliktiven Interaktion zwischen den Protagonisten von Neuerungen und den Vertretern traditioneller Werte und Machtpositionen entscheidet sich, welche Funktion dem konservativen Impuls in Bezug auf die Prozesse des Wandels jeweils zukommt.

Was heißt konservativer Impuls?

Die Wortkombination »konservativer Impuls« ist nicht meine Erfindung, sondern stammt von dem britischen Soziologen Peter Marris, auf den ich noch zurückkommen werde.2 Ich habe sie von ihm übernommen, weil sie am besten die Problematik beschreibt, die mich bereits seit längerer Zeit beschäftigt. Dabei bin ich mir durchaus bewusst, dass es sich bei »konservativ« und »Konservatismus« um ideologisch vorbelastete Begriffe handelt, deren Aufkommen und Konjunktur untrennbar mit der politischen Geschichte der jüngeren Neuzeit verbunden sind. Historiker haben mich belehrt, dass es bis ungefähr 1750 politische Neuerungen praktisch nicht gab, sondern jede Forderung nach einer Korrektur der als untragbar empfundenen Verhältnisse als Anmahnung vorgebracht werden musste, zu einer als verbindlich und perfekt unterstellten ursprünglichen politischen Ordnung zurückzukehren. Erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts, vor allem nach der Französischen Revolution, seien Vergangenheitserfahrung und Zukunftserwartung auseinandergetreten,3 habe sich mit der Idee des Fortschritts und einer besseren Zukunft auch die Gegenvorstellung, es gelte unbeirrt am Bewährten und Vertrauten festzuhalten, zu einer eigenständigen Strömung und Ideologie, eben dem Konservatismus, verdichtet.4

Mit dieser mächtigen politischen und intellektuellen Strömung, die sich über rund 200 Jahre erstreckte, hat meine Untersuchung so gut wie nichts gemeinsam. Nichts liegt mir ferner, als der bereits weitgehend aufgearbeiteten politischen Geschichte und Ideengeschichte des Konservatismus eine weitere Studie hinzuzufügen. Gleichwohl wollte ich auf den Begriff »konservativ« nicht verzichten. Die Untersuchung bezieht sich auf die jüngste Neuzeit und handelt von Fällen rapiden sozioökonomischen Wandels und politischer Umbrüche an der europäischen Peripherie sowie in Lateinamerika, im Mittleren Osten und in Ostasien. Derartige entscheidende Veränderungen, welche die überkommenen Strukturen prinzipiell infrage stellen, finden bei breiten Bevölkerungskreisen Beifall und wecken Hoffnungen auf eine verheißungsvolle Zukunft, sie stoßen aber regelmäßig auf den Widerstand jener Gruppen, die sich als künftige Modernisierungsverlierer sehen. Die Gesellschaft spaltet sich in gegensätzliche Lager; es mag auch vermittelnde Kräfte geben, doch für eine Position des reinen Traditionalismus, wie sie Mannheim in den 1920er Jahren vom Konservatismus abgegrenzt hat, bleibt wenig Raum. Wer sich nicht dem progressiven Lager anschließt, sondern am Hergebrachten festhält, ergreift damit automatisch Partei für die Gegenseite und wird auch entsprechend eingestuft.5

»Konservativ« im Sinn dieser Studie beschränkt sich folglich nicht mehr auf eine bestimmte politische Haltung. Der Begriff erfährt vielmehr eine Ausweitung zu einer quasianthropologischen Grunddisposition: der teils bewussten, teils mehr intuitiven Verankerung des Denkens, Fühlens und Handelns in traditionellen Bahnen und Mustern. Die gegen Veränderungsdruck sich abschirmenden Denkweisen und Praktiken haben nicht zwangsläufig weit in die Geschichte der betreffenden Gesellschaft zurückreichende Wurzeln, möglicherweise sind sie das Resultat von Überlagerungsprozessen relativ aktuellen Ursprungs.6 Es genügt, dass sie sich als Bestandteil des allgemeinen Verhaltens- und Strukturrepertoires eingebürgert und bewährt haben, der nur widerwillig preisgegeben wird.

Mit »Impuls« soll die Absetzung von politischen Bewegungen und deren Rechtfertigungskonstruktionen noch zusätzlich unterstrichen werden. Impuls birgt ein antirationales Moment und bezieht sich auf spontane, eher kurzfristige Reaktionen und Motivationen, was aber nicht ausschließt, dass durch Impulse ausgelöste Handlungsketten in eine kohärente Strategie münden. Der Ausdruck »konservativer Impuls« wird hier als eine Art Carte blanche, das heißt als sozialpsychologische Sammelkategorie benutzt, um ein möglichst breites Feld konservativ motivierter und inspirierter Einstellungen, Mentalitäten und Praktiken zu erfassen. Diese können individueller oder kollektiver Natur sein, als Reaktion auf beschleunigten disruptiven Wandel auftreten oder im Rahmen seiner Dynamik selbst zum Tragen kommen, mehr eine emotionale Äußerung erfahren oder als ideologische Option in Erscheinung treten. Ein solch weit aufgefächertes Vorgehen ist durch den Umstand gerechtfertigt, dass der Untersuchungsgegenstand einen weitgehend weißen Fleck auf der Forschungslandkarte darstellt. So intensiv der Konservatismus als politische Bewegung und Machtstrategie in der Literatur behandelt worden ist, so wenig wissen wir darüber, welche Bedeutung konservative Gefühle, Denk- und Verhaltensweisen bei jenen entfalten, die unmittelbar von Prozessen einschneidenden akzelerierten Wandels betroffen sind.

Anknüpfungspunkte und Vorläufer

Gewiss fehlt es nicht an Hinweisen in der Literatur auf Tendenzen und Chancen, inmitten eines überstürzt sich vollziehenden Wandels Traditionsbestände zu retten oder ihnen sogar zu einer gewissen Aufwertung zu verhelfen. Das klassische Paradebeispiel hat Alexis de Tocqueville mit dem Nachweis geliefert, dass der während der Französischen Revolution erfolgte politische und administrative Zentralisierungsschub bereits lange zuvor in den auf das gleiche Ziel zusteuernden Maßnahmen der Monarchie angelegt war.7 Frühe Kritiker der Modernisierungstheorie wie C. S. Whitacker und J. Gusfield machten ebenfalls darauf aufmerksam, dass die strikte Gegenüberstellung von Tradition und Moderne eine Fiktion sei, da im realen Entwicklungsverlauf traditionelle und moderne Elemente eng ineinandergriffen, vor allem die alten Eliten es oft fertigbrächten, einen Teil ihres Wertekanons und ihrer Machtstrukturen in die neue Ordnung hinüberzuretten.8 In etlichen Theorieansätzen wird dem Gewicht von Herkommen und bewährten Praktiken bei sozialem Wandel ebenfalls Rechnung getragen, etwa in Theorien des kulturellen Gedächtnisses, Stiftungs- und Institutionstheorien oder, in neuerer Zeit, den Theorien zur Pfadabhängigkeit von Entwicklung.9 Doch hielt sich der Nutzen, den ich aus diesen Vorarbeiten (mit Ausnahme der bahnbrechenden Erkenntnisse de Tocquevilles) für mein eigenes Vorhaben ziehen konnte, in Grenzen.

Für dessen Anlage und Durchführung erwiesen sich dagegen drei vorausgegangene Studien – wenngleich, wie sich zeigen wird, in unterschiedlicher Weise – als fruchtbar. Der wichtigste, schon viele Jahre zurückliegende Motivationsschub ging von Peter Marris’ in den 1970er Jahren verfassten Werk Loss and Change aus.10 Hier stieß ich zum ersten Mal auf einen Autor, der in Bezug auf Nachzüglergesellschaften explizit und in kohärenter Form jene Bedenken zum vorherrschenden Entwicklungsparadigma vortrug, die sich in mir aufgrund meiner Beschäftigung mit Lateinamerika bereits seit geraumer Zeit angesammelt hatten. Marris hatte über Jahre hinweg in und über Afrika gearbeitet und übernahm später eine Professur für Städteplanung in den USA. Seine Pionierstudie hat meine eigene Untersuchung in dreierlei Hinsicht beeinflusst.

Erstens konzentrierte sich Marris, wie ich, auf Prozesse beschleunigten, einschneidenden Wandels (disruptive change), wo am ehesten mit konservativen Reaktionen zu rechnen ist. Seine Beispiele entnahm er, auch hier folge ich ihm, überwiegend der eigenen Forschungserfahrung. Konservative Traktate, die bereits die intellektuelle Verarbeitung des Traditionsbruchs widerspiegeln, ließ er beiseite. Vielmehr interessierte ihn primär die unmittelbare, teils auch die mittelbare Reaktion der vom Wandel Betroffenen, die nur bedingt einer rationalen Steuerung unterliegt (»Impuls«). Das entspricht auch dem Fokus dieser Untersuchung.

Zweitens arbeitete Marris zutreffend heraus, dass ein Ansatz, der beim sozialen Umgang mit dem Wandel nur auf die Anpassung an das Neue abstellt, zu kurz greift. Eher sei vom gegenteiligen Bestreben, nach Möglichkeit am Herkömmlichen festzuhalten, auszugehen. Wie er idealtypisch am Beispiel des Verlustes eines nahen Angehörigen aufzeigte, wird die Einbuße von etwas Vertrautem, sei es eine Person oder eine Institution, zunächst als bedrohlicher, Schmerz und Leid verursachender Angriff auf das eigene Selbstgefühl empfunden. Disruptiver Wandel löst folglich, so sein Fazit, regelmäßig gegensätzliche Reaktionen aus: einerseits das verzweifelte, letztlich vergebliche Festhalten an der Vergangenheit, andererseits, angesichts der Notwendigkeit, sich auf die neue Situation einzustellen, das Bemühen, dieser gerecht zu werden. Das Abarbeiten der Spannung zwischen diesen beiden Polen (working out ist ein Lieblingsausdruck von Marris) ist eine Voraussetzung dafür, dass die Betroffenen in ihrer Entwicklung nicht stehen bleiben.11

Drittens teile ich den hinter diesen Überlegungen stehenden sozialpsychologischen Theorieansatz von Marris. Ihm liegt die implizite Annahme zugrunde, wichtiger als reine Machtkalküle oder die Verfolgung wirtschaftlicher Interessen sei in Fällen einschneidenden Wandels die Sinnebene, als Möglichkeit verstanden, das auf Einzelne und soziale Kollektive einstürmende Neue in den bestehenden Kosmos vertrauter Bedeutungen und Wertprämissen einzugliedern, um damit zurechtzukommen. Insoweit sind Individuen und soziale Gruppen oder größere gesellschaftliche Einheiten vor ganz ähnliche Probleme gestellt, weshalb hier, wie auch bei Marris, kein prinzipieller Unterschied zwischen ihnen gemacht wird.

Es ließen sich noch weitere Einsichten nennen, in denen meine Untersuchung an die Arbeit von Marris anknüpft. Gleichwohl soll nicht unerwähnt bleiben, dass ich nicht mit all seinen Schlussfolgerungen einverstanden bin. So überstrapaziert er aus meiner Sicht seine These, wenn er jede Neuerung, auch die überraschendste und kühnste, aus dem konservativen Impuls ableiten oder mit ihm in Zusammenhang bringen will. Es gibt durchaus Menschen, mag es auch nur eine kleine Minderheit sein, die vor Neuerungen nicht nur nicht zurückschrecken, sondern sich begierig auf sie stürzen und sich auf Abenteuer einlassen, deren Ausgang völlig ungewiss ist.12

Die zweite Studie, die mich inspiriert hat, wurde von Doug McAdam, Sidney Tarrow und Charles Tilly verfasst und erschien 2001 unter dem Titel Dynamics of Contention.13 Es handelt sich um eine komplex angelegte Untersuchung von insgesamt 15 Fällen, die in Form von Paarvergleichen die Hintergründe von Revolution und Bürgerkriegen, Prozessen der Nationsbildung und Demokratisierungsprozessen zu analysieren unternimmt. Ich stieß auf das Buch, als ich in der eigenen Untersuchung bereits relativ weit fortgeschritten war, und fühlte mich unmittelbar durch die unorthodoxe Vorgehensweise der drei Autoren angesprochen. Besonders beeindruckend fand ich, dass Charles Tilly, welcher der Forschung über soziale Bewegungen entscheidende konzeptuelle und methodische Anstöße gegeben hatte, nunmehr, im vorgerückten Alter, dafür plädierte, von einem Denken in abgeschlossenen Phasen und allgemeinen Modellen Abschied zu nehmen, auch nicht bei der Analyse der Eliten und ihrer Ressourcen sowie der jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen stehen zu bleiben, sondern in einer Kombination von rationalistischer, kulturalistischer und strukturalistischer Vorgehensweise gewissermaßen hinter die Kulissen zu schauen, um das Streitgeschehen steuernde »robuste Mechanismen und Prozesse« ausfindig zu machen. Als solche Mechanismen, deren Relevanz sich quer durch das bunte Fallmaterial bestätigte, stellte das Autorenteam Makler- und Vermittlerdienste (brokerage), Identitätswechsel (identity-shift), Radikalisierung (radicalisation) und als Reaktion darauf das Zusammenrücken der gemäßigten Kräfte (convergence) heraus.

Was unabhängig von diesen konkreten Ergebnissen eine starke Affinität dieser Studie über Streitdynamik zu meiner eigenen Untersuchung begründet, sind folgende Akzentsetzungen:

die Präferenz, die auf der Verfolgung dynamischer Prozesse gegenüber einer statischen Betrachtungsweise liegt;

die Option für qualitative Vergleiche, bei denen die jeweiligen historischen und transnationalen Rahmenbedingungen Berücksichtigung finden;

das theoretical sampling, das heißt die Auswahl der Fälle im Hinblick auf eine bestimmte Theorie oder These;

schließlich das Eingeständnis, dass ein und derselbe Mechanismus bzw. Prozess je nach Zeitpunkt und Begleitumständen unterschiedliche, gegebenenfalls auch konträre Wirkungen entfalten kann.

Diese von mir geschätzten methodischen und theoretischen Prämissen der Untersuchung McAdams und seiner Kollegen stehen in deutlichem Gegensatz zu einem dritten Buch, das mich in der Absicht bestärkt hat, den konservativen Impuls in Nachzüglergesellschaften genauer zu erforschen. Es handelt sich um eine unter dem Titel Beschleunigung erschienene, ebenso materialreiche wie scharfsinnige Analyse des Soziologen Hartmut Rosa über eines der alarmierendsten Merkmale zeitgenössischer Gesellschaften.14 Da Rosa auf eine räumliche und kulturelle Eingrenzung der Studie verzichtet, würde ich diese, quasi als ein Spätprodukt, der Kategorie der Modernisierungs- bzw. Postmodernisierungstheorie zuordnen. Wird doch, als eine Art allgemeiner Gesetzmäßigkeit, das Ineinandergreifen und die daraus resultierende Eskalation technologischer Beschleunigung, der Beschleunigung des sozialen Wandels und der Akzeleration des Lebenstempos behauptet, die schließlich zum »rasenden Stillstand«, der Gleichzeitigkeit von Hyperakzeleration und Erstarrung führen würden. Diese Prognose dürfte in Bezug auf Nachzüglerregionen – der größte Teil der Welt besteht aus Nachzüglergesellschaften – unhaltbar sein; das Beschleunigungsproblem stellt sich dort meist in anderer Form als in den kapitalistischen Zentren, aus denen Rosa vorzugsweise seine Beispiele nimmt, und erfährt überwiegend eine differenziertere Lösung.

Zunächst muss erstaunen, warum Rosa sich nicht die Frage gestellt hat, wie unter den von ihm herausgearbeiteten Bedingungen nachholende Entwicklung (wie z.B. in Taiwan, in Südkorea etc.) überhaupt möglich sein kann. Vorausgesetzt, seine Beschleunigungsthese trifft auf die klassische Moderne und den Übergang in die Postmoderne zu, bedeutet dann die erfolgreiche Aufholjagd später in die Moderne eintretender Nationen, dass sich Beschleunigung nochmals potenziert, und was soll man sich konkret darunter vorstellen?

Jenseits solcher Sprachspiele, an denen die Grenzen des Beschleunigungsparadigmas deutlich werden, gibt es wenigstens drei Gründe, warum die Beschleunigungskurve in den meisten Nachzüglergesellschaften (nicht in allen!) anders als im Westen verläuft. 1. Der Druck, der ständig auf den Führungsgruppen dieser Gesellschaft lastet, mit den entwickelten Nationen gleichzuziehen, löst einerseits periodische Anstrengungen aus, den Rückstand zu verringern, erzeugt aber gleichzeitig einen Gewöhnungseffekt an das Modernisierungsdefizit. 2. Als Resultat periodischer Entwicklungsschübe bilden sich partiell modernisierte Gesellschaften heraus, in denen häufig die Ausdifferenzierung der Funktionsbereiche (Recht, Politik, Religion usw.) weniger ausgeprägt ist, der Staat und das Institutionsgefüge schwächer sind als im Westen. Es entsteht eine »strukturelle Heterogenität« als Dauerzustand, der den von Rosa herausgearbeiteten, einander verstärkenden Beschleunigungszyklen im Wege steht. 3. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass das Nachhinken in der Entwicklung neben etlichen Nachteilen immerhin den Vorteil hat, dass die wacheren Geister unter den Nachzüglern, den Westen vor Augen, abwägen können, was ihnen als Fortschritt übernehmenswert erscheint und was nicht. Eine typische Option in diesem Sinn ist, dass die Erzeugnisse des technischen Fortschritts nach Kräften in das eigene System integriert werden, während man hinsichtlich der Alltagsgestaltung am herkömmlichen gemächlicheren Lebensrhythmus festhält.

Die Hauptthese: Ambivalenz des konservativen Impulses

Nach dem klassischen Modernisierungsmodell bildeten Traditionselemente einer Gesellschaft schlicht einen Hemmschuh, der die als positiv und begrüßenswert apostrophierte »Entwicklung« bremste. Die Wahrscheinlichkeit, dass das »Neue« sich durchsetzen würde, ergab sich durch die Subtraktion der hemmenden, von den den »Fortschritt« vorantreibenden Kräften. Abgesehen von der Fortschrittsgläubigkeit dieser Sichtweise lag einer ihrer Hauptmängel in der rein negativen Einstufung aller Traditionsbestände, welche, indem sie an vergangene Mentalitäten, Praktiken und Strukturen anknüpfen, der Modernisierungsdynamik im Wege zu stehen schienen.

Tatsächlich erscheint es weit fruchtbarer und realitätsgerechter, der jeweiligen Tradition und dem aus ihr entspringenden konservativen Impuls eine schöpferische Potenz eigenen Rechts und Rangs zuzugestehen, die sich nicht im Verlangsamen, Blockieren und Verhindern des Fortschritts erschöpft. Bewahrende und progressive Gruppen und Kräfte treten, folgt man dieser Annahme, im Zuge beschleunigten sozialen Wandels in eine Auseinandersetzung ein, deren Ausgang offen und nicht ohne Weiteres prognostizierbar ist. Denn je nach Zeitpunkt, Kontext und Kräfteverhältnis können Äußerungen und Triebkräfte des konservativen Impulses nicht nur die Entwicklungsdynamik bremsen, sondern dieser auch förderlich sein oder sogar zu einer ihrer wesentlichen Voraussetzungen werden. Dies ist meine These von der ambivalenten Wirkung des konservativen Impulses, um die ein Großteil der Untersuchung kreist.

Dass soziale Prozesse oder Mechanismen polyvalent sein können, das heißt je nach den Begleitumständen die eine oder auch die entgegengesetzte Wirkung entfalten können, ist bis heute ein Tabu in den Sozialwissenschaften, da sich diese Einsicht schwer mit deren Bestreben, deterministische Aussagen zu formulieren, vereinbaren lässt. Man zieht es vor, in diesen Fällen mit der Kontingenzformel zu operieren, die besagt, dass »unvorhersehbare Ereignisse« dem an sich vorhersehbaren Verlauf einer Entwicklung eine unerwartete Wende geben können. Wiederkehrende Prozesse und Mechanismen, selbst wenn sie unterschiedliche Effekte zeitigen, müssen aber nicht notwendig als »kontingent« im Sinne von zufällig und unberechenbar eingestuft werden, sofern sich mit einiger Wahrscheinlichkeit bestimmen lässt, wann mit der einen oder anderen Wirkung zu rechnen ist. Albert Hirschman, lange Zeit das enfant terrible der wirtschaftswissenschaftlichen Entwicklungstheorie, inzwischen ein Klassiker, hat schon in den 1960er Jahren am Beispiel bestimmter Institutionen in Lateinamerika nachgewiesen, dass sogenannte Entwicklungshindernisse unter Umständen zu Antriebskräften der Entwicklung werden können.15 Auch McAdam, Tarrow und Tilly halten es nicht prinzipiell für problematisch, dass den von ihnen herausgearbeiteten »robusten Mechanismen und Prozessen« keine eindeutige Wirkung zukommt, man müsse auf den jeweiligen Kontext, die zeitliche Sequenz und die Kombination mit anderen Mechanismen achten, um Genaueres sagen zu können.16 In Bezug auf den konservativen Impuls, so lässt sich aus diesen beiden Präzedenzfällen folgern, ist also weniger seine Ambivalenz als solche das Problem, sondern es stellt sich die Frage, ob sich Näheres über die Bedingungen ausmachen lässt, unter denen er einer durch disruptiven Wandel hervorgerufenen Entwicklung förderlich oder abträglich ist.

Fragen und Hypothesen

Die nunmehr kurz zu umreißenden Fragen und Hypothesen, die den inneren Leitfaden der Untersuchung bilden, zerfallen in zwei Gruppen, die sich allerdings nicht scharf voneinander trennen lassen. Zum einen handelt es sich um begriffliche und kategoriale Vorentscheidungen, die der Untersuchung zugrunde liegen, zum anderen um Hypothesen, die deren mutmaßliche Ergebnisse betreffen. Die Grenze zwischen beiden ist nicht leicht zu ziehen, da auch die Prämissen auf einer vorläufigen Sichtung des empirischen Materials beruhen, folglich ihre definitive Bewährung, ähnlich wie bei den offener formulierten Hypothesen, letztlich vom Ergebnis der empirischen Untersuchung abhängt.

a)Wie äußert sich der konservative Impuls?

Im Prinzip sind insoweit drei Betrachtungsebenen möglich. Die erste, aus meiner Perspektive wichtigste, ist die Einstellung zum sozialen Wandel und der Umgang mit ihm durch die unmittelbar und bewusst von ihm Betroffenen. Wie reagieren sie spontan und längerfristig auf die ihnen zugemuteten Prozesse des Umdenkens und der Anpassung? Neben rationalen Erwägungen hängt dies in beträchtlichem Maße von tieferen Emotionen und das jeweilige Selbstverständnis berührenden Bewusstseinsschichten ab. Dagegen ist für die hier zur Diskussion stehende Fragestellung eine zweite Ebene der gedanklichen Verarbeitung der Umwälzung, die bereits eine gewisse räumliche, zeitliche oder »innere« Distanz zum eigentlichen Geschehensablauf voraussetzt,17 weniger relevant. Wohl aber erscheint eine dritte Betrachtungsebene interessant, die sich auf mentale und in der Praxis sich manifestierende Kontinuitäten in der Phase des Umbruchs bezieht, die dessen Protagonisten nicht unbedingt bewusst sein müssen. Die jüngere Geschichte von Nachzüglerstaaten im politischen Modernisierungsprozess ist reich an Beispielen für das Festhalten an eingespielten, in der politischen Kultur des Landes verankerten Mentalitäts- und Verhaltensmustern hinter einer Fassade äußerlicher Zugeständnisse an das Modell des liberal-demokratischen Rechtsstaats.

b)Wovon hängt die Stärke des konservativen Impulses ab?

Wie im ersten Kapitel »Individuelle Verlusterfahrungen« herausgearbeitet werden wird, im Wesentlichen von drei Variablen: erstens von der Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit des beschleunigten Wandels, ob darin also ein Fortschritt oder eine Einbuße gesehen wird; zweitens von dessen Reversibilität bzw. Irreversibilität – neue Entwicklungen, die als definitiv, also unumkehrbar erscheinen, zwingen zur Anpassung und schieben damit allen Bestrebungen, frühere Verhältnisse wiederherstellen zu wollen, einen Riegel vor; drittens ist der Zeitfaktor von eminenter Bedeutung.18

Einzelne wie auch soziale Kollektive brauchen einen zeitlichen Spielraum, um sich auf neue Entwicklungen einzustellen; hier liegt eines der Hauptprobleme raschen disruptiven Wandels. Oft sorgt die sich länger hinziehende Auseinandersetzung zwischen progressiven und retardierenden Kräften dafür, dass alle Beteiligten die notwendige Zeit gewinnen, um sich an die veränderte Lage zu gewöhnen. Wo der Veränderungsprozess hingegen sehr rasch und reibungslos verläuft, sei es, dass die konservativen Kräfte unterdrückt werden, sei es, dass sie sich überrumpeln oder freiwillig in den Sog der Fortschrittsbewegung hineinziehen lassen, kommt es nicht selten zu einem längeren Nachspiel, bis sich ein neues Gleichgewicht zwischen Progressiven und Reaktionären einpendelt. Hierfür liefert die Französische Revolution den klassischen Präzedenzfall.19

c)Wie stark und ausgeprägt ist der konservative Impuls in den verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen?

Insoweit eine für alle Zeiten und Gesellschaften gültige Aussage formulieren zu wollen, wäre vermessen. Was indes jene umfassende Bewegung betrifft, die eingangs als Modernisierungsprozess bezeichnet wurde, so sind doch deutliche Differenzen hinsichtlich der Aufgeschlossenheit oder ablehnenden Grundhaltung zwischen den genannten Bereichen erkennbar. Vereinfacht sei hier die Behauptung aufgestellt, dass der konservative Impuls im wirtschaftlich-technischen Bereich am schwächsten ausgeprägt ist, dagegen im kulturellen Bereich am stärksten zum Tragen kommt, während der politische Machtbereich eine Zwischenstellung einnimmt.

Es ist schwerlich ein Zufall, dass die Pfadabhängigkeitstheorie, in welcher eine gewisse Verwunderung ihren Ausdruck findet, dass Gesellschaften nicht unbegrenzt innovationsfreudig sind, auf die Wirtschaftswissenschaft zurückgeht.20 Wirtschaftliche und technische Neuerungen werden in weniger entwickelten Ländern fast durchweg als Fortschritt begrüßt, sodass es insoweit auf das zweite Kriterium für die Abschwächung des konservativen Impulses, die Irreversibilität des damit eingeleiteten Wandels, gar nicht mehr ankommt. Dass der konservative Impuls im kulturellen Bereich, der unsere Sozialisation, unsere Alltagsgewohnheiten, unseren Wertehorizont und damit unser ganzes Selbstverständnis einschließt, gewissermaßen seinen Ursprung hat, ist die Hauptthese von Marris, der ich mich weitgehend anschließe. Auch kultureller Wandel ist, jedenfalls kurzfristig, kaum umkehrbar. Da es aber von den Individuen und gesellschaftlichen Kollektiven selbst abhängt, inwieweit sie ihn mittragen, ist es nur allzu verständlich, dass sie oft intensiv bemüht sind, ihn hinauszuzögern. Der politische Machtbereich schließlich stellt das Forum dar, auf dem die Auseinandersetzung zwischen progressiven Kräften und jenen, die zum Status quo zurückkehren wollen, öffentlich ausgetragen wird. Da er, von Diktaturen abgesehen, zugleich jener Bereich ist, wo alles revidierbar erscheint, schwingt das Pendel, je nach Machtkonstellation, oft mehrmals hin und her, bis eine gewisse Balance gefunden ist.

d)Wie beeinflusst der konservative Impuls den sozialen Wandel, welche Wirkung zeitigt er?

Prinzipiell sehe ich vier Hauptformen, in denen sich der konservative Impuls in einer in Fluss geratenen Situation manifestieren kann. Die erste ist das Fortbestehen von Inseln der Tradition inmitten der sich rapide verändernden Gesellschaft. Die Familie oder religiöse Glaubensgemeinschaften stellen oft solche institutionellen Inseln dar, die sich der allgemeinen Aufbruchsstimmung entziehen. Auch die oben erwähnten, den Akteuren selbst oft nicht bewussten mentalen und praxisbezogenen Kontinuitäten fallen in diese Kategorie.

Zweitens kann es, gleichsam zur Abfederung des Wandels, zu einer Aufwertung und besonderen Betonung traditioneller Überzeugungen und Praktiken kommen, womit eine Kreativität eigener Art verbunden ist. Die Bekräftigung des Eigenwerts produktiver Arbeit und des Prinzips, keine Schulden zu machen, während der Phase der Hochinflation in der Weimarer Republik21 bietet sich hierfür ebenso als Beispiel an wie die Hinwendung zum religiösen Fundamentalismus unter jungen, mit der säkularisierten Gesellschaft des Westens konfrontierten Muslimen. Die Flucht in überlieferte Werte und Glaubenshaltungen erklärt sich aus der Suche nach einem Halt angesichts eines in Bewegung geratenen, unübersichtlich gewordenen sozialen Umfelds.

Drittens kann auch eine Synthese zwischen traditionellen Werthaltungen und Zielen sowie Bestrebungen der Neuerer zustande kommen. Die zitierten Aufsätze von Whitacker und Gusfield enthalten zahlreiche Belege für die Komplementarität alter und neuer Eliten. Auch eine Studie von Adrian Waldmann über die Fortgeltung alter Einstellungen und Grundhaltungen im Gewand neuer Institutionen in der bolivianischen Provinz Santa Cruz, die von 1950 bis 2000 einen spektakulären wirtschaftlichen Aufschwung nahm (»Feuderne«), bietet sich als Beispiel an.22

Eine vierte Möglichkeit besteht darin, dass konservative Gruppen mächtig genug sind, um unwillkommene Entwicklungen zu blockieren oder zu sabotieren. Ein Beispiel für die erste Variante lieferte die südkoreanische Yangban-Herrschaftsklasse, die sich während des ganzen 19. Jahrhunderts erfolgreich gegen die Öffnung des Landes gegenüber westlichen Einflüssen zur Wehr setzte.23 Da dies ein auf die Dauer vergebliches Unterfangen ist, kommt längerfristig der zweiten Alternative weit größere Bedeutung zu, dass traditionelle Machtgruppen zwar deklaratorisch, eventuell auch im institutionellen Bereich, beträchtliche Zugeständnisse an das Paradigma der Moderne machen, jedoch gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass die informellen Verhaltenscodes der betreffenden Gesellschaft weitgehend unverändert bleiben. Lateinamerika bietet eine breite Palette von Beispielen für diese Strategie.

e)Lässt sich etwas darüber sagen, wann eher mit einer konstruktiven oder einer obstruktiven Auswirkung des konservativen Impulses auf den Wandel zu rechnen ist?

Das ist eine schwierige Frage, auf die allenfalls vorläufige tentative Antworten möglich sind. Wie etwa lässt sich bestimmen, ab wann eine konservative Reaktion, die oben als Schutzhaltung gegenüber einer unübersichtlich gewordenen Umwelt gekennzeichnet wurde, in eine prinzipielle Verweigerungshaltung gegenüber der Moderne umschlägt?

Immerhin drängen sich einige allgemeine Schlussfolgerungen auf. So ist nicht zu übersehen, dass die Mitglieder einer herrschenden Klasse, solange sie einen geschlossenen Block bilden, ihren Machtinteressen schädliche Entwicklungen oft mit allen Mitteln zu unterbinden suchen, während die versprengten Reste derselben, nachdem der Block zerschlagen wurde oder sich aufgelöst hat, nicht selten zu eifrigen Verfechtern des neuen Kurses werden. Bei religiösen Lehren und ideologischen Konstrukten hängt viel von der Bandbreite ihrer Interpretationsmöglichkeiten ab. Beispielsweise ist man sich beim Konfuzianismus, dem Max Weber in seiner vergleichenden Analyse der Weltreligionen eine die wirtschaftlich-gesellschaftliche Dynamik eher drosselnde Funktion zuschrieb, inzwischen einig, dass er ein unverzichtbarer Bestandteil jener mentalen Gesamtdisposition war, die Südkorea innerhalb von 30 Jahren den Sprung von einer der ärmsten Gesellschaften in den Kreis der industriellen Exportnationen ermöglichte.24

Erneut ist auf die Bedeutung des Zeitfaktors hinzuweisen, der mit dem konservativen Impuls insgesamt den ambivalenten Charakter teilt. Gesellschaften wie Individuen können durch allzu brüsk über sie hereinbrechende Neuerungen nicht nur überfordert sein, es kommt auch vor, dass sie unterfordert sind und sich mit Scheinlösungen zufrieden geben, wenn ihnen zur Anpassung an die neuen Verhältnisse zu viel Zeit zur Verfügung steht. Aus einer übergeordneten Warte lässt sich die Auseinandersetzung zwischen den Wandel vorantreibenden und ihm hinderlichen Kräften nicht zuletzt als Problem des Identitätsmanagements eines Einzelnen oder eines gesellschaftlichen Kollektivs begreifen. Dabei gehe ich mit Uwe Schimank davon aus, dass sich Identität aus drei Komponenten zusammensetzt: einer kognitiven, einer normativen und einer evaluativen.25 Die kognitive Komponente (»Wer bin ich?« oder »Wer sind wir?«) knüpft an das gewachsene Selbstverständnis einer Gruppe oder eines Individuums an. In der normativen Dimension kommt der Zwang zur Anpassung an die Anforderungen der Umwelt zum Tragen, die sich in Phasen raschen Wandels stark verändern können. Mit der dritten Komponente, dem eigenen Wollen und Entscheiden, ist das Management-Problem angesprochen, wie sich unter Berücksichtigung der beiden anderen, eventuell stark divergierenden Komponenten eine leidlich stimmige individuelle oder soziale Identität formen lässt.26

Aufbau der Untersuchung, Fallauswahl und Vorgehensweise

Die empirische Recherche setzt bei individuellen Verhaltensreaktionen ein, um einen Maßstab für die Stärke des konservativen Impulses zu gewinnen (Kap. I). Dem liegt die Annahme zugrunde, dass beim Einzelnen in idealtypischer Schärfe jene Motivationskräfte auszumachen sind, die bei sozialen Kollektiven oft durch zusätzliche Einflussfaktoren verwischt werden. Wie bereits erwähnt, hängt die Stärke des konservativen Impuls, so die tentative Annahme, von drei Variablen ab: der Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit, mit der sich Individuen und soziale Kollektive dem sozialen Wandel aussetzen; dessen Umkehrbarkeit oder Irreversibilität; schließlich vom Zeitraum, der den Betroffenen zur Verfügung steht, um sich an die neuen Verhältnisse anzupassen. Je nach Kombination der drei Kriterien hat der konservative Impuls unterschiedliche Entfaltungschancen: Er kann die Anpassung an die neue Situation verzögern und damit zugleich erleichtern (Tod und Trauer); durch die Übertragung vertrauter Gebräuche in das neue soziale Umfeld oder die verstärkte Rückbesinnung auf die eigene Religion den Bruch mit der Vergangenheit erträglicher machen (Exil und Diaspora); oder eine Anpassung als überflüssig erscheinen lassen, da davon ausgegangen wird, dass der als Katastrophe empfundene neue Zustand nur vorübergehender Natur sein wird (Hyperinflation).

In den beiden folgenden Kapiteln wird der Einfluss konservativer Einstellungs- und Verhaltensmuster in den Bereichen Politik und Wirtschaft verfolgt. Kapitel II befasst sich mit politischen Umbrüchen und ihren Folgen, Kapitel III mit Fällen nachholender beschleunigter Entwicklung. Scheinbar handelt es sich dabei um kaum vergleichbare Funktionsbereiche und Prozesse. Politische Machtwechsel vollziehen sich meist kurzfristig, lassen sich jedoch im Prinzip wieder rückgängig machen; dagegen sind Prozesse nachholender Entwicklung eher mittelfristiger Natur und leiten, falls sie erfolgreich sind, den definitiven Abschied von der traditionellen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ein. Gegen politische Umbrüche legen die konservativen Kräfte meist erst nach vollzogenem Herrschaftswechsel ihr Veto ein; demgegenüber stellt sich beim Versuch der Bündelung aller Kräfte für einen »Entwicklungssprung« bereits sehr früh die Frage, ob dieser auch von konservativen Kreisen unterstützt oder bereits in seinen Anfängen abgewürgt wird.

Diese Unterschiede relativieren sich jedoch bei einer näheren Betrachtung. Zunächst fällt auf, dass es nicht wenige Fälle gibt, in denen ein enger Zusammenhang zwischen brüskem politischem Machtwechsel und auf längere Zeit angelegten Strategien nachholender Entwicklung besteht. Man denke etwa an die konservative Revolution von 1979 im Iran, welche das Experiment einer jahrzehntelang ausgeübten säkularisierten Entwicklungsdiktatur beendete, oder an das Franco-Regime in Spanien, ebenfalls eine letztlich auf die Modernisierung des Landes abzielende Diktatur, die in diesem Fall jedoch als Reaktion auf einen missglückten Übergang von der Monarchie zur Republik und einen anschließenden Bürgerkrieg an die Macht kam. Zweitens relativiert sich auch der Zeitunterschied, wenn man bedenkt, dass mit dem politischen Machtwechsel als solchem die Auseinandersetzung zwischen den progressiven und den konservativen Kräften nicht abgeschlossen, sondern meist erst eröffnet wird und sich dann unter Umständen über Dekaden hinziehen kann. Drittens sei daran erinnert, dass der konservative Impuls nicht nur reaktiv, sondern, wie bereits Marris feststellte, auch präventiv zum Zug kommen kann. Er äußert sich dann als Bemühung, durch einen gezielten Schritt »nach vorn« einen ansonsten drohenden größeren Schaden für die eigenen Interessen oder die Allgemeinheit abzuwenden.

Bei der Auswahl der Fallbeispiele wurde prinzipiell der »Tiefenkenntnis« einer begrenzten Zahl gegenüber einem großflächigen Überblick über möglichst viele Fälle der Vorzug gegeben. Für die Auswahl waren drei Kriterien wichtig: Zum Ersten sollten im Fokus der Untersuchung Fälle beschleunigten und einschneidenden sozialen Wandels stehen, weil davon ausgegangen wurde, dass sie eine besondere Herausforderung für konservatives Fühlen und Denken darstellen. Zweitens wurden vornehmlich Fälle aus weniger entwickelten Regionen ausgewählt (Ausnahme: die Französische Revolution), wobei darauf geachtet wurde, dass unterschiedliche Großregionen (Lateinamerika, Mittlerer Orient, Ostasien) im Sample vertreten sind. Drittens sollte es sich um Situationen und Fälle handeln, über die der Verfasser schon früher gearbeitet hatte, sodass er einigermaßen mit ihnen vertraut war.

Eine gewisse Vertrautheit mit dem Untersuchungsmaterial bedeutete freilich nicht, wie der Verfasser bald feststellen musste, dass seine Explorationen über den konservativen Impuls dadurch wesentlich erleichtert worden wären. Sie bewahrte ihn – hoffentlich – vor allzu eklatanten Irrtümern und Fehlschlüssen, wie sie bei oberflächlicher Kenntnis fremder Gesellschaften nur allzu naheliegen, ersparte ihm aber nicht, sich aufs Neue sehr intensiv mit dem jeweiligen Fall auseinanderzusetzen. Hierzu zählte auch das Fahnden nach einschlägiger, für die Themenstellung relevanter Literatur, da die üblichen Standardwerke dem konservativen Impuls in Umbruchssituationen kaum Aufmerksamkeit schenken.

Konservative Einstellungs- und Verhaltensmuster in peripheren oder semiperipheren Regionen zu untersuchen erschien sinnvoll, da in ihnen der Druck zu beschleunigter Modernisierung besonders stark ist, weshalb dort oft progressive Kräfte und in alten Strukturen verhaftete Gruppen besonders unvermittelt aufeinanderprallen. Dies wiederum hängt damit zusammen, dass sie, sieht man von gewissen Praxen im sozialen Mikrobereich ab, im Unterschied zu den bereits auf eine längere Modernisierungserfahrung zurückblickenden »Zentren« nicht die Gelegenheit hatten, Institutionen hervorzubringen, die diesen Aufprall abmildern, den Übergang von traditionellen zu modernen Strukturen kanalisieren und mediatisieren. Nicht selten nimmt in diesen Regionen, wie sich zeigen wird, staatliche Repression die Rolle eines Zwangsschlichters zwischen auseinanderstrebenden Erwartungen und Kräften ein.

Von ihrer Methodik und Vorgehensweise her nähert sich die Untersuchung stark dem von B. G. Glaser und A. L. Strauss vor rund 50 Jahren entworfenen Forschungsmodell der »Grounded Theory« an.27 Sie teilt mit diesem insbesondere die folgenden Prämissen:

Nicht die Verifizierung einer bestimmten Hypothese steht im Mittelpunkt der Explorationen, sondern die Generierung einer These mittels komparativer Analysen.28 Dies geschieht in einem induktiven Prozess, das heißt die Konzepte und Hypothesen werden schrittweise aus den Daten gewonnen.29

Die Betonung liegt auf der Erhebung und Verwertung qualitativer Daten, weil qualitative Forschung als die angemessenste und effektivste Methode erscheint, um die für das Forschungsziel benötigten Informationen zu beschaffen.30

Die Vorgehensweise entspricht dem von Glaser und Strauss vorgeschlagenen »Theoretischen Sampling«, das heißt, die Auswahl der untersuchten Fälle und Situationen wurde primär durch die Suche nach dem Forschungsgegenstand angemessenen Konzepten und Theorien bzw. Theoriefragmenten gesteuert.31 Dabei wurde im Sinne des »most different systems design«32 darauf geachtet, ein möglichst breites Feld unterschiedlicher Fälle und Situationen abzudecken.33

Insgesamt handelt es sich um einen dynamischen Forschungsprozess, der im Prinzip nie abgeschlossen ist.34 Für diese Untersuchung wurde das Material der einschlägigen Fälle und Situationen zunächst einmal durchgearbeitet, um die erforderlichen konzeptuellen Vorentscheidungen zu treffen und erste theoretische Einsichten zu gewinnen; und dann ein zweites Mal, um beides, Konzepte und Einsichten, zu überprüfen und auf eine solidere Grundlage zu stellen.

Die Ergebnisse der Untersuchung werden zusammenfassend in einem eigenen Kapitel präsentiert (Kap. IV) und durch weitere Literatur und Forschungserfahrungen des Verfassers ergänzt. Als Leitfaden dienen dabei die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen und Hypothesen.

Ein letztes Kapitel versucht sich an der theoretischen Verortung des konservativen Impulses. Möglicherweise könnte insoweit das neuerdings in die Debatte eingeführte Konzept des »sozialen Mechanismus« von Nutzen sein und die Chance bieten, der Multifunktionalität bzw. -kausalität des konservativen Impulses gerecht zu werden.35 Dazu müsste das Konzept jedoch aus dem herkömmlichen, deterministisch orientierten Theoriekontext herausgelöst und offener, ambivalenztoleranter gestaltet werden.

1Knöbl, Die Kontingenz der Moderne.

2Marris, Loss and Change, S. 54ff.

3Koselleck, »Fortschritt« und »Niedergang«, S. 224.

4Schumann, Konservatismus.

5Mannheim, Das konservative Denken.

6Reimann, Die Vitalität »autochthoner« Kulturmuster, S. 364.

7de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution.

8Whitacker, A Dysrhythmic Process; Gusfield, Tradition and Modernity.

9Assmann, Das kulturelle Gedächtnis; Gehlen, Urmensch und Spätkultur; Mahoney, Beyond Correlational Analysis.

10Marris, Loss and Change.

11Ebd., S. 38, 158.

12Nerlich, Abenteuer.

13McAdam/Tarrow/Tilly, Dynamics of Contention.

14Rosa, Beschleunigung.

15Hirschman, Entwicklung, Markt und Moral, S. 13f.

16McAdam/Tarrow/Tilly, Dynamics of Contention, S. 223f., 306f.

17Vgl. dazu Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution.

18Abbott, Time Matters.

19Furet, 1789.

20Castaldi/Dosi, The Grip of History.

21Heisterhagen/Hoffmann, Lehrmeister Währungskrise?, S. 50 f, 148ff.

22Waldmann, El hábitus camba.

23Eckert/Robinson/Lee, Korea Old and New, Kap. 9–13.

24Vogel, The Four Little Dragons, S. 92ff.

25Schimank, Handeln und Strukturen, S. 444ff.

26Reckwitz, Der Identitätsdiskurs, S. 26f.

27Glaser/Strauss, Grounded Theory.

28Ebd., S. 20.

29Ebd., S. 23.

30Ebd., S. 32ff.

31Ebd., S. 61ff.

32Przeworski/Teune, The Logic of Comparative Social Inquiry.

33Ebd., S. 75.

34Ebd., S. 49–50.

35Hedström/Swedberg, Social Mechanisms.

I

Individuelle Verlusterfahrungen

Tod und Trauer