JOHN SHIRLEY

 

Stadt geht los

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

Ein Vorwort von William Gibson 

 

Intro 

Eins! 

Zwo! 

Drei! 

Vier! 

Fünf!  

Sechs! 

Sieben! 

Acht! 

Neun! 

Zehn! 

Outro 

 

Das Buch

 

Die Punk-Sängerin Catz Wailen hat einen absonderlichen Ruf, aber sie steht für ihre Freunde ein. Dazu gehört Stu Cole, Besitzer des Anesthesia-Clubs, der in San Francisco als einer der Letzten der Mafia trotzt und seinen Club unabhängig zu halten versucht. Eines Nachts taucht bei Catz'  Konzert im Anesthesia ein unheimlicher, fremder Mann auf: Während er durch die Menge geht, ändern sich seine Kleidung, seine Hautfarbe, seine Statur, nur eines nicht – die undurchsichtige Spiegelbrille, die ihm direkt aus den Schläfen wächst...

Dieser Mann ist die konkrete Inkarnation der abstrakten Stadt.

Und er hat die allgemeine Korruption satt. Für Stu und Catz beginnt eine höllische Achterbahnfahrt durch die Halbwelt des zerfallenden San Francisco, denn: Die Stadt räumt gnadenlos auf!

 

STADT GEHT LOS – der großartige Archetypus der Cyberpunk-Literatur von John Shirley: ein bahnbrechender, rhythmischer und radikaler SF-Roman, ergänzt um ein Vorwort von William Gibson.

Der Autor

 

John Shirley, Jahrgang 1953.

 

John Shirley ist ein vielfach mit Literatur-Preisen ausgezeichneter US-amerikanischer Schriftsteller, Drehbuch-Autor und Musiker. Er gilt neben William Gibson als der stilprägendste Cyberpunk-Autor.

Erste Veröffentlichungen 1979 und 1980: Transmaniacon (Roman), Dracula In Love (Roman), City Come A.Walkin' (dt. Stadt geht los, Roman) und Three-Ring Psychus (dt. Die Psi-Armee, Roman).  

1982 folgt Cellars (dt. Kinder der Hölle, Roman), der zum wichtigsten modernen Horror-Roman der (19)80er/90er Jahre gezählt wird.  

John Shirley war Lead-Sänger der 1978 gegründeten Punk-Band Sado-Nation sowie – in den (19)80er Jahren – der Post-Punk- und ProgRock-Bands Obsession und Panther Moderns.  

Von 1985 bis 1990 Veröffentlichung der dystopischen Song Called Youth-Trilogie: Eclipse (dt. Eclipse, Roman), Eclipse Penumbra (dt. Eclipse Penumbra, Roman) und Eclipse Corona (dt. Eclipse Corona, Roman). 2012 erscheint die Trilogie als überarbeitetes und ergänztes Signature-Omnibus unter dem Titel A Song Called Youth.  

Weitere bedeutende Romane/Werke: A Splendid Chaos (dt. Ein herrliches Chaos, 1988), Wetbones (1991), ...And The Angel With Television Eyes (2001), Gurdjieff – An Introduction To His Life And Ideas (non-fiction, 2004), The Other End (2007), Everything Is Broken (2011), Black Glass (2012), Doyle After Death (2013), Wyatt In Wichita (2014).  

John Shirley gilt überdies als Meister im Verfassen von Kurzgeschichten und Erzählungen und hat dementsprechend herausragende Text-Sammlungen veröffentlicht: Heatseeker (dt. Hitzefühler, 1989), New Noir (1993), The Exploded Heart (1996), Black Butterflies (1998), Really, Really, Really, Really Weird Stories (1999), Darkness Divided (2001), Living Shadows (2007) sowie In Extremis: THe Most Extreme Short Stories Of John Shirley (2011). Gemeinsam mit William Gibson verfaßte John Shirley die Kurzgeschichte The Belonging Kind (dt. Zubehör, 1981), welche Bestandteil von Gibsons Textsammlung Burning Chrome (dt. Cyberspace, 1986) ist.  

Darüber hinaus schreibt John Shirley zahlreiche Film-Tie-Ins, u.a. Doom (2005), Constantine (2005), Batman: Dead White (2006), Resident Evil: Retribution (2012) und Grimm: The Icy Touch (dt. Grimm: Der eisige Hauch, 2013).  

Im Jahr 2012 veröffentlicht Black October-Records John Shirleys musikalischen Back-Katalog: das Mini-Album Mouintain Of Skullz und das Doppel-Album Broken Mirror Glass. 2015/16 veröffentlichte Black October-Records beide Tonträger zusätzlich in digitaler Form.  

Der Apex-Verlag widmet John Shirley eine umfangreich Werkausgabe.

 

John Shirley lebt und arbeitet in Vancouver, Washington/USA.

 

 

 

 

 

 

 

Für jede Frau, die sich jemals mit mir abplagen musste...

  

  

 

  Ein Vorwort von William Gibson

  

 

John Shirley war der proto-typische Patient des Cyberpunk, die erste Manifestation des Virus, erwiesenermaßen hochgradig ansteckend. Ein Überträger. Stadt geht los ist Beweis dafür – und für mehr. (Als ich ihn kürzlich mal wieder las, stieß mir schon ein wenig auf, wie sehr all meine frühen Texte diesen Roman nachahmen.)

Aufgepasst, es winkt Bildung: Die Stadt-Avatare in Stadt sind wahrscheinlich die Vorläufer sowohl des vernunftbegabten Cyberspace als auch der KIs in Neuromancer, und ja, es sieht eindeutig so aus, als wäre Mollys chirurgisch eingepflanzte Spiegelbrille jener nachempfunden, die City an den Schläfen direkt in Haut und Schädelknochen wächst. (Shirley selbst wurde bald stolzer Besitzer eines Kassengestells von Bausch & Lomb: eine Ur-Spiegelbrille.) Die Atmosphäre des Buches – near future im Post-Punk-Milieu – ist auf die Spitze getriebener Cyberpunk, satte zwei Jahre vor Blade Runner.

So ist dies also – und zwar in jeder Hinsicht – ein zukunftsweisendes Werk; nahezu sämtliche Elemente des noch ungeborenen Movement treiben hier in den schimmernden Wirbeln von Shirleys literarischer Verve.

  Dieser Junge aus Oregon mit seiner Spiegelbrille...

  

  Der junge aus Oregon – in der Rückschau mit einer strähnigen, schmutzig-blonden Locke in der Stirn, um seinen Hals ein Gürtel aus Zeiten einer längst ausgestorbenen Lackglanz-Mode: orangefarbene Schweinshaut, zünftig verrottet, um die rohen Glieder einer sich hindurchziehenden Metallfeder zu zeigen: Johnny Paranoid zuckte wie ein galvanisierter Frosch auf der Sperrholzbühne einer Kellerkneipe in Portland herum. Wirklich außergewöhnlich. Und, sagte er, er hatte bei Clarion mitgemacht.

  Ob ich beeindruckt war? Na, und wie!

  

  Ich lernte Shirley kennen, als ich mich erstmals am Schreiben versuchte. Oder besser gesagt, ich hatte angefangen und das ganze Projekt dann hingeschmissen, aber dieser Mensch aus Portland beschämte mich derart, dass ich wieder anfing – dieser Frontmann einer Punkband, der tagsüber Science Fiction schrieb. Zu diesem Zeitpunkt auf Shirley zu treffen war absolut entscheidend, wurde zum Dreh- und Angelpunkt meiner Karriere. Er glich einem Totem: Er war einfach da, zimmerte diese Geschichten zusammen und montierte sie mitten in der Wüste der Norm, wo ihre hastig gestalteten, doch oft atemberaubend wild wachsenden Gliedmaßen den Weg zu fremden Orten wiesen.

Allein die Tatsache, dass ein Autor wie Shirley überhaupt verlegt wurde, wie unangemessen auch immer, war ein unübertreffliches Gegengift für das flaue Gefühl, das mich überkam, wann immer ich im Laden an der Ecke George Scithers' Asimov's SF durchblätterte. Die Erstausgabe von Stadt geht los war im Juli 1980 als Taschenbuch bei Dell erschienen und unterwanderte damit das Radar der Genre-Leser. Angesiedelt in einer nahen Zukunft, die sich auf beunruhigende Weise wie die Gegenwart anfühlte (eine Wirkung, die ich seither zu erzielen suche), gespickt mit für Shirley typischen Obsessionen (die Gegenkultur des Punk, faschistische Bürgerwehr-Angehörige, panoptische Überwachungssysteme, ekstatische Bewusstseinszustände) entspricht Stadt weniger einem Science-Fiction-Roman, der in einer Rock-Halbwelt spielt, als vielmehr einer Rock-Geste, die zufällig in Gestalt eines Taschenbuchs daherkommt.

Shirley ließ das mit Plastikfolie verhüllte Sofa, das für die Science Fiction der Siebziger steht, aufs Schönste in der Versenkung verschwinden. Seine Schreibe zu entdecken war wie zum ersten Mal Patti Smiths Horses zu hören: die archetypische Form mit großer Leidenschaft neu eingenommen von verdorbenen und doch eigentümlich unschuldigen Machern, deren Fähigkeit an sich, dies überhaupt zu tun, unablässig in Frage gestellt wurde durch die Anforderungen dessen, was im Grunde eine schamanische Handlung war. Beiden ist eine unbändige zerlumpte Verwegenheit gemeinsam, ein Gefühl, als suche der Künstler Verbindung zum Jenseits. Sie beschwören ihre jeweiligen Götter herauf (die sich gelegentlich überschneiden, tatsächlich gehörte sie zu den seinen) und stürzen sich aus unterprivilegierten Teenager-Schlafzimmern, in der hoch erhobenen Hand zersplitterte Metaphern, so eigentümlich geformt wie Gefängnisbesteck.

  

Mr. Shirley, der mich so lässig auf das Schreiben von Geschichten stieß wie einen Partygast in den Swimmingpool. Rings um ihn herrschte ein gewisses Chaos, ein Gefühl, als gäbe es zu viele Möglichkeiten – einige davon immer gefährlich: wie jene, als sich eine Freundin (die Alice in Tenniels Zeichnungen lächerlich ähnlich sah) umdrehte und die puertoricanischen Quartals-Säufer übel und gänzlich unverdient beschimpfte, lange nach Mitternacht in Alphabet City, während der Besuch aus Vancouver schreckgelähmt dabeistand und seinen Ohren nicht traute.

»Ignorier sie, Mann«, empfahl J. S. den Puertoricanern, »sie ist bloß überreizt.«

Und ja, das war sie. Dazu neigten sie, die Shirley girls.

Ich schaue mir Shirley heute an, den erwachsenen Mann, der – sich selbst zum Trotz – noch lebt und weiß, dass das keine leichte Sache war. Eine Katze mit noch ein paar zusätzlichen Leben.

Was mich heute verwundert, ist, wie schnell ich etwas wie Stadt geht los als gegeben hinnahm. Es gab nichts, was diesem Roman auch nur im Entferntesten gleichkam, aber ich ging wohl einfach davon aus, dass es eben Johns Buch war, und John kam schließlich auch niemand gleich. Stadt zischte und knisterte, mit einer gottlosen, elektrisch auberginefarben glühenden Aura, irgendwo zwischen Neon und einem Bluterguss, der vielleicht einen Tag alt ist. Stadt war Beweismaterial für gewisse Möglichkeiten, die bis dahin noch niemals benannt worden waren.

  

Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bevor das, was später Cyberpunk genannt wurde, aus Städten wie Austin und Vancouver sickerte. Shirley hatte es zu diesem Zeitpunkt irgendwie in seiner Abfolge von Beziehungen (na ja, eigentlich Ehen -unser Junge war der Typ, der sich kopfüber hineinstürzt) von New York nach Paris verschlagen, von Paris nach Los Angeles (wo er heute lebt) und weiter nach San Francisco (hallo, City). Er machte mir Höhenangst. Ich glaube, mit der Zeit erwarteten wir genau das von ihm als dem magnetisch anziehenden Verrückten unseres Stammes, und wir blinzelten überrascht, als er allmählich sein Leben in sichere Bahnen lenkte. Heute lebt er im Valley und schreibt für Film und Fernsehen, doch es gibt Gerüchte, dass er ein neues Buch in Arbeit hat. Darauf freue ich mich sehr. Unterdessen können wir uns bei dem Verlag bedanken, der die proto-plasmische Mutter aller Cyberpunk-Romane neu herausbringt: Stadt geht los.

  

 

William Gibson,

Vancouver, 31. März 1996

  

 

 

 

  

  Intro

 

In einem Aufnahmestudio rückte eine junge Frau ihren Kopfhörer zurecht und gab dem Mann am Mischpult ein Zeichen. Der Tontechniker auf der anderen Seite der Glasscheibe nickte und drückte auf einen Knopf, der das Playback abspielte. Sie bevorzugte die Kopfhörer.

Das erste Stück, harter improvisierter Rock – ein Stil, der manchmal seltsamerweise als Angstrock bezeichnet wird -, war bereits vor einigen Wochen aufgenommen worden. Die junge Frau war die Sängerin der Band. Es war das erste Mal, dass jemand diese Aufnahmen zu hören bekam; sie hatten das Geld für das Tonstudio selbst auftreiben müssen. Sie hatte noch keinen Plattenvertrag. Vielleicht... würde sie nie einen bekommen.

Ihr Name war Sonja Pflug, doch ihr Künstlername lautete Catz Wailen. Inzwischen wurde sie von allen nur noch Catz genannt, sogar von ihrer Familie. Während Catz den Aufzeichnungen zwei Minuten lang zuhörte, sanken ihre Mundwinkel langsam herab und ihre Stirn legte sich in Falten. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Sie schien es sich auf dem harten Plastikstuhl im Aufnahmestudio nicht bequem machen zu können. Sie wurde zusehends angespannter. Sie konzentrierte sich auf die Aufnahmen und schüttelte den Kopf. Sie klopfte gegen die Scheibe, die den Aufnahmeraum vom Kontrollraum trennte, und der Techniker schaltete das Band ab. Sie legte einen Kippschalter um und sprach über die Gegensprechanlage.

»Da ist irgendeine gesprochene Stimme im Hintergrund. Die stammt nicht von uns. Klingt nicht nach jemand aus der Band. Ich kann auch nichts verstehen. Was zum Teufel ist das? Diese Stimme... Was soll das Schulterzucken, Mann? Was? Komm schon. Ähm -das muss irgendein Sprechfunkkanal sein oder so 'n Scheiß, der durch die Isolierung dringt. Wenn wir das, ähm, aus unseren Aufnahmen rausmischen wollen, weißt du, sollten wir besser rauskriegen, was das ist. Was für eine Frequenz. Warum schüttelst du den Kopf? Hör zu, die verdammte Luft wird von Übertragungen nur so durchdrungen, Radio und Fernsehen und Mikrowelle, alles zischt unablässig durch uns hindurch, unmerklich... So eine Art Äther, so haben es die Wissenschaftler früher genannt, ein Medium für den angesagten geistlosen Kommerz. Stimmt's? Ich nehme an, wir haben uns irgend so eine bescheuerte Nachrichtensendung eingefangen oder eine Bierreklame. Verdammt, ich kann es hören. Es ist da, jawohl. Also, filter' das mal – misch' es neu ab, damit ich es deutlicher hören kann und rauskriege, was es ist, ein Radiosender oder so, vielleicht sagen sie ihre Telefonnummer durch... Das versaut uns wirklich die ganzen Aufnahmen – oh, schon klar? Du hast es rausgefiltert? Gut... ich...«

Sie setzte den Kopfhörer wieder auf und gab dem Tontechniker das Startzeichen.

Und die Stimme auf dem Band, die sich jetzt klar und deutlich von der Musik abhob, sagte: »Hey, Catz.« Dann lachte sie. Ein ziemlich verrücktes Lachen. »Ich hoffe, du kannst mich gut verstehen. Die anderen hier haben mit äußerst gemischtem Erfolg versucht, ihre Stimmen bis in deine Welt dringen zu lassen. Tote haben keinen Kehlkopf. Zumindest nicht aus eurer Perspektive, denn aus eurer...«

Die Stimme unterbrach sich und lachte. Es klang eindeutig hysterisch.

Sie kannte diese Stimme.

»...tut mir Leid. Immer wenn ich an Perspektive denke, muss ich lachen, wegen allem, was passiert ist. Wie ich die Dinge jetzt sehe. Und wie ich sie früher sah. Vor dem Großen Sog. Bevor ich das große Bewusstsein gesehen habe. Das große Bewusstsein ist das Bewusstsein aller. Aber ich sollte dir besser eins nach dem anderen erzählen. Ich bin herumspaziert – spaziert? – yeah, denn ich habe einen Körper, im Dort, wo ich mich jetzt befinde. Aus deiner Perspektive betrachtet natürlich nicht. Halt, eins nach dem anderen. Ich muss mich erst in die richtige Bewusstseinsstufe versetzen, um dir diese Geschichte zu erzählen, denn... ich muss sie dir ja aus der – äh – Perspektive deiner Welt erzählen. Ich laufe seit Tagen herum und denke darüber nach, verknüpfe alles in Gedanken miteinander, kehre zurück, um mich zu beobachten – zurück in die Vergangenheit, will ich damit sagen, wozu um den heißen Brei herumreden – um mich zu beobachten, wie ich alles durchlebe. Um endlich zu begreifen. Ich habe genügend Zeit, alles zu verstehen, denn ich werde deiner Welt noch weitere vierzig subjektive Jahre erhalten bleiben. Ich befinde mich fast in deiner Welt, nur eben nicht ganz. Nur eine Phasenverschiebung entfernt. Ich harre hier aus wegen City, und wegen der anderen. Ich bin ihnen behilflich. Sie sind alle miteinander verbunden, unmittelbar oder mittelbar. Der herrschende Geist jeder Stadt mündet in einen gemeinsamen Strang... New York, San Francisco, Los Angeles – auch wenn die Verbindung zu L.A. eher diffus ist, bruchstückhaft und gefährlich. All diese Städte sind auf einer psychischen Ebene miteinander verknüpft. Ein gewaltiger Bewusstseinsspeicher, so hässlich und doch so schön. Du bist wirklich schön, Catz. Das habe ich dir glaube ich noch nie gesagt. Du bist schön. Ich wollte dir das immer schon sagen. Ich hatte befürchtet, du würdest mich auslachen und behaupten, ich wäre übermäßig sentimental oder blind. Du hättest mich verspottet. Doch jetzt ist alles anders. Ich kann dir sagen, dass ich dich liebe.

Und ich kann dir erklären, warum ich das alles getan habe. Warum ich dich nach Chicago habe gehen lassen – ich wusste, du würdest Verbindung mit jenem Bewusstsein aufnehmen, das Chicago ist. Irgendwie wusste ich schon die ganze Zeit, was alles passieren würde. Catz, ich erfülle jetzt eine Funktion.

Jesus Maria, Catz, du bist so schön. Ich kann in dein Innerstes hineinsehen, in dein Energiefeld, bis in den Brennpunkt deines Feldes, wo sich dein – wie haben sie es genannt? – der Ort deines Bewusstseins befindet. Ich sehe es in dir leuchten wie ein Lichtbogen in einer Vakuumröhre.

Hoffentlich erkennst du meine Stimme. Ich wende eine Art Psychokinese an, um die entsprechenden Schallwellen zu erzeugen. Hoffentlich erkennst du meine Stimme überhaupt. Das alles ließe sich vielleicht als inter-dimensionales Bauchreden beschreiben. Hörst du mich? Ich bin's, Stu! Wer auch sonst, nicht wahr?«

Catz nahm den Kopfhörer ab. Sie gab dem Tontechniker ein Zeichen. Er hielt die Bandmaschine an. Sie blieb sitzen und starrte mit bleichem Gesicht das Mischpult an. Dann stand sie auf, ging zu ihrer Tasche und holte ein Medikamentenfläschchen heraus. Sie nahm ein Beruhigungsmittel und atmete tief durch.

Er ist es wirklich, dachte sie.

Sie kehrte an ihren Platz zurück, nahm den Kopfhörer in die Hand und setzte ihn wieder auf. Sie zögerte, blieb eine Weile reglos sitzen und nahm schließlich ihren ganzen Mut zusammen. Sie gab dem Techniker ein Zeichen und hörte weiter zu.

»Catz, ich möchte, dass du mich verstehst. Warum ich dich nicht begleiten konnte. Weshalb ich zugelassen habe, dass City das alles getan hat. Seltsamerweise hat die Zeit keine Bedeutung mehr für mich. Wenn du das Labyrinth erst einmal durchschaut hast, kannst du dich in jede Richtung fortbewegen. Wir können aus uns heraus treten und zuschauen, wie wir geboren werden. Ich habe – unsichtbar – neben dem Krankenhausbett meiner Mutter gestanden und meiner Geburt zugesehen! Ich habe mich aufwachsen sehen. Ich bin zurückgereist und habe mir alles noch einmal angeschaut. Um Zeugnis abzulegen, als objektiver Beobachter. Ich werde dir die ganze Geschichte erzählen, obwohl du das meiste selbst miterlebt hast. Ich hoffe, es passt alles auf dein Band. Ich will mit jener Nacht im Club anfangen, am zweiten Abend deiner San Francisco-Tour. Da warst du gerade aus Chicago zurück. Dieser Abend, an dem ich dich gebeten habe, den Kerl abzuchecken, den ich als Rausschmeißer einstellen wollte.

Ich betrete jetzt die entsprechende Bewusstseinsebene. Ich kann es fühlen. In der dritten Person. Ich bin die dritte Person, soviel ist sicher.«

Er lachte. Catz verzog das Gesicht. Nur ein kleines bisschen verrückt.

»Das war so um den 10. Mai des Jahres 2008. Im guten alten San Francisco  dem San Francisco von damals, vor den Veränderungen, dem Großen Sog, und – na, egal. Ist schon komisch – nach meinem Zeitgefühl stand ich erst vor kurzem mitten im Zentrum einer Explosion, ein Teil des Sogs. Um mich herum flog ein Haus in die Luft. Ich bin nicht verletzt worden. Es hat mir Spaß gemacht. Ich schlenderte davon und fühlte mich, als hätte ich bei hohem Wellengang im Meer gebadet.

So, jetzt eins nach dem anderen.

Ich gehe zurück.

In die Ellis Street.

Der Anesthesia-Club.

Mein Club, und es ist mir egal, was für Gerüchte im Umlauf waren. Die Bewertung im Chronicle lautete:... ein Stern, wenn Sie auf eine angenehme und menschliche Atmosphäre Wert legen; vier Sterne, wenn Sie auf pausenlosen Lärm, Schlägereien, Exzentriker, Huren und bewaffnete Überfälle scharf sind.

Scheiß auf den Chronicle.

Das war mein Club und ich mochte ihn...«

Catz hörte zu und hatte das Gefühl, innerlich zu zerfließen. Auf ihrer Stirn perlte Schweiß. Im Hintergrund, jenseits der körperlosen Stimme, heulte und dröhnte und tobte der Angstrock ihrer Band, nackter, purer Metal, schnelle und wütende Musik wie das Echo einer U-Bahn, die in einen Bahnhof donnert.

Die Stimme auf dem Band erzählte eine Geschichte.

 

 

 

  Eins!

  

Samstagabend, zehn Uhr, und der Club war randvoll.

Nicht einfach nur voll, er platzte fast. Die Leute quollen geradezu aus den Fenstern. Stuart Cole war das nur recht. Der Club war auf die zusätzlichen Einnahmen angewiesen, die die überfüllten Samstagabende brachten. Allerdings bedeutete das auch, dass er in dieser einen Nacht drei -zählt ruhig nach! – drei Rausschmeißer anheuern und, was schlimmer war, bezahlen musste. Und Cole hatte nur einen Rausschmeißer auftreiben können, der völlig überlastet war. Der arme Kerl hatte schon wunde Fingerknöchel. Cole war auf der Suche nach zwei weiteren und hatte sich schon bei zwei black belts – einem Ex-Green-Beret und einer riesigen Lederlesbe – einen Korb geholt. Sie schienen alle keinen Wert auf zerschlagene Gesichter zu legen. Das Anesthesia hatte einen gewissen Ruf.

Cole mixte sich einen Rusty Nail und machte sich Gedanken über Rausschmeißer, als ihm der Mann mit der Sonnenbrille auffiel. Der Mann fiel ihm auf, wie der Blick von einer Boje in den Wellen angezogen wird, weil sich die Boje nicht von der Stelle bewegt: ein verankerter Gegenstand im fließenden Treiben. Menschenmassen verhalten sich wie Wasser, sie sind voller Strömungen und Strudel. Menschen sind weich, sie bestehen fast ausschließlich aus Wasser und ihre Bewegungen sind eher fließend als ruckartig. Dieser Mann dagegen bewegte sich wie ein Eisbrecher – hart und unerbittlich, doch mit einer ganz eigenen beharrlichen Anmut. Er war nicht wuchtig oder steif, aber er strahlte eine gewisse Unbeugsamkeit aus. Beständigkeit.

Der ideale Rausschmeißer.

Cole musterte den Mann eingehend und kam zu dem Schluss, dass er knapp bei Kasse war: der lange schwarze Trenchcoat des Fremden war an zwei Stellen eingerissen, der Gürtel fehlte und der braune breitkrempige Hut, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte, war zerbeult. Die Spiegelbrille sah neu aus und ihre Gläser versprühten die wirbelnden Lichtreflexe der altmodischen Facettenkugel über der Tanzfläche.

Vielleicht ein Polizist in Zivil, dachte Cole.

Oder schlimmer, ein Vigilant, ein Auftragskiller einer rechtsradikalen Bürgerwehr. Die Vigs drohten immer wieder damit, die Prostituierten mit weiteren Blitzüberfällen auszuräuchern, und hier im Club gab es jede Menge Huren.

Er hatte ein kantiges Gesicht, blass und makellos, dabei grob wie ein Eckstein aus Marmor, der sich zur Gestalt eines Mannes abgenutzt hatte. Sein gespaltenes Kinn ragte weiter vor als seine Knollennase. Sein Haar war kurz, lockig, mit blauschwarz metallischem Schimmer. Er war knapp einsachtzig und mittelgewichtig. Aber er hielt sich kerzengerade, ragte auf wie ein Wolkenkratzer, und das wirkte auf selbstgefällige Art bedrohlich.

Cole beobachtete ihn und dachte: Pass auf, wem du einen Job gibst... In San Francisco ließ man sich nicht mit jedem beliebigen Irren ein – es musste schon die richtige Sorte Irrer sein.

Daher behielt Cole den Mann im Auge, ohne es sich anmerken zu lassen. Er überließ Bill Wallach das Getränkemixen und gab vor, die Anlage auf der Bühne überprüfen zu wollen. Von der Bühne aus hatte er bessere Sicht.

Also stellte er Mikroständer fest und verzurrte Kabel, an denen es nichts zu verzurren gab, und beobachtete. Der Mann mit der Spiegelbrille war im Schatten neben dem Zigarettenautomaten stehen geblieben, am Rand der Menge, ein regloser Zuschauer. Cole hätte zu gern seine Augen gesehen. Doch sein Blick blieb ständig an den Lippen des Mannes hängen. Seine Lippen waren farblos, zusammengepresst, eingezogen und – sie bewegten sich nicht. Nicht das kleinste Zucken. Catz kam auf die Bühne und wollte wissen, ob mit der Anlage alles in Ordnung war und warum Cole an einem Gitarrengurt herumspielte...?

»Ich, äh, stell ihn nur ein, Catz. Hey – könntest du mal den Kerl da neben dem Zigarettenautomaten unter die Lupe nehmen? Den mit der Spiegelbrille. Der ist entweder gefährlich oder der ideale Rausschmeißer. So oder so wüsste ich es gern. Ich möchte ihm keinen Job anbieten, bevor ich nicht weiß, ob er Ärger macht, ich kann keinen Spion der Vigs gebrauchen...«

Catz zuckte die Achseln und nickte. Ihr kurzes silbrig geflecktes Haar wippte wie ein Plastikvorhang um ihr wölfisches Gesicht. Ihre goldenen Augen wurden schmal – wie immer, wenn sie eine Frage stellen wollte. Cole schüttelte den Kopf und kehrte an die Bar zurück, um auf Catz' Bericht zu warten.

Die Mitglieder von Catz' Band folgten ihr auf die Bühne, und als sie ihre Instrumente gestimmt und eingestöpselt hatten, legte Cole den Schalter um, der die Dosenmusik abschaltete, und brüllte ins Barmikrophon:

»Leerdies & Genitalmen – CATZ WAILEN!«

Die Hälfte der Leute auf der Tanzfläche stöhnte und die andere Hälfte jubelte. Alles raunte erwartungsvoll. Selbst diejenigen, die Catz nicht mochten, hatten Geschichten über sie gehört.

Während sie ihre Gitarre stimmte, beugte sich Catz vor und flüsterte einer Kellnerin etwas zu, die nickte und sich durch die grabschende Menge zu Cole durchschlängelte.

»Catz lässt dir ausrichten, ihr Bericht steckt im Songtext. Was zum Teufel redet sie da?«

»Erklär ich später«, antwortete Cole, obwohl er das keineswegs vorhatte. Sie belud ihr Tablett mit Gläsern und ging die Schweine tränken. Cole wartete. Der Bericht steckt im Songtext? Ein Schauer überlief ihn. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die bei Catz' Songs die Texte verstanden. Weil er sie seit Jahren kannte? Vielleicht. Aber es gab auch eine gewisse Nähe zwischen ihnen. Kaum jemand wusste, dass Catz ihre Texte improvisierte. Sie spontan erdichtete. Sie änderten sich von Abend zu Abend. Manchmal reimten sie sich sogar.

Die Band war eingestimmt, gestimmt, eingestöpselt und wartete – eine fünfköpfige Angstrock-Band mit Catz im Brennpunkt. Sie blinzelte, als die Bühnenbeleuchtung aufflammte, dann klopfte sie gegen das Mikrophon, um zu sehen, ob es funktionierte und bellte ins Publikum: »MAUL HALTEN!«

Cole hatte noch keine andere Figur auf der Bühne gesehen, die damit durchkam.

Das Publikum war heute besonders lärmig, Gläser splitterten und Plastikflaschen flogen herum, alles lachte und kreischte. Im Lauf des Abends nahm das hemmungslos zu: Um Mitternacht würde sich die Menge völlig gehen lassen, die Wände würden unter ihrem Ansturm erbeben. Nur – Catz, eine dürre, schlaksige kleine Frau, hatte gerade Maul halten gesagt.

Und sie hielten das Maul.

Es war ein Wunder: Es war still. Hier hustete, dort kicherte jemand, Feuerzeuge klickten. Der verqualmte Raum leuchtete hier und dort auf, als einige Zuschauer in Erwartung des Auftritts einen Joint anzündeten. Die Menschen auf der Tanzfläche standen still, ließen ihre Muskeln spielen und warteten auf den Rhythmus der Musik.

Die Stille schien unnatürlich und alle warteten darauf, dass sie endete. Die Erwartung wurde mehr als erfüllt, als die Band mit der Eröffnungsnummer loslegte. Es gab eine Explosion aus Rauschen und Feedbacks und die Leadgitarre fegte durch ein wildes Solo wie das Quietschen einer ungeölten Winde, die unter einer Tonne losen Altmetalls stöhnt.

Das Donnern des Basses zwang den Malstrom des Heavy Metal zu einer zusammenhängenden vorwärts preschenden Einheit, wie Schrauben einen rasenden Panzer zusammenhalten. Catz schob ihre Rhythmusgitarre beiseite und fing zu singen an. Cole entschlüsselte stirnrunzelnd ihr Kreischen.

 

»All you cheap suckers and all you cheap slutters

are obsolete you are obsolete

all you whining women and all you drooling men

all you hustlers with fraud your only friend

you are obsolete, you're obsolete

no more room for you on the street

you jierks are obsolete

'Cuz the street is tired of taking it, the street is tired o' you

it's sick of getting pissed on and sick o' Cadillacs

night becomes white & day becomes black

when the city come a-walkin'

city comes walkin' to claim its own...«

 

  Die Leadgitarre spielte ein langes Solo, definierte das Wort Jugend in der Sprache der Elektrizität. Catz tanzte Hunderte von Permutationen der letzten Zuckungen einer Motte durch, die in der Flamme einer Kerze verbrannte. Catz trat den Bassisten in den Arsch und lachte, schlug Räder mit ihren Armen und sprang einen Meter in die Luft, warf sich herum, versetzte der Leadgitarre noch in der Luft einen Tritt, schlug sich auf die Knie, klatschte in die Hände, landete mitten auf der Bühne, schlängelte ihren Hals, wackelte mit Arsch und Schultern in doppelter Provokation, ohne je aus dem Takt zu geraten.

  Schlagzeug und Bass Wurden leiser, ein dramatisches Vorspiel, und ihre übergroßen Augen wurden noch größer, ihr koboldgleich geschnittenes platinfarbenes Haar klebte schweißnass an ihrem Kopf. Ihr Gesicht verlor jede Ungewissheit, und sie nickte dem Mann mit der Spiegelbrille zu; sie sang:

 

  »City come a-walkin' to claim its own 

  Hindus and their avatars

  Catz and her guitars

  Zeus swanning Leda

  sometimes the world takes the shape of gods

  sometimes the gods take the form of men

  sometimes the gods walk the earth like mortal men

  And tonight the city come a-walkin'

  and we're all obsolete...« 

 

   Catz kreischte das knapp an der Tonart vorbei und gerade noch im Rhythmus und die Menge hatte keinen Schimmer, was sie sang. Aber sie waren hingerissen. Denn sie gab ihnen das Gefühl, dass sie wirklich ernst meinte, was auch immer sie da sang.

Das Stück eskalierte, so wie ein Krieg, die Facettenkugel drehte sich und warf Lichtgarben in den Raum, Plastikflaschen flogen umher, Rauch wirbelte empor und Catz blickte Cole direkt in die Augen

(Cole wünschte, er wäre keine zweiundvierzig mit einem Hang zur Dickleibigkeit)

und sprach ins Mikrophon: »Dieser Teil des Songs – hey, ihr Wichser, HÖRT ihr mir ZU? ...« Die Menge brüllte mit fröhlicher Wut zurück. »Na also! Ihr Wichsratten, dieser Abschnitt des Songs erzählt eine Geschichte in zehn Teilen, wie zehn Kapitel in einem Buch. Ich werde jedem Kapitel einen Namen geben und ihr müsst selber rausfinden, was passiert, indem ihr euch die unsichtbare Architektur der Musik vorstellt (wenn ihr Dummköpfe mir soweit folgen könnt), also  PASST VERDAMMT NOCH MAL AUF!«

Sie holte tief Luft, die Band hielt inne, der Lärm der Menge flaute ab, und sie schrie:

»EINSSS!« Die Leadgitarre erwürgt ein sich windendes Schlangenriff, und Cole hat den Eindruck, sich und den Mann mit der Spiegelbrille zusammen auf der Straße zu sehen.

»...ZWO!« Der Bass stimmt dröhnend mit ein und erzeugt Bilder des Mannes mit der Spiegelbrille auf einem Fernsehschirm.

»Drr-EIII!« Das Schlagzeug entwirft ein Bild von Vigilanten, die bei einem Rockkonzert wild in die Zuschauermassen feuern.

»VJE-jah!« Der Synthesizer schüttelt die Hirnrinde durch mit Unterschall- und Überschall-Klangbildern, Bilder von Catz und Cole, die auf einem Holzboden verbluten, umgeben von lachenden Männern.

»FÜÜÜ-hünf!« Die Rhythmusgitarre schafft eine Vision von Cole und Catz, wie sie miteinander schlafen.

»Uuh-SEX!« Die Rhythmusgruppe arbeitet Hand in Hand mit den Leadinstrumenten, bildet einen Kontrast wie schwarz und weiß und zeigt Cole, der auf einem Bett liegt, daneben Catz, die einen Koffer packt.

»SIE-bähn!« Das Schlagzeug beschwört ein Bild von Cole herauf, der einen Schritt zurücktritt, als ihm ein guter Freund die Tür vor der Nase zuschlägt.

»A-A-acht!« Die Keyboards zeigen Cole einen Schnappschuss, er in einer Gefängniszelle.

»NEU-n!« Cole sieht sich selbst, wie er nackt vor einem Spiegel steht und sich die Augen reibt.

»ZEHNNN!« Alle Instrumente verschmelzen zu einem einzigen Akkord, beschwören eine Vision von Cole herauf, der sich im Zentrum einer Explosion befindet...

Plötzlich brach der Song ab.

Cole rannte auf die Toilette, er konnte nicht anders.

Nachdem er sich übergeben hatte, fühlte er sich etwas besser. Er mixte sich einen Drink, um das anhaltende Gefühl der Desorientiertheit zu vertreiben. Warum hat sie mir all das gezeigt?  

Cole begab sich hinter die Bar und ging an die Arbeit, zur Beruhigung, wie eine Art Yoga. Catz und die Band stimmten einen neuen Song an.

Der Mann mit der Spiegelbrille betrachtete nachdenklich die Bühne – er war der einzige Mensch im ganzen Raum, der sich nicht im Rhythmus bewegte. Selbst die Barkeeper klopften mit den Fingern auf die Theke. Der fremde Mann starrte einfach nur hin. Und rührte sich nicht.

Cole nahm Bestellungen entgegen und fütterte die tausend Mäuler des Monsters, das kaum von der hölzernen Theke in Schach gehalten wurde – goss ihm Drinks in den Rachen und die Mäuler schrien nach mehr... Entlang der Bar standen in regelmäßigen Abständen Intercash-Automaten und nahmen von den Gästen Karten entgegen, zeigten an, ob das Guthaben den Verzehr deckte, transferierte blitzartig entsprechende Beträge vom Konto des Inhabers auf das Konto des Empfängers, bestätigte den Vorgang auf seinem digitalen Zahlendisplay...

Mindestens einmal pro Abend knallte jemand anstatt der Intercash-Karte Bargeld auf den Tresen. Heute war es ein alter Mann mit einer schmutzig weißen Haarmähne und nässenden blauen Augen.

»Wo hast du dein Geld, Opa?«, sagte Cole. »Richtiges Geld, verstehst du? IC-Karte.«

»Gottverdammt noch mal, das hier ist richtiges Geld, die beschissenen Karten sind die Fälschung ...«

»Ja, ja, ich weiß, was du meinst, aber für Bargeld bekommst du hier nichts, Slutter, und sonst auch nirgends. Nicht mal Erdnüsse. Kaffee oder Schnaps, egal was – du brauchst für alles eine IC-Karte... ich weiß wirklich nicht, wie ihr mit diesem Zeug klarkommt. In der ganzen City gibt es noch höchstens drei Läden, die Bargeld akzeptieren. Blitzüberweisung ...«

»SCHEISSDRAUF!«, knurrte der alte Mann, leckte sich die trockenen Lippen und kramte seine Scheine zusammen. »Die Musik hier drin ist eh für 'n Arsch!«

Dann ging er hinaus. »Tut mir leid, Opa«, rief ihm Cole traurig hinterher. Manche Leute können sich einfach nicht anpassen.

Der Rest des Auftritts schien an ihm vorbei zu rasen, so beschäftigt war er. Catz kündigte eine Pause an und stapfte von der Bühne. Cole schaltete wieder auf Dosenmusik um und mixte Catz einen Drink. Sie kippte ihren trockenen doppelten Martini auf Ex und Cole stellte ihr zwei weitere hin. Catz war überdreht und zitterte – wie immer nach einem Auftritt aufgeheizt bis zum Siedepunkt.

»Hast du's gehört?«, fragte sie.

Cole beugte sich über die Bar, pflanzte seine Ellbogen auf das Holz und fragte: »Wie zum Teufel soll ich das verstehen?«

»Warst du am College nicht auf Lyrik spezialisiert, Stu?«, fragte sie halb spöttisch zurück.

»Und? Ich bitte dich um einen Bericht über einen Kerl, ob ich ihm trauen und ihn als Rausschmeißer anstellen kann, und du erzählst mir irgendwelchen Scheiß, von wegen heute Nacht geht die Stadt los oder so was.«

»Hast du die PSI-Bilder empfangen, die ich dir geschickt habe?«

  »Ja, aber – so richtig verstanden hab ich sie nicht.«

  »Na ja – ich auch nicht. Du willst wissen, ob du dem Kerl über den Weg trauen kannst?« Sie lachte. »Du sprichst von einem Kerl. Ob du ihm trauen kannst. Himmel noch mal! Ja, klar, du könntest diesem Kerl deine Kinder anvertrauen, wenn du welche hättest, oder dein Geld, oder einen Job als Rausschmeißer. Wenn er sich drauf einlassen würde, könntest du auf ihn bauen. Aber er würde sich nie darauf einlassen. Er hat für so was keine Zeit – er muss was erledigen und ihm bleibt nur eine Nacht... Und überhaupt, er ist keine Person. Verstehst du das nicht? Das ist die City. Höchstpersönlich. Die schlafenden Bestandteile, die erwacht sind und sich einen Echtkörper träumen, Slutter. Kapiert? Das ist die Fleisch gewordene Gestalt von all dem hier, dieser ganzen verdammten City, in einen Mann gebannt. Manchmal kommt die Welt in Göttergestalt und manchmal kommen Götter in Menschengestalt. Manchmal. Jetzt. Das ist eine ganze Stadt, dieser Mann, und ich meine das nicht metaphorisch.«

Das sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. Bei jedem anderen hätte Cole nur die Augen verdreht. Niemand kann einen Fremden ansehen und ihn begreifen, als würde er ihn ein Leben lang kennen.

Niemand außer Catz.

Catz hatte eine besondere Fähigkeit. Ein Mann von der Duke-Universität hatte ihr mal einen Haufen Geld angeboten, damit sie mit in den Osten kam und sich einem Esper-Test unterzog. Doch Catz hatte abgelehnt. Catz hat ihre Visionen, wenn sie es sagt, wenn ihre Intuition meldet, dass etwas kommt. Cole wusste, dass er sich auf Catz' Urteil verlassen konnte – es war das Urteil ihrer besonderen Fähigkeit. Also wusste Cole nun, wer der Fremde war. Und hatte Angst.

Catz ging wieder auf die Bühne. Mit einem Mal schien es im Anesthesia-Club sehr stickig zu sein. Der Qualm von Dope und Zigarettensmog und der vielfältige menschliche Gestank drückten Cole die Kehle zu – fast musste er würgen. Er ließ sich von Bill ablösen und ging nach draußen.

Auf dem Bürgersteig blieb er stehen und atmete die frische Frühlingsluft ein.

Cole konnte nicht still stehen. Er lief vor dem Club auf und ab, um überschüssige Energie abzubauen.

Er war nicht nur der frischen Luft wegen hier raus gekommen.

Er wollte sich von etwas überzeugen.

Er betrachtete die City.

Es herrschte starker Verkehr, größtenteils Freier auf der Jagd nach billigen Mösen und Jugendliche, die in der Gegend herumfuhren. Die Autos hupten und knurrten, Scheinwerfer duellierten sich, Kids brüllten unzusammenhängende Wörter aus den Wagenfenstern. Jemand warf beiläufig eine Flasche nach Cole. Sie prallte neben ihm gegen die Wand. »Arschlöcher«, murmelte er geistesabwesend.

Die Betonadern waren mit Leuchtpunkten bedeckt – fahlblaue Lichtflecke von Fernsehschirmen in finsteren Wohnzimmern, helle weiße Lichtflecke von Badezimmern, bunte Lichter von Partys. Pornoschuppen glommen in lüsternem Neonpink, und ein schwacher Wind spielte müßig mit Konfetti im Rinnstein.

»Bruder, kannst du mir vielleicht was abgeben ...«

Cole warf dem Penner einen kurzen Blick zu, ging die zwei Schritte zum IC-Automaten an der Ecke und tippte eine Freigabe für zwei Dollar ein. Die schmutzige Karte des Penners – jede Karte, die als nächstes in den Schlitz gesteckt wurde – war nun für einen halben Liter Wein gut.

Der Penner lud sich den Betrag herunter und stolperte davon. Cole schob die Hände in die Hosentaschen und machte ein missmutiges Gesicht. Seine Schürze flatterte im Wind. Es roch nach Abgasen und schalem Wein und noch schalerer Pizza aus dem Laden an der Ecke, der eine Viertelpizza für einen Vierteldollar verkaufte.

Der Gehweg wimmelte von Huren, dazwischen ein paar Designer-Punks, Geldverleiher und eine Frau, die ihren Pudel spazieren führte, eine Hand in der Tasche, wo wahrscheinlich eine Waffe steckte.

Aus dem Club dröhnte immer noch Dosenmusik. Catz hatte noch nicht mit ihrem zweiten Set angefangen. Er lächelte, als er sich an ihre Debatten über Mainstreampop erinnerte. Sie bestand darauf, dass das Zeug inzwischen ausschließlich per Computer gemacht wurde, basierend auf Umfragen, psychologischen Trendprofilen, immer der neueste Stand nach gerade gültigem gesellschaftlichen status quo. So war Mainstream-Pop zu einem Mittel der Repression geworden, einem Betäubungsmittel, das dazu beitrug, dass ja alles blieb, wie es war: der Rock'n'Roll der herrschenden Verhältnisse. Cole lachte darüber und hielt dagegen, dass jede populäre Musik den bestehenden status quoweil