[2|3] Statt eines Vorworts – eine Einordnung.
Stanley Kwan und das Hongkong-Kino

Wenn wir vom Hongkong-Kino sprechen, dann haben wir bestimmte Bilder im Kopf: auf der einen Seite Jacky Chan, Bruce Lee und John Woo, einsame Detektive im Kampf gegen das Böse, viel Filmblut und die Skyline der rasantesten Stadt des Universums im Hintergrund. Dem gegenüber stehen die ruhigen Zeitlupenfahrten eines Wong Kar-wai, der, um es mit Gilles Deleuze zu sagen, seine Filme nicht mehr als Bewegungs-Bild, sondern als Zeit-Bild inszeniert: Ebenso träge wie präzise erfährt und erschwenkt und ertastet die Kamera Hotelzimmer, Leuchtreklamen, Jukeboxen und Kioske. Er dehnt Raum und Zeit, Aktion interessiert ihn nicht sonderlich, eher das Atmosphärische. Wong Kar-wai gehört zu einer Gruppe von Regisseuren, die zur New Wave oder auch Second Wave des Hongkong-Kinos zu zählen sind. Ihr gehören auch Stanley Kwan, Fruit Chan, Ann Hui, Patrick Tam und Tsui Hark an, deren Filme auf internationalen Festivals laufen und liefen. Im Westen sind ihre Filme in der Literatur kaum rezipiert worden – und das will der vorliegende Band ändern. Neben Wong Kar-wai ist Stanley Kwan einer der wichtigsten Vertreter der New Wave, jener Nouvelle Vague des Hongkong-Kinos, die ihren künstlerischen und politischen Anspruch aus den Wirren der 1980er und 1990er Jahre zieht, als klar wurde, dass die Kronkolonie im Jahr 1997 von Großbritannien an die Volksrepublik China zurückgehen würde. Beschäftigen wir uns deshalb kurz mit der historischen Dimension.

China hatte den Status der Kolonie nie akzeptiert, sprach von Hongkong immer als unter »britischer Verwaltung« stehend. Margaret Thatcher handelte noch allerlei für die 294 Inseln Hongkongs heraus: unter anderem einen neuen Flughafen, hauptsächlich aber und entscheidend einen 50 Jahre andauernden Sonderstatus mit dem Titel »Ein Land – zwei Systeme«. Darin festgeschrieben waren und sind bestimmte Rechte wie Presse- und Meinungsfreiheit, eine unabhängige Justiz sowie die Aussicht, in freien Wahlen selbst einen Gouverneur für den Stadtstaat wählen zu dürfen. Die Sonderverwaltungszone Hongkong ist also noch bis in das Jahr 2046 selbstbestimmt, doch wie weit diese Selbstbestimmung geht, entscheidet das Politbüro der Kommunistischen Partei in Peking. Wie die Hongkonger in den letzten Jahren erlebt haben (zum Beispiel durch die Verhaftung von Buchhändlern und Verlegern), wird die Volksrepublik alles tun, um Selbstbestimmung und freie Wahlen effektiv zu [3|4]unterbinden. Die mehrmonatige Umbrella Revolution von 2014 ist Teil des Ringens um die Autonomie, die die Hongkonger zunehmend einfordern. Mehr noch: Sie war der erste große und teilweise von ihrer eigenen Courage überraschte Ausdruck von Selbstbestimmung, mithin: Identität. Dieses Thema ist die Kulisse, vor der das künstlerische Schaffen einzuordnen ist. Denn nach der Unterzeichnung des sino-britischen Abkommens, das 1984 die Übergabe an China regelte, blieb zunächst unklar, wie die Zukunft aussehen würde. Kunst und Kino oblag es, innerhalb postmoderner Erzählungen Sinn zu stiften und Bilder für die Zukunft Hongkongs zu finden, im Wortsinne Visionen zu entwickeln, die für mehr standen als für Kung-Fu- und Action-Streifen. Es schlug die Stunde einer neuen Generation von Filmemachern, die im Fernsehen (Stanley Kwan) oder in der Werbung (Wong Kar-wai) oder im Mainstreamfilm (Fruit Chan) ihr Handwerkszeug erlernt hatten. Während Wong Kar-wai in fast allen seinen Filmen auf die 1960er Jahre zurückgreift, ist der historische Bezugsrahmen Stanley Kwans wesentlich größer und höher und breiter. Das europäische und japanische Kino lernt er kennen, als er Kommunikationswissenschaften studiert. Er schaut wie ein Besessener die Kung-Fu- und Actionfilme der 1970er Jahre. Aber er beschäftigt sich genauso intensiv mit den Stummfilmstars des frühen chinesischen Kinos. Er versteht, dass das Hongkong-Kino vom »Festland-Kino« (insbesondere dem frühen Kino Shanghais) nicht zu trennen ist: dass es bei allen Unterschieden eine gemeinsame Geschichte gibt. In seinem Werk lotet er diese Differenzen aus, zieht bis tief in die chinesische Filmgeschichte Verbindungslinien (wie in RUAN LINGYU/CENTER STAGE, 1992, und CHANGHEN GE/EVERLASTING REGRET, 2005), er bedient sich großer literarischer Vorlagen (wie in HONG MEI GUI BAI MEI GUI/RED ROSE WHITE ROSE, 1994), aber auch aktueller chinesischer Undergroundliteratur (wie in LAN YU, 2001). Ihn interessiert die Biografie genauso wie das Drama, besonders die klassischen Beziehungsthemen haben es ihm angetan (hier ähnelt er Ann Hui und Patrick Tam).

Auch formal erweitert Stanely Kwan herkömmliche Gattungsgrenzen, sei es, dass er über weite Strecken dokumentarische Film-im-Film-Szenen in CENTER STAGE einbaut, sei es, dass er einen Dokumentarfilm wie YANG UND YINDAS SPIEL DER GESCHLECHTER IM CHINESISCHEN KINO (1996) dazu nutzt, sich als schwul zu outen, oder dass er Elemente des Geisterfilms mit einem Melodram wie YANZHI KOU (ROUGE, 1988) vermengt. Wir haben es also mit einem Regisseur zu tun, der sehr unterschiedliche Filme realisiert hat, die allerdings – und das ist wirklich erstaunlich – als Werk immer eine klare Handschrift tragen. Wiederkehrende [4|5]Elemente wie melancholischer Kanton-Pop, der Umgang mit Licht und Schatten, eine Innenraumgestaltung und damit einhergehende Kadrage, die höchst präzise und sehr kinematografisch schon im Dekor auf das melodramatische Konzept verweist (welches besagt, dass sich das Innenleben der Figuren im Außen spiegeln müsse), und nicht zuletzt eine Montagetechnik, die Aufmerksamkeit erfordert. Stanley Kwan springt in der Zeit, ohne diese Sprünge explizit zu kennzeichnen: Manchmal ist ein kleines Detail ausschlaggebend, manchmal erschließt sich ein Sprung (flash forward oder Rückblende) erst im Nachhinein und schafft dadurch neben dramaturgischen Überraschungsmomenten auch einen erzählerischen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Und wie Wong Kar-wai nutzt auch Stanley Kwan filmische Mittel, um Raum und Zeit zu dehnen, in Zeitlupen und langen Kamerafahrten verweigert er sich der Hektik des klassischen Hongkong-Action-Kinos. Er setzt auf gesprochene Off-Texte seiner Protagonisten, der Einsatz der Musik ist nie als Klangteppich zu verstehen, sondern erfüllt immer einen klaren dramaturgischen Zweck. In gewisser Weise ist Stanley Kwan der Almodóvar des Hongkong-Kinos: ein Melodramen-Regisseur, der über das Leiden und die Leidenschaft von Frauenschicksalen einen Zugang zur Welt findet (beziehungsweise diesen weiblichen Blick nutzt, um etwas über die Mechanik von Macht- und Abhängigkeitsstrukturen zu erzählen); und gleichzeitig ist er, ebenfalls wie Almodóvar, ein schwuler Regisseur. Betörende Aufnahmen von jungen, halbnackten Männern tauchen wie selbstverständlich schon in den ganz frühen Filmen auf, und auch scheinbar vollkommen abwegige Szenarien, wie eine Episode in einem Arbeitslager während der Kulturrevolution, nutzt Kwan dazu, den männlichen Körper als begehrenswert zu inszenieren (EVERLASTING REGRET).

Wer Kwans Filme noch nicht kennt, erhält im Beitrag »Verbotene Liebe« von Johannes Rosenstein einen Überblick über dessen Œuvre: Am Beispiel der Filme YUE KUAI LE, YUE DUO LUO (HOLD YOU TIGHT, 1998) und LAN YU widmet sich der Artikel einerseits der historischen Dimension Hongkongs als Bild sowohl des Urbanen als auch des Queeren im Film, andererseits schlägt er einen Bogen weit in die chinesische Geschichte der Homosexualität, mit der sich Kwan in LAN YU verstärkt auseinandersetzt. Gleichzeitig macht der Text deutlich, dass Stanley Kwan immer auch ein politischer Regisseur ist, der die Geschicke seiner Heimatstadt mit der Volksrepublik China sinnig verwebt.

Anna Stecher untersucht im zweiten Beitrag Kwans Qualität als Literatur(ver)filmer. Der Roman Changhenge (Das Lied der ewigen Trauer, 1995) [5|6]von Wang Anyi bildet die Grundlage für seinen Film EVERLASTING REGRET. Stechers Überlegungen zu den filmischen und erzählerischen Mitteln, mit denen Stanley Kwan die Biografie der Protagonistin Wang Qiyao in Verbindung mit der Entwicklung Shanghais quer durch das 20. Jahrhundert inszeniert, geben einen sehr präzisen Einblick in die beinah lustvolle Beschäftigung Kwans mit literarischen Vorlagen (die auch in Filmen wie RED ROSE WHITE ROSE oder LAN YU zu spüren ist).

EVERLASTING REGRET ist einer von Kwans bekanntesten Werken und bietet mehrerlei Anknüpfungspunkte. Martin Gieselmann betrachtet den Film aus einer anderen Perspektive und setzt ihm mit REN ZAI NIU YUE (FULL MOON IN NEW YORK, 1989) ein frühes Werk des Regisseurs als Kontrapunkt entgegen. Er untersucht die räumlichen und zeitlichen Bedingungen und Konzeptionen, die beide Filme auszeichnen, und arbeitet heraus, inwiefern Hongkong als identitärer Bezugspunkt eine Rolle für den chinesischen Kulturraum generell spielt. Denn gerade weil beide Filme außerhalb der jetzigen Sonderverwaltungszone spielen, ist die Frage nach Heimat und Exil hier besonders virulent.

Mit FULL MOON IN NEW YORK beschäftigt sich auch Isabel Wolte in ihrem Aufsatz »Stanley Kwans Faszination vom Festland«. Hier liegt der Fokus auf dem, was sie als das »gemeinsame Chinesische« identifiziert: Gelingt es Kwan, quasi als außenstehender Hongkong-Regisseur, überhaupt, seine Faszination mit der Geschichte, Tradition und Kultur der Volksrepublik China adäquat umzusetzen? Wolte findet in ihrer Analyse eine gemischte Antwort, die dadurch deutlich macht, wie komplex und unterschiedlich die Geschichten Chinas und Hongkongs sind.

Tim Trausch widmet sich einem weiteren bekannten Werk Stanley Kwans. CENTER STAGE ist eine Mischung aus dokumentarischer und fiktionaler Erzählung, in der die Metaebene des Filmemachens ebenso thematisiert wird wie die Filmerzählung selbst. Auch hier greift Kwan auf chinesische Kinogeschichte zurück: Maggie Cheung, einer der großen Stars des Hongkong-Kinos, spielt einen der größten chinesischen Stummfilmstars, Ruan Lingyu, und reflektiert gleichzeitig ihren und den Starmodus ihrer Vorgängerin. Tim Trausch untersucht in seinem Beitrag den Selbstmord als Wiederholung – schließlich ist CENTER STAGE ein Film, der von Doppelungen, Mehrdeutigkeiten und Spiegelungen in alle Richtungen durchzogen ist; ein extrem reflektiertes und (selbst-)-reflexives Kino. Mit Clemens von Haselbergs Beitrag über das Frühwerk DEI HA CHING (LOVE UNTO WASTE, 1986) kehren wir von Shanghai nach Hongkong zurück. Er untersucht den Film, eine Freundschafts- und Liebesgeschichte mit unaufgeklärtem Mord, mit Blick auf die Verlust[6|7]dimension, die der Film absteckt. Hongkong als Stadt des déjà disparu, wie die berühmte Formel des Literaturwissenschaftlers und Hongkong-Kenners Ackbar Abbas lautet, wird hier noch einmal aufgegriffen und ausgeführt (nachdem in den Beiträgen von Johannes Rosenstein und Isabel Wolte darauf bereits Bezug genommen wurde).

Mit Hendrike Bakes Filmkritik zu ROUGE endet der Band. Ebenso kurz wie präzise stellt sie Stanley Kwans filmischen Durchbruch vor. Einerseits ordnet sie ihn in einen historischen Zusammenhang innerhalb der Entwicklung des Hongkong-Kinos ein, andererseits macht sie deutlich, dass Kwan aufgrund seines Stils zu einem der postmodernsten und intellektuellsten Regisseure Hongkongs zählt. ROUGE bildet nicht nur die Sehnsucht nach einer nostalgischen Vergangenheit ab, sondern dekonstruiert im selben Atemzug eben diese Sehnsucht als Mythos.

Ich bin Hendrike Bake zu besonderem Dank verpflichtet, denn sie hat mich vor einigen Jahren mit dem Werk Stanley Kwans vertraut gemacht – ohne sie würde dieser Band also nicht erscheinen.

Doch selbstredend wäre dieser Band auch nicht möglich gewesen, hätten nicht geduldige und intensiv arbeitende Autorinnen und Autoren mit ihrem Blick und ihrer Lust am Kwan’schen Werk daran mitgewirkt. Vor allem ihre kulturelle und sprachliche Perspektive als Sinologen hat auch mir als Filmwissenschaftler neue Facetten in Kwans Filmen eröffnet. Ihnen gilt mein größter Dank.

Ich danke den ReihenherausgeberInnen, Michaela Krützen, Fabienne Liptay und Johannes Wende, für ihre konstruktive und prompte Lektüre, Michelle Koch für die redaktionelle Über- und Durchsicht, und ich möchte mit vorliegender Ausgabe der Film-Konzepte allen Leserinnen und Lesern Lust machen, die Filme Stanley Kwans näher kennenzulernen.

Eine letzte Anmerkung zur Schreibweise und den Titeln: Wir haben uns für die geläufigeren englischen Titel und damit gegen chinesische Schriftzeichen im Fließtext entschieden; dies ist allein der besseren Lesbarkeit geschuldet. In der Filmografie werden natürlich die kompletten Originaltitel verwendet. Wir sind und bleiben nun mal in unseren westlichen Denkmustern verhaftet – umso mehr freue ich mich, wenn wir mit diesem Band das Fenster in den Osten etwas weiter aufstoßen.

Johannes Rosenstein

Oktober 2016

[7|8] Johannes Rosenstein

Verbotene Liebe

(Melo-)Drama und (Homo-)Sexualität im Werk von Stanley Kwan

I. Aufblende

Inspektor Lan liegt im Krankenhaus. Kehlkopfkrebs, mit 35 Jahren. Er kann nur noch heiser flüstern, und dies auch bloß, wenn man sanft mit der Hand gegen seinen Kehlkopf drückt. Er selbst ist zu schwach dafür. Tony Cheung (gespielt von Tony Leung Chiu-wai) sitzt neben ihm, sie reden über Freundschaft und Liebe, über Zukunftspläne und verpasste Gelegenheiten im Angesicht des Todes. DEI HA CHING (LOVE UNTO WASTE, 1986), Hongkong ist Kronkolonie Großbritanniens, endet mit zwei Männern, die nur miteinander reden können, wenn der eine den anderen berührt. Das stockende Flüstern, die intime Körperlichkeit, Hände, die einander halten: Auf einem Bett (!) beginnen zwei Männer sich – im Wortsinn – zu begreifen, um einander zu verstehen. Die Zärtlichkeit dieser über zehnminütigen Abschlussszene verrät viel über den Regisseur Kwan, denn nirgendwo sonst im Film gibt es einen vergleichbaren privaten Moment. Stanley Kwan verstehen zu lernen, heißt immer auch: sehen, was er nicht zeigt.

Das Bett und die Annäherung finden sich einige Jahre später auch in HONG MEI GUI BAI MEI GUI (RED ROSE WHITE ROSE, 1994), die Rückgabe der Kronkolonie an die Volksrepublik China ist nur noch drei Jahre entfernt. Dieses Mal sitzt Tung Zhen-bao, gespielt von Winston Chao, wartend auf der Bettkante einer Pariser Prostituierten. Er legt sein Jackett ab, blickt in das Bad. Im Umschnitt erkennen wir die nackte Hinteransicht einer Dame, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Sie sitzt auf dem Bidet, kommt auf Zhen-bao zu, er verliert sich in ihrem Busen. Abblende. Der intime Moment ist nicht der Geschlechtsakt (den Stanley Kwan uns verweigert), es ist der Blick auf den Akt der Unterleibwäsche, ausgeführt im Halbdunkel eines Lusthotels. Zhen-bao wird sich später in Chiao-jui verlieben, die Ehefrau seines besten Freundes. Die beiden beginnen eine Affäre hinter dessen Rücken. Wiederum eine verbotene Liebe, und sie endet natürlich tragisch.

[8|9]Dritte Szene: YUE KUAI LE, YUE DUO LUO (HOLD YOU TIGHT, 1998) entstand 1997, dem Jahr der Übergabe der Kronkolonie an die Volksrepublik. Fünf Menschen, drei ineinander verwobene Schicksale, Begehren und Konf likt, zwischen hetero- und homosexuellem Verlangen changierend. Jie, ein junger Bademeister, hat ein Verhältnis mit Ah Moon, die jedoch verheiratet ist. Die Affäre endet, denn Ah Moon kommt bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, und Jie beginnt, sich mehr und mehr für Ah Moons Ehemann Fung Wei zu interessieren. Seine Spionage reicht so weit, dass er sogar einen Job als Barmann in dem Lokal annimmt, das Fung Wei nach dem Tod seiner Frau häufig frequentiert. Fung Wei ist betrunken, Jie macht ihm ein Kompliment: »Schöner Hochzeitsring!« Ob er ihn mal genauer ansehen dürfe? Fung Wei versucht, ihn vom Finger zu ziehen, um ihn Jie zu zeigen: vergeblich. Also streckt er ihm die Hand hin. Jie ergreift sie. Er betrachtet den Ring, doch die ganze Zeit hält er auch Fung Weis Hand in der seinen, zwölf Sekunden lang. Eine filmische Ewigkeit. Der Beginn einer neuen Anziehung (Beziehung wäre ein zu starkes Wort) – der Beginn eines neuen Schmerzes.

Die Verworrenheit der Gefühlslage, das Spiel mit und in den Geschlechterrollen fasziniert Stanley Kwan; sie ziehen sich als rote Fäden durch sein Werk, die drei Beispiele werfen Schlaglichter auf dieses Spiel. Er selbst lebt seit seinem Coming-out in seinem Dokumentarfilm YANG UND YINDAS SPIEL DER GESCHLECHTER IM CHINESISCHEN KINO (1996) als einer der wenigen Regisseure Asiens offen schwul. Was in seinem Frühwerk als versteckte Anspielung angelegt ist, wird in seinen späteren Filmen sowohl offensiver als auch vielschichtiger behandelt. Ich möchte die Dynamik dieses Spiels der (Homo-)Erotik und der schwankenden sexuellen Orientierungen genauer beleuchten, Verbindungslinien in die chinesische Geschichte und Tradition vom Umgang mit Homosexualität ziehen und anhand primär zweier Filme aufzeigen, mit welchen filmischen Mitteln Kwan seine sehr persönliche Handschrift findet, wenn es um das (Melo-)Drama von (Homo-)Sexualität geht. Im ersten Teil möchte ich HOLD YOU TIGHT und dessen Umgang mit Bi- und Homosexualität in Beziehung setzen zu der Art und Weise, wie Kwan die Großstadt Hongkong inszeniert, um aufzuzeigen, wie sich das Urbane in das Queere einschreibt (beziehungsweise umgekehrt). Im zweiten Teil behandle ich Chinas Geschichte der Homosexualität, um vor diesem Hintergrund – drittens – den Film LAN YU (2001) genauer zu untersuchen, und zwar im Hinblick darauf, wie aus einem ungleichen Paar eine Beziehung auf Augenhöhe entsteht. LAN YU gilt für mich auch als Beispiel für eine chinesische Form des Melodrams, wie ich im letzten Abschnitt [9|10]herausarbeite. Unter, hinter und in diesem Diskurs liegt natürlich immer die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Im Falle Hongkongs ist diese Frage eine höchst aktuelle, weil sie sich ständig wandelt. Angesichts eines als übermächtig wahrgenommenen Festlandchinas treibt die Hongkonger Bürger die Frage nach der eigenen Identität mehr denn je um, nicht zuletzt war dies in der sogenannten Umbrella Revolution Ende 2014 sichtbar beziehungsweise in den Wahlen zum Legislativrat im September 2016. Das macht die Auseinandersetzung mit Stanley Kwans Filmen auch nach wie vor so reizvoll – und wichtiger denn je.

II. HOLD YOU TIGHT: urban und queer

Der Titel HOLD YOU TIGHT entstammt der Liedzeile eines chinesischen Schlagers, der über dem Abspann liegt; Kwan realisiert den Film ein Jahr nach seinem Coming-out im Wendejahr 1997. Er erzählt verschachtelt, in Rückblenden, ohne die Zeitebenen deutlich voneinander zu trennen. Es geht zum einen um die Geschichte des jungvermählten Paares Ah Moon und Fung Wei (auch Ah Wei genannt), er ist ein fader Mann, sie ist recht nörglerisch. Ah Moon beginnt eine Affäre mit Jie, einem hübschen Bademeister, dem sowohl die Jungs als auch die Mädchen im Schwimmbad hinterherschauen. Jie fühlt sich im Lauf des Films jedoch immer mehr zu Fung Wei hingezogen; die Dreiecksgeschichte steht im Mittelpunkt, flankiert wird sie durch den Immobilienberater Tong, einem untersetzten, älteren schwulen Single, der nicht verhehlen kann, an Fung Wei interessiert zu sein, wissend, dass dieser seine Gefühle nicht erwidern wird. Oder doch? All diese Stränge sind in Hongkong angesiedelt, eine fünfte Episode spielt in Taipei, wohin Jie flüchtet, weil er mit seinem Interesse an Fung Wei nicht wirklich umgehen kann. Dort trifft er auf Rosa, die der verstorbenen Ah Moon frappierend ähnlich sieht (kein Wunder, werden doch beide von der Schauspielerin Ching-my Yau verkörpert) und die nicht zuletzt aufgrund ihrer Ähnlichkeit Jie dazu bringt, Fung Wei seine Gefühle zu gestehen. In der Schlusssequenz unterhalten sich Fung Wei und Tong über ihre Freundschaft; darüber, in jeder Begegnung eine neue Chance zu sehen. Am Ende überqueren beide die große Brücke, die Hongkong von den New Territories trennt: ein Aufbruch in eine ungewisse Zukunft. Der Film endet mit diesem trans – über/durch – mit anderen Worten: Wir sind noch längst nicht irgendwo angekommen, und wir haben keine Ahnung, wie es dort weitergeht. Damit schließt sich der visuelle Kreis zur Titelsequenz: Ein Flugzeug [10|11]startet auf dem nächtlichen Runway. Wie wir später erfahren, wird es nie ankommen.

Dieser Ausblick ist bezeichnend. Kwans Film entsteht in einem Jahr, das für Hongkong eine entscheidende Weichenstellung bedeutet, denn 1997 wird die ehemalige Kronkolonie von Großbritannien an die Volksrepublik China übergeben. Die Regisseure der sogenannten Second Wave im Hongkong-Kino beschäftigen sich mit der Übergabe – dem Hand-over – in mannigfaltiger Weise, das untergründige Thema lautet: Wie sieht unsere Stadt in Zukunft aus? Wohin entwickelt sich Hongkong unter neuer Herrschaft? Wie wollen wir in dieser Stadt leben? All das berührt in großem Maße die eigene Identität; der Wechsel vom Status einer Kolonie hin zum behaupteten neuen one country – two systems markiert einen veritablen Bruch. Diese Gemengelage färbt den Hintergrund, vor dem der Film gelesen werden muss. Esther M. K. Cheung beschreibt Hongkong als Stadt in einem Moment der Gefahr, und dass das, was das Hongkong-Kino als »Kino der Krise« definiere, in der Mehrfachbedeutung des Wortes »Krise« stecke: als medizinischer Terminus, als dramaturgisch-ästhetisches Konzept, in welcher von einem Subjekt und seiner Beziehung zur objektiven Welt ausgegangen wird, beziehungsweise drittens als psychologische oder soziale Dimension, die eine kollektive Auswirkung habe: »We can see how crisis brings about the possible disintegration of experience and hence the necessity of regaining a sense of control through the process of transformation.«1

Im Spannungsfeld zwischen Erfahrung und Transformation bewegt sich das neue, moderne Kino Hongkongs seit der Second Wave, seit der Auseinandersetzung mit dem Unbekannten – als ästhetische und kulturelle Antwort auf etwas nie Dagewesenes. Das Krisenhafte, Prekäre, Unsichere ist nicht zuletzt deshalb Hongkongs ständiger Begleiter, da die Geschichte Hongkongs aus einer bestimmten Perspektive heraus grundsätzlich instabil ist: Nach der Übernahme durch Großbritannien 1843 nach dem verlorenen Ersten Opiumkrieg folgen die japanische Besetzung, die Machtübernahme der Kommunisten in China, der Koreakrieg und das damit einhergehende US-Embargo gegen China, Maos Kulturrevolution, die Aufstände in Hongkong im Jahr 1968, schließlich die Gespräche Margaret Thatchers mit der chinesischen Zentralregierung, die 1984 zum sino-britischen Abkommen führen, und nicht zuletzt das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz im Jahr 1989. All diese Ereignisse stellten und stellen den Hongkonger Way of Life infrage; griffen und greifen entscheidend in das Identitäre ein, wie Ackbar Abbas analysiert.2 Auf ihn aufbauend beschreibt Cheung Hongkongs Filmemacher als ständige [11|12]Vertreter eines Dazwischen: zwischen Kunst und Kommerz arbeitend, nicht als auteurs wie die europäischen Autorenfilmer der Nouvelle Vague, sondern innerhalb der Filmindustrie agierend, und dennoch eine eigene Handschrift formulierend. Ihre Erfahrung ermöglicht es ihnen, auf Veränderung zu reagieren und diese gleichermaßen für einen erzählerischen Ausdruck zu nutzen, der die Erfahrung dieser Zersetzung nicht negiert, sondern wieder in neue Erfahrungen (empathisch) ummünzt.3 Das ist der Stoff, aus dem Dramen gewebt werden.

HOLD YOU TIGHT ist in diesem neuen, zerfallenden Hongkong der Transformationserfahrung(en) eine einzige suchende, rastlose Bewegung, nicht umsonst beschwört der Titel ja, dass es etwas festzuhalten gilt. Die Handkamera unterstützt bisweilen diese Bewegung, die übergangslosen Sprünge in die Vergangenheit und auch innerhalb der konsekutiven Handlung verstärken das Gefühl der Verlorenheit. Man findet sich als Zuschauer nicht sofort zurecht. Der einzige Hinweis darauf, dass wir bei drei Kneipenszenen hintereinander an drei auseinanderliegenden Tagen Zeuge einer Annäherung zwischen Tong und Fung Wei werden, besteht in dem Wechsel der T-Shirts. Das ist zwar eine Markierung, aber keine sehr deutliche.

In gewissem Sinne spielt der Film mit dieser Reizüberflutung, in diesem Spiel werden die Eigenschaften Hongkongs in eine visuelle Unbehaustheit übersetzt: Denn was Hongkong als Stadt auszeichnet, ist genau diese Kultur der Überreizung. Der Blick wird ständig von visuellen Großbaustellen in Beschlag genommen und gelenkt: von hausgroßen Werbetafeln zu spektakulären Lichteffekten, Monitoren, Verkehr und schierer Fülle an aufmerksamkeitsheischender Architektur. Der Wettbewerb der Reize untereinander führt dazu, dass die Stadt dahinter beinahe unsichtbar wird. Ackbar Abbas, lange Jahre Lehrstuhlinhaber für Vergleichende Literaturwissenschaften an der University of Hongkong, bezieht sich in seiner Darstellung auf Georg Simmel, dessen Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben zwar das Berlin des 19. Jahrhunderts beschreibt, in seiner weitergedachten Konsequenz aber durchaus auf das Hongkong der 1990er Jahre anwendbar ist, was sich darin äußert, dass Hongkong unbeschreibbar wird, weil nicht mehr erlebbar – und in der Folge auch undarstellbar. Hongkong hat und ist ein visuelles Problem, eine Kapitulation des Blicks: »As the city becomes larger, more densely populated, and socially and politically more complex, there comes a point of implosion when it can be experienced only through contradictions; which means when it cannot be experienced directly at all. In an important sense, Hong Kong is no longer a city of experience. There is so much [12|13]of it that cannot be perceived, only deduced, by extrapolating from the aporias of experience. More and more, it comes into existence on the ruins of experience. It is as if its very complexity has the catastrophic effect of making the city nondescript.«4

Die Konsequenz: Wenn sich die Geschichte einer Stadt ändert, dann müssen sich auch die Bilder, die die Stadt beschreiben sollen, ändern. Und hier kommt Stanley Kwan (und mit ihm kommen viele andere der Second-Wave-Regisseure) wieder ins Spiel. Das Scheitern der Bilder manifestiert sich auch in einer überfordernden Montage, in der es nicht zuerst darum geht, sich zurechtzufinden – sondern das Scheitern, die Überforderung zu akzeptieren. Man muss nicht alles/sofort verstehen. Das Kino als Kunst der Blickgestaltung entwickelt im Zuge der Second Wave den Trick, Bilder auf unorthodoxe Art und Weise zu verwenden, um auf die Unmöglichkeit des Bildermachens hinzuweisen; um aus der Falle des Unbeschreibbaren/Unzeigbaren herauszutreten.5 Die Bilder, die man landläufig von Hongkong im Kopf hat, müssen – so die Filmemacher – zumindest ergänzt werden durch solche, die wir aus demselben Grund übersehen (weil die Postkarte so dominant geworden ist). An mehreren Stellen verdeutlicht Kwan, was das bedeutet. Ah Moon fährt mit Jie zum Victoria Peak, dem prominentesten Aussichtspunkt auf Hongkong Island. Von dort aus sieht man die berühmte Skyline der Stadt. Kwan jedoch konzentriert sich auf die Autofahrt, die hoch auf den Berg führt. Mit romantischer Musik unterlegt, einer entfesselten, fast taumelnden Kamera begleitet er Jie und Ah Moon eine halbe Minute lang auf den Peak, um uns dann 5 Sekunden (!) lang die Stadt zu zeigen. Der Weg, den die beiden zurücklegen, ist wichtiger als der millionenfach auf die Stadt geworfene, immer gleiche Blick. Um diese Umwidmung innerhalb des Visuellen geht es.

Die unmarkierten Rückblenden, Doppelungen in der Dreiecksbeziehung Ji – Fung Wei – Ah Moon sind so konstruiert, dass sie beim ersten Sichten nur in der Rückschau funktionieren: Moment mal, habe ich das nicht schon gesehen? Das déjà vu und das déjà disparu sind Geschwister. Kwan spielt ganz bewusst mit unserer Erwartung an Linearität und schafft über die Verwirrung gleichzeitig Überraschungsmomente. Denn die erwähnte Szene, die Annäherung auf dem Gipfel, kommt so unerwartet, wurde kaum narrativ vorbereitet, sodass sie genau diese eruptive Qualität besitzt, die die Stadt Hongkong als unüberschaubares System auszeichnet. Alles kann immer passieren, und in diesem Film passiert alles auch immer; die häufigen, spontanen Quickies von Jie und Ah Moon mit überfallartigen und schnellen Orgasmen im Fahrstuhl oder am Strand sind nur ein weiteres Eruptiv, wie Helen Hok-Sze Leung bemerkt: »These relationships that unfold in the rest of the film erupt, like spontaneous sexual encounters, out of the unexpected and contingent spaces, weaving queer connections amid anxiety and crisis. These relations are further mapped onto the city’s urban development.«6

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HOLD YOU TIGHT: Quickie im Fahrstuhl

Es handelt sich also um eine Einschreibung des Städtischen in das Queere beziehungsweise des Homosexuellen in das Urbane. Kwan stellt eine so enge Verzahnung von Stadt(-Bild) und Selbst(-Bildnis) her, dass diese nicht mehr voneinander zu trennen sind. Das lässt sich in HOLD YOU TIGHT an einer weiteren Bewegung festmachen: Die Einsamkeit des Großstadtschwulen steht exemplarisch für die Einsamkeit des Menschencruist7