Michael E. Vieten

Christine Bernard

Der unsichtbare Feind

Vielen Dank an die Mitarbeiter der Pressestelle der Kriminalpolizei Trier für ihre zahlreichen Auskünfte.

Mein besonderer Dank geht an Peter K. für seine stets freundliche und geduldige kriminalistische Fachberatung und an Birgit D. für ihre wertvolle Unterstützung.

 

Die Handlung in diesem Roman ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Karneval

Schwer drückten die tief hängenden dunkelgrauen Wolken auf die Stadt. Dicke, nasse Schneeflocken stürzten sich auf die Windschutzscheibe. Beide Wischblätter waren vereist und zogen breite Grieselstreifen über das Glas.

Christine Bernard stellte das Radio lauter und hielt ihre klammen Finger in den warmen Luftstrom der Heizung.

Der Wetterdienst meldete seit Tagen ergiebige Niederschläge. Trier schien im Schnee zu versinken. Ein freundliches Hochdruckgebiet war vorerst nicht in Sicht.

Mit einem Seitenblick musterte sie das Profil ihrer Kollegin. Tanja Rieger steuerte den Dienstwagen gelassen durch das Wetterchaos.

Sie liefen auf ein Räumfahrzeug auf. Grell zuckte das orangene Licht der rotierenden Rundumleuchte am Heck des Fahrzeugs über ihre Gesichter. Streusalz rieselte gegen die Karosserie. Tanja vergrößerte den Abstand.

Ein Stadtbus drängelte sich in die Lücke. Sie bremste hart, das Antiblockiersystem des BMWs sprach knirschend an, aber sie ließ sich ihre Verärgerung nicht anmerken.

Kommissarin Bernard hätte gehupt und geflucht. Bestimmt. An diesem Morgen auf jeden Fall. Es war nasskalt und windig und ihnen stand ein unangenehmer Einsatz bevor. Die Kollegen aus dem Kommissariat 3, Rauschgiftdelikte, hatten Verstärkung für eine Festnahme angefordert.

Christine Bernard hasste Festnahmen in der Drogenszene. Diebe, Räuber und Mörder waren bereits schwer einzuschätzen. Aber diese durchgeknallten Drogentypen waren unberechenbar und bildeten für sie den Bodensatz der Gesellschaft.

Die hatten nichts zu verlieren. Nicht selten eskalierten Festnahmen in diesem Milieu, und es bestand die Gefahr, dass man die Kontrolle über einen Einsatz verlor.

Während eines solchen Einsatzes in ihrer alten Dienststelle in Wittlich hätte ihr ein Junkie einmal beinahe seine blutverschmierte Spritze in den Bauch gerammt.

Sie schüttelte sich bei dem Gedanken daran, durch solch eine gemeine Attacke mit HIV oder Hepatitis oder sonst irgendeiner schrecklichen Krankheit infiziert zu werden. Dann wären ihre Gesundheit und ihr bisheriges Leben ruiniert, und sie wäre ein ständiges Risiko für andere Menschen, sich bei ihr anzustecken.

Während die junge Polizeimeisterin neben ihr offenbar entspannt dem Einsatzort entgegen fuhr, wünschte sich Christine woanders hin. In die Sonne. An einen Strand. Unter Palmen, und neben ihr Torben Heintz.

Sie schaute aus dem Seitenfenster und dachte an ihren bevorstehenden Urlaub. Drei Wochen Indischer Ozean. Mauritius. Im Meer baden. Verrückte Cocktails trinken und frische Meeresfrüchte vom Abendbüffet genießen. Und das alles zusammen mit dem sanften Mann, für den ihr Herz schlug. Das hatte sie sich so sehr gewünscht.

Für einen Moment glaubte sie, der ferne Ort locke sie schon mit einer Südseemelodie, doch es war nur das Radio.

Sie war urlaubsreif und hatte einfach gebucht, was ihr gefiel. Nicht Early Bird oder Last Minute. Sie hatte nicht auf den Preis geschaut.

Natürlich war Torben überrascht gewesen. Aber er hatte spontan Urlaub genommen, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, obwohl sein Orchester in dieser Zeit zwei Auftritte hatte.

„Sie werden wohl mit einem Cellisten weniger auskommen müssen“, scherzte er und freute sich mit ihr.

Ein schwerer Geländewagen zog mit überhöhter Geschwindigkeit an ihrem Fenster vorbei. Seine breiten Reifen stampften über den Asphalt durch den Schneematsch und schleuderten ihn hoch. Schmutzig braun klatschte er gegen das Glas. Christine erschrak.

„Idiot“, entfuhr es ihr laut.

Schuldbewusst schaute sie ihre Kollegin an.

„Entschuldige, ich bin etwas genervt.“

Tanja warf ihr verständnisvoll einen Seitenblick zu, lächelte mild und bog in eine Nebenstraße ein.

Hinter einem silbergrauen Kleinbus mit abgedunkelten Scheiben hielt sie den BMW an und schaltete den Motor ab. Die Seitentür des unauffälligen Dienstfahrzeugs wurde aufgeschoben und eine winkende Hand forderte sie auf, in das Fahrzeug zu steigen.

Christine und Tanja schnallten sich ab und stiegen aus dem Wagen.

Der Schneematsch lag mehrere Zentimeter hoch auf der Straße und noch höher dort, wo wenig gewissenhafte Bürger es versäumt hatten, den Gehweg zu räumen. Unter ihren Füßen war es glatt, und der eisige Wind trieb halbgefrorene Schneeflocken in ihre Gesichter und in ihr Haar.

Es roch rußig nach den Abgasen der Heizungsanlagen der umstehenden Häuser.

Sie beeilten sich, zu den Kollegen in das warme Innere des Busses zu steigen.

Oberkommissar Dietmar Forster zog hinter ihnen die Schiebetür zu.

„Guten Morgen, Kolleginnen“, grüßte er und verband seinen freundlichen Gruß sogleich mit einer Frage.

„Wo sind Rottmann und Kluge?“

Tanja Rieger ließ sich neben einem schlanken Mann auf eine der beiden Sitzbänke fallen. Kommissarin Bernard nahm ihr gegenüber Platz und antwortete: „Hauptkommissar Kluge ist heute Vormittag auf Fortbildung und Hauptkommissar Rottmann hat noch Urlaub.“

Dietmar Forster machte ein enttäuschtes Gesicht.

„Dann sind wir zu wenige. Immer dieser scheiß Personalmangel, verdammt. Für alles und jeden in dieser Welt hat dieses Land Geld, aber nicht für die, die diesen Laden überhaupt noch zusammenhalten.“

Er fluchte noch einmal und stellte dann seine beiden Kollegen vor.

„Kommissar Reiner Schwert und Kommissar Jürgen Haupt. Beide wie ich vom K3, Drogenfahndung.“

Die Kommissare nickten stumm. Oberkommissar Forster stellte weiter vor.

„Kommissarin Christine Bernard und Polizeimeisterin Tanja Rieger vom K1, Todesermittlungen. Willkommen bei der Sonderkommission ‚Karneval‘.“

Reiner Schwert räusperte sich.

„Christin‘ Bernar‘? Sind Sie Französin? Sie haben gar keinen Akzent.“

Die junge Kommissarin sah in das freundliche Gesicht des Drogenfahnders.

„Ich bin in Luxemburg geboren, aber in Deutschland aufgewachsen.“

Reiner Schwert verstand und nickte.

„Willkommen an Bord.“

„Also“, brummte Dietmar Forster und schaute ungeduldig auf seine Armbanduhr. „Wir haben nicht mehr viel Zeit. Laut unseres Informanten geht es in einer halben Stunde los.

Wir observieren heute ein Supermarkt-Gelände, das einigen Informatikstudenten als Drogenumschlagplatz dient. Die Gruppe ist seit einem Jahr neu auf dem Markt und soll sofort gestoppt werden. Die glauben, sie seien besonders schlau und tragen Karnevalsmasken, während sie ihre Tütchen aus dem Auto heraus verteilen. Die dealen überwiegend mit Amphetaminen für Schichtarbeiter, Ritalin für Studenten und Aufputschmittel für die Partyszene. Gras, LSD, Speed, MDMA, liquid Ecstasy und so weiter. Kein Crystal Meth, Kokain, Heroin oder andere harte Drogen. Also alles noch relativ harmlos. Wir stoppen die Jungs heute, bevor sie Karriere in der Branche machen.“

Christines Anspannung nahm langsam ab. Die Soko „Karneval“ bestand offensichtlich aus erfahrenen Kollegen und die Zielpersonen waren eine Gruppe naiver Jugendlicher, die sich ein paar Euros verdienen wollten. Scheinbar handelte es sich um einen harmlosen Einsatz.

Wie auf ein Kommando zogen sich Tanja und Christine die langen dunklen Haare aus den haltenden Gummibändern, klemmten sie kurz zwischen ihre Lippen und banden sich mit beiden Händen ihre Zöpfe neu.

Oberkommissar Forster sprach weiter.

„Unsere beiden Damen fahren auf den Parkplatz des Supermarktes und warten in ihrem Wagen in der Nähe der Ausfahrt. Wir warten hier, bis die Jungs mit ihrem schwarzen Audi A4 auf den Parkplatz fahren und mit ihrem Handel beginnen. Dann verstellen wir die Einfahrt des Parkplatzes und unsere beiden Kolleginnen die Ausfahrt. Der Zugriff erfolgt sofort ohne weiteres Kommando.“

Dietmar Forster deutet mit seiner Hand die Straße entlang.

„Nach 150 Metern auf der rechten Seite befinden sich Ein- und Ausfahrt des Parkplatzes. Noch Fragen?“

Niemand hatte noch Fragen. Kommissarin Bernard zog ihre Waffe aus dem Schulterholster und kontrollierte sie.

„Die werden Sie nicht benutzen müssen. Zeigen reicht. Das sind blutige Anfänger, denen gleich das Herz in die Hose rutscht, wenn die plötzlich in einen Pistolenlauf gucken.“

Tanja Rieger und Christine Bernard verließen den Kleinbus, stapften und schlitterten durch den Schneematsch auf ihren Dienstwagen zu und stiegen ein.

Der BMW hatte sich bereits wieder abgekühlt. Die Scheiben waren beschlagen. Tanja startete den Motor und schaltete das Gebläse auf die höchste Stufe. Mit dem Ärmel ihrer Jacke wischte sie sich ein Guckloch frei. Viel sah sie dadurch nicht, aber für die 150 Meter sollte es reichen.

Die Hinterräder des BMW drehten trotz der guten Winterreifen kurz durch, als der Wagen anrollte. Christine tippte auf den Schalter für die Klimaanlage, um den Innenraum zu entfeuchten.

Die Ausfahrt, die sie verstellen sollten, konnten sie von ihrer Position aus nicht vollständig einsehen. Aber es war kein günstigerer Parkplatz frei gewesen. Ihr freies Blickfeld reichte gerade aus, dass sie alle Fahrzeuge beobachten konnten, die auf das Gelände des Supermarktes fuhren.

Der Motor ihres Dienstwagens lief. Das Heizungsgebläse rauschte gegen die Winterkälte an. Kommissarin Bernard rieb ihre Hände aneinander und dachte an Mauritius.

„Da ist der schwarze Audi!“, rief Tanja plötzlich, die ihren Blick nicht einen Moment von der Einfahrt gelöst hatte. „Es geht los!“

Noch war der Kleinbus der Kollegen in der Einfahrt nicht zu sehen. Trotzdem ließ die junge Polizeimeisterin den BMW langsam aus der Parklücke rollen. Vor ihnen parkte ein anderes Fahrzeug rückwärts aus.

„Los, mach hin“, forderte Christine und beobachtete ungeduldig das zögerliche und ungeschickte Ausparkmanöver des Kleinwagens. Der Wagen stand nun quer vor ihnen. Die Bremslichter leuchteten auf, aber die Rückfahrscheinwerfer erloschen nicht.

„Was macht der denn da so lange?“, rief sie ungehalten und warf über die Dächer der geparkten Fahrzeuge hinweg einen Blick zur Einfahrt des Parkplatzes. Der silbergraue Kleinbus der Kollegen schob sich auf das Gelände und blieb wie vereinbart in der Auffahrt stehen.

Tanja Rieger hätte am liebsten gehupt oder ihr Blaulicht auf das Dach gesetzt und den bummelnden Autofahrer vor sich verscheucht. Aber das ging jetzt natürlich nicht. Denn dann wären ihre Zielpersonen ganz sicher gewarnt und bald darauf auf und davon. Solange ihr Wagen nicht die Ausfahrt blockierte, durften sie keine Aufmerksamkeit erregen.

Endlich erloschen die Rückfahrscheinwerfer und der Kleinwagen fuhr los. Dicht gefolgt von dem dunklen BMW der Trierer Kriminalpolizei.

Sie warteten nicht, bis der Kleinwagen sich zaghaft in den fließenden Verkehr vortastete und endlich das Gelände verließ. Keine Handbreite hinter ihm stoppte Tanja Rieger den Dienstwagen und verstellte damit die Ausfahrt.

Oberkommissar Forster verließ mit seinen Kollegen den Kleinbus und Tanja und Christine sprangen aus ihrem Wagen.

Der schwarze Audi stand mit abgedunkelten Scheiben und dampfendem Auspuff am äußersten Ende des Parkplatzes. Ein Seitenfenster war halb heruntergelassen. Ein junger Mann stand davor und nahm ein kleines Päckchen entgegen. Schnell entfernte er sich vom Wagen, ohne sich umzusehen.

Alle Beamten hatten den Audi beinahe erreicht. Die Kommissare Schwert und Haupt zogen ihre Dienstpistolen und zielten damit auf das geöffnete Seitenfenster. Ihre Waffen waren nicht durchgeladen und nicht entsichert. Sie waren sich sicher, es wäre nicht nötig. Die Übermacht der Beamten und der Anblick ihrer Pistolen waren sicher Furcht einflößend genug. Gewohnt energisch riefen sie ihre ersten Kommandos.

„Polizei! Motor aus! Alle aussteigen! Hände auf das Wagendach!“

Christine Bernard und Tanja Rieger ließen ihre Blicke kurz über den Parkplatz schweifen und sicherten den Rücken ihrer Kollegen.

Zugeschneite Fahrzeuge, vereinzelte frei getaut, Kunden mit leeren oder vollen Einkaufswagen auf dem Weg in den Supermarkt oder zu ihren Autos. Keine Gefahr.

Für einen Sekundenbruchteil huschte ein Gedanke an Mauritius durch Christines Kopf. Dann schaute sie wieder zum Wagen der Drogendealer.

Dort hatte sich die Gemengelage plötzlich völlig verändert.

Alle Türen des Audis waren aufgestoßen worden. Vier Männer mit Karnevalsmasken sprangen heraus und begannen sofort, über den Parkplatz zu sprinten. Jeder in eine andere Richtung.

Die Kollegen zeigten sich überrumpelt und hatten keine Zeit mehr, ihre Waffen einsatzbereit zu machen und riefen den äußerst sportlichen Flüchtenden beinahe hilflos hinterher.

„Stehenbleiben! Polizei!“

Doch ihre Kommandos verhallten ungehört.

Ein Mann mit einer rosa Schweinsmaske vor dem Gesicht rannte dicht an Christine vorbei, und ein anderer mit einer Guy-Fawkes-Maske rempelte Polizeimeisterin Rieger nieder, bevor er die Richtung wechselte und dem Schweinchen hinterher rannte.

‚Na, das ging ja voll in die Hose‘, erkannte Kommissarin Bernard die außer Kontrolle geratene Situation und lief so schnell sie konnte den beiden Flüchtenden über den mit Schneematsch bedeckten Parkplatz hinterher.

Ein Mann mit einem Einkaufswagen schob sich in den Weg. Das Schweinchen und Guy Fawkes flankten mühelos über den Einkaufswagen hinweg.

‚Wie die Artisten‘, schoss es der jungen Kommissarin durch den Kopf, bevor sie gegen den Mann schlitterte, ihn umriss und selbst auch stürzte.

„’Tschuldigung“, stammelte sie und rappelte sich wieder auf. Eiswasser durchsickerte ihre Jeans. Ein braunes Gemisch aus Schneematsch und Streusalz klebte an ihren Händen und an ihrer Jacke. Während sie weiterrannte, schüttelte sie es ab.

Schweinchen und Guy Fawkes sprinteten trotz des rutschigen Bodens rasant die Hauptstraße entlang. Sie flankten über Motorhauben von stehenden Autos, trampelten darüber hinweg und wichen geschickt schlitternd Passanten aus, schubsten sie oder stießen sie einfach um.

‚Verdammt, dieses Tempo kann ich nicht halten‘, wusste Kommissarin Bernard sofort und sah sich blitzschnell um. Weit hinter ihr lief Tanja Rieger. Viel langsamer als sie selbst. Sie musste sich verletzt haben, als Guy Fawkes sie umgerannt hatte.

Christine holte das letzte bisschen Kraft aus sich heraus und versuchte, aufzuholen. Doch der Abstand wurde größer. Eisige Winterluft vermischt mit Autoabgasen durchströmte ihre Lunge. Ihr Brustkorb begann zu schmerzen. Und dann glitt sie aus und stürzte. Über den festgetretenen Schneematsch des Gehwegs hinweg rutschte sie gegen ein geparktes Fahrzeug und schlug mit ihrem Kopf gegen die Fahrertür. Für einen Moment blieb ihr vor Schmerz die Luft weg. Doch sie rappelte sich auf und vertrieb das Schwarz, welches sich daran machte, ihr das Bewusstsein zu nehmen. Und dann wurde sie wütend. Sie hatte die Nase voll von diesen verdammten Drogentypen. Sie waren offenbar vollgepumpt mit Aufputschmitteln. Wie sonst war es zu erklären, dass sie so geschickt flüchten konnten.

Sie sah sich um und entdeckte Schweinchen und Guy Fawkes auf einem niedrigen Gebäude. Es waren Garagen. Irgendwie waren sie da hinauf gelangt und blickten zu ihr herüber. Sie warteten offensichtlich ab, was diese Kommissarin nun tat. Wurden sie weiter verfolgt oder konnten sie verschnaufen und ihre Flucht gemächlicher fortsetzen?

Die beiden fühlten sich scheinbar sicher dort oben, auf den Garagendächern. Dampfende Atemluft stieß in kurzen Abständen aus ihren Masken hervor.

Und dann bemerkte Kommissarin Bernard den Müllcontainer an der schmalen Seite der Garagen. Ihr Weg hinauf auf das Dach.

Noch einmal warf sie Schweinchen und Guy Fawkes einen Blick zu, und dann rannte sie los.

Mit zwei kräftigen Zügen kletterte sie auf den Container und stemmte sich von dort auf das Garagendach. Längst waren ihre Hose und ihre Jacke von schmutzigem Schnee, Salz und Straßendreck durchweicht. Ihre Hände dreckig und ihre Finger taub vor Kälte. Aber das war ihr jetzt egal. Sie holte auf. Denn Schweinchen und Guy Fawkes hatten offenbar nicht damit gerechnet, dass diese sture Kommissarin einen weiteren Versuch unternehmen würde, ihnen zu folgen.

Mit elegantem Schwung sprangen sie vom Garagendach in einen Innenhof. Schweinchen überwand wie ein Zirkusartist eine mindestens zweieinhalb Meter hohe Mauer zu einem Nachbargrundstück und verschwand dahinter.

‚Parcour!‘, schoss es Christine durch den Kopf. Was die beiden zeigten, war eine Sportart, die sich ‚Parcour‘ nannte und zum Ziel hatte, urbane Hindernisse aller Art möglichst elegant und geübt zu überwinden. Diesen trainierten Sportlern hatte sie kaum etwas entgegenzusetzen.

Doch Guy Fawkes hatte sich für eine Tordurchfahrt als Fluchtweg entschieden und nicht den Weg über die für Christine unüberwindbare Mauer gewählt.

Ihn könnte sie weiter verfolgen. Mit dem Mut der Verzweiflung sprang sie von dem fast drei Meter hohen Garagendach.

Der Aufprallschmerz stach ihr wie ein Messer in das Fußgelenk. Ihr entfuhr ein spitzer Schrei.

‚Aus!‘, dachte sie gleich, fiel stöhnend auf die Seite und blieb liegen. ‚Fuß gebrochen oder Kapselriss‘, prognostizierte sie. ‚Adieu Urlaub. Mindestens sechs Wochen Gips.‘

Tränen schossen ihr in die Augen. ‚Hoffentlich kein offener Bruch‘, flehte sie in sich hinein und wagte kaum, einen Blick auf ihr pochendes Fußgelenk zu werfen. Doch die Haut unter ihren Socken war unverletzt.

‚Gott sei Dank, kein Blut‘, registrierte sie erleichtert. Sie spürte ihr Fußgelenk anschwellen und die Wärme, die ihr Körper in das geschundene Körperteil schickte.

Ihre Erlösung erlaubte ihr einen schnellen Blick zur Toreinfahrt. Sie sah Guy Fawkes durch den Torbogen auf die Straße laufen.

‚Der ist weg‘, wusste sie beim Anblick des rennenden Mannes und empfand in diesem Moment sogar etwas Bewunderung für dessen Fitness. Und dann hörte sie und sah zugleich, was ihr einen schrillen Schrei entfahren ließ.

„Nein!“

Doch es war zu spät. Der Kleintransporter eines Paketdienstes erfasste Guy Fawkes in voller Fahrt mit einem dumpfen Knall. Sein Körper flog wie eine Puppe über die Straße hinaus aus Christine Bernards Sichtbereich, den die schmale Toreinfahrt ermöglichte.

Sofort versuchte sie, sich aufzurichten und war im ersten Moment erstaunt, wie gut es ging. Doch dann schaffte es der Schmerz durch den Vorhang aus Adrenalin. Erst dumpf, wie aus weiter Ferne und dann mit jedem Schritt heftiger. Sie biss sich auf die Unterlippe und kämpfte sich, den rechten Fuß nachziehend, über das Grundstück und durch den Torbogen bis hinaus auf die Straße. Während sie auf den leblosen Körper von Guy Fawkes zu humpelte, fischte sie ihr Mobiltelefon aus ihrer Jackentasche, forderte über die Einsatzzentrale einen Notarzt an und bat um Unterstützung durch die Kollegen von der Streife.

Guy Fawkes lebte noch. Er bewegte plötzlich einen Arm.

Die schwarz-weiße Maske war gerissen, hing aber trotzdem noch, von einem dünnen Gummiband gehalten, schief vor seinem Gesicht. Blut sickerte darunter hervor. Kommissarin Bernard sank auf ihre Knie, hob die Maske an und zog sie vorsichtig weg. Ein junges, schmales Gesicht erschien darunter. Hellblaue Augen, ein dünnes Bärtchen zierte das Kinn. Eine große Wunde über der Stirn blutete stark. Die blauen Augen sahen sie an und begannen zu tränen.

„Wie heißen Sie?“

„Thomas. Thomas Hayden“, flüsterten seine trockenen Lippen. Er atmete schwer.

„Okay, Thomas. Ein Krankenwagen ist unterwegs. Du bleibst ruhig liegen. Ich bleibe bei dir. Siehst du, ich halte deine Hand.“

Christine griff nach Thomas Haydens Hand und drückte sie sanft. An seiner anderen Hand ragte ein Stück Knochen aus einer stark blutenden Wunde. Ein offener Bruch. Auch sein Unterarm war offenbar gebrochen, jedenfalls lag er seltsam abgewinkelt im Schneematsch auf der Straße.

Martinshörner näherten sich. Der Streifenwagen ihrer Kollegen fuhr dem Krankenwagen voraus.

Während die Polizisten die Unfallstelle sicherten und Schaulustige hinter eine Absperrung mit Flatterband zurückdrängten, versorgten zwei Sanitäter und ein Notarzt Thomas Hayden.

Eine Sauerstoffmaske wurde angelegt, an einen schnell gelegten Zugang an seiner unverletzten Hand wurde eine Infusionsflasche angeschlossen. Sie bedeckten seinen Körper mit einer hauchdünnen Rettungsdecke und stopften sie vorsichtig unter ihm fest.

Nachdem die Erstversorgung des schwer verletzten Thomas Hayden abgeschlossen war und er auf eine Trage geschnallt im Krankenwagen verschwand, kümmerte sich der Notarzt um die verletzte Kommissarin.

Plötzlich stand Tanja Rieger neben ihnen.

„Können Sie Ihre Kollegin ins Krankenhaus fahren?“, fragte er, während er den geschwollenen Knöchel abtastete und Christine seine kurze Untersuchung mit geblähten Wangen und stoßweisen Atemzügen gerade noch ertrug. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn.

„Ja, natürlich.“

„Ich denke, es ist nichts gebrochen. Eine Verstauchung, möglicherweise ein Bänderabriss.“

Der Notarzt verabschiedete sich und stieg in den Krankenwagen. Der Wagen fuhr sofort los. Er war schon verschwunden, als Kommissarin Bernard auf ihre Kollegin gestützt den Dienstwagen erreichte.

Der Adrenalinspiegel in ihrem Blut war mittlerweile gesunken. Ungehindert tobte der Schmerz nun in ihrem Fußgelenk.

Als sie beim Einsteigen leicht den Türschweller berührte, wäre ihr beinahe schwarz vor Augen geworden.

‚Sei nicht so ein Jammerlappen‘, befahl sie sich, atmete mehrmals kräftig durch und zog die Beifahrertür zu.

Durch die Windschutzscheibe sah sie, dass der Fahrer des Paketdienstautos von den Kollegen der Streife befragt wurde. Dann stieg auch Tanja in den Wagen und sie fuhren los.

„Was ist mit dir? Bist du okay?“, erinnerte sich die Kommissarin an ihre umgerannte Kollegin.

„Ja, alles wieder gut. Mir tat nur für einen Moment mein Po furchtbar weh. Ich bin auf mein Steißbein gefallen.“

Am liebsten wäre sie einfach im Wagen sitzen geblieben. Dort war es warm und sie saß bequem. Ihr geschundenes Gelenk ruhte im Fußraum, und die eingenommene Körperhaltung hielt den Schmerz in Grenzen.

Doch schon erschienen zwei Sanitäter im Eingang des Krankenhauses und schoben einen Rollstuhl bis an die Beifahrertür. Einer öffnete die Tür und lächelte sie an.

„Aussteigen, Prinzessin“, scherzte er, und auf seinem Namensschild stand „Ludger“.

Christine vermutete, dass er ein freiwilliges soziales Jahr in dem Krankenhaus absolvierte. So fröhlich und entspannt waren die Berufssanitäter selten.

Ludger war groß und kräftig wie ein Bär, und als er sah, wie sehr sich die junge Frau bemühte, ihren Fuß aus dem Wagen zu bekommen, ohne damit irgendwo anzustoßen, beugte er sich in den Wagen, schob kurzerhand seinen Arm unter ihre Oberschenkel und den anderen an ihre Taille und hob sie einfach aus dem Sitz.

Über Ludgers unkonventionelle Art musste die Kommissarin unwillkürlich lächeln und legte unterstützend ihren Arm um seinen Nacken. Er tat, wovon er glaubte, es sei die beste Lösung. Ob es der Patientin gefiel oder nicht, darüber machte er sich noch keine Gedanken. Seine erfrischende Art im Umgang mit Patienten würde der Krankenhausalltag bald abschleifen. Dessen war sie sich sicher.

Aber nun genoss sie es erst mal, wie sanft er sie in den Rollstuhl setzte und sie damit in den Fahrstuhl und durch die Krankenhausgänge bugsierte.

Der Duft nach seinem Rasierwasser haftete an ihrem Jackenärmel.

„Ach du je!“, entfuhr es ihm, als er der jungen Kommissarin aus ihrer Jacke half und die Dienstwaffe bemerkte.

„Keine Sorge, ich erschieße damit ganz selten so nette Leute wie Sie“, scherzte sie mit einem Seitenblick auf Tanja. Die beiden lachten und Ludger klopfte an eine geschlossene Tür.

Nachdem die Ärztin und Tanja Rieger es mit vereinten Kräften geschafft hatten, den Fuß von Schuh und Socke zu befreien, tastete die Frau Doktor das Gelenk ab und schickte die beiden Polizistinnen in die Röntgenabteilung.

Ludger war auf dem Gang vor dem Behandlungszimmer nicht mehr zu sehen, also schob Tanja Rieger ihre Kollegin selbst durch die Gänge.

Anderthalb Stunden später ließ sich Christine Bernard wieder in den Beifahrersitz des BMWs plumpsen. Ihr Sprunggelenk war verstaucht. Nichts gebrochen. Keine Bänder gerissen. Das Gelenk war mit einem Verband und einer Schiene ruhig gestellt worden. Sie musste an Krücken gehen.

Auf der Fahrt zur Kriminaldirektion kam die Meldung über Funk, dass alle geflüchteten „Karnevalisten“ festgenommen worden waren. Auch „Schweinchen“. Er war nach der eingeleiteten Sofortfahndung einer Polizeistreife in die Arme gelaufen.

Christine fröstelte, sah hinaus in das schmutzige, nasse Grau und dachte wieder an Mauritius.

Sie hatte sich ihren letzten Arbeitstag anders gewünscht. Aber sie war auch froh, dass sie nicht ernsthaft verletzt war.

Die bedauernden Blicke ihrer Kollegen ertrug sie mit Fassung und erkundigte sich nach dem Gesundheitszustand von Thomas Hayden.

„Kritisch, aber stabil“, antwortete Hauptkommissar Torsten Kluge, nachdem er sich ausgiebig geräuspert hatte. „Mach dir keine Vorwürfe. Er wird schon durchkommen. Dich trifft jedenfalls keine Schuld.“

Mauritius

Von einem Handtuch bedeckt und von der Sonne beschienen ruhte ihr Fuß bereits ohne Bandage. Die Schwellung an ihrem Sprunggelenk hatte sich komplett zurückgebildet. Nicht zuletzt dank der Fürsorge eines jungen angestellten Physiotherapeuten in der Hotelanlage.

Jeden Morgen und jeden Abend rieb er das Fußgelenk seiner hübschen Patientin äußerst gewissenhaft mit einer abschwellend wirkenden Salbe ein und genoss die Behandlung offenbar mehr als sie. Er konnte seine Augen kaum von der attraktiven Deutschen lassen und warb jeden Tag erneut fast schon flehend für seine Dienste.

Dass selbst die Blutergüsse bereits nur noch in schwachen Farben unter der Haut zu erkennen waren, hielt ihn nicht davon ab, die schlanke Frau mit den klaren braunen Augen weiterhin wie eine Schwerverletzte zu umsorgen.

Christine Bernard lag auf ihrer Liege am Strand unter einem Sonnenschirm und beobachtete Torben durch die dunklen Gläser ihrer Sonnenbrille.

Er tobte in den Wellen und winkte ihr zu. Dann hatte ihn die Brandung überrascht und umgeworfen. Prustend tauchte er aus der Gischt wieder auf und johlte vor Vergnügen.

Seine Haut glänzte in einem hellen Braunton in der Sonne und dieser Anblick machte ihn noch anziehender für die junge Kommissarin.

Unübersehbar genoss Torben diesen ersten gemeinsamen Urlaub mit seiner Christine. Fürsorglich trug er sie jedes Mal von ihrer Liege über den Strand bis an den Spülsaum und wieder zurück. Immer in Sorge, sie könnte in dem feinen, weichen Sand umknicken und sich ihr geschwächtes Fußgelenk erneut verletzen.

Sie winkte ihm zurück, und er verließ das Wasser und rannte über den Strand zu ihr.

„Willst du nicht auch ins Wasser kommen?“, prustete er außer Atem und blinzelte sie gegen das Sonnenlicht an. „Es ist heute besonders herrlich.“

„So herrlich wie gestern? Und vorgestern? Und an den Tagen davor“, lachte sie und nahm ihre Sonnenbrille ab.

„Noch viel herrlicher“, rief er begeistert.

Sie streckte ihm ihre Arme entgegen.

„Wie könnte ich da widerstehen“, flötete sie und Torben beugte sich zu ihr hinunter, küsste sie und hob sie mühelos auf seine Arme.

Natürlich hätte sie längst selbst die wenigen Meter über den Strand gehen können. Aber sie genoss es, von ihm über den heißen Sand getragen zu werden und dabei seine kühle, feuchte Haut zu spüren.

Leidenschaftlich legte sie ihre Arme um seinen Nacken und schaute ihm in die Augen. Sie duftete nach der teuren Sonnencreme, die er ihr gekauft hatte. Winzige Partikel in der Creme glitzerten auf ihrer dunkel gebräunten Haut.

Christine trug einen neuen hellroten Bikini mit etwas zu üppigen Schaumstoffpolstern in den Körbchen. Doch Torben gefiel es und dem Physiotherapeuten offenbar auch.

Vorsichtig, wie eine wertvolle Statue, stellte Torben seine Christine im flachen Wasser ab. Wohltuend umschmeichelte das warme Meer ihre Beine. Noch ein paar Meter lief sie ins tiefere Wasser hinein und genoss den anbrandenden Ozean. Der Himmel war wolkenlos. Torben warf sich in eine große Welle.

Am Nachmittag gingen sie den Strand entlang. In der Nähe des Spülsaums. Dort war der Sand glatt und etwas fester. Christine hatte sich ein Handtuch um die Hüften gebunden. Es flatterte im lauen Seewind. Ihre langen dunklen Haare auch. Sie legte ihren Arm um Torbens Hüfte, zog ihn an sich und legte ihren Kopf an seine Schulter. Nach einer halben Stunde kehrten sie um und schlenderten zurück.

Das Büffet am frühen Abend war überwältigend. Meeresfrüchte, Obst und würzige Reisgerichte. Gegrilltes Fleisch und kühler exotischer Wein. Die großen Glastüren des Restaurants waren weit geöffnet. Sie saßen auf der angrenzenden Terrasse an einem kleinen Tisch etwas abseits unter Palmen.

Vor den Fenstern ihres Zimmers versank zu jeder Nacht ein überwältigender Sonnenuntergang im Meer und leitete eine berauschende Stimmung ein, der Christine und Torben nicht widerstehen konnten. Zur fernen Musik auf der Hotelterrasse lagen sie sich auf dem großen Bett in den Armen, zogen sich gegenseitig das Wenige aus, was sie am Körper trugen und gaben sich in diesen Wochen so oft wie noch nie in ihrem Leben zuvor ihrem Verlangen hin.

Wehmütig packten sie am Tag der Abreise ihre Koffer. Torben trug das Gepäck hinunter und Christine bezahlte an der Rezeption ihre Extras.

Es gab ein Problem beim Begleichen der Rechnung. Torben sah Christine mit der Hotelangestellten diskutieren und trat an ihre Seite.

„Torben, meine Kreditkarte funktioniert angeblich nicht.“

„Kein Problem. Wir nehmen meine.“

Lächelnd schob Torben seine Karte über den Tresen und bezahlte die Rechnung.

Der Hotel-Bus brachte sie zum Flughafen.

Die längste Zeit des Fünfzehn-Stunden-Fluges verschliefen sie. Gegen 22:00 Uhr landeten sie in LuxemburgAirport. Die Stadt lag im Schneeschauer bei minus drei Grad.