Für meine beiden wunderbaren Söhne,

die gut sind, wie sie sind,

und die ihren Weg schon machen werden,

wenn sie groß sind.

Und für alle anderen wunderbaren Söhne und Töchter.

ISBN 978-3-8251-6151-4 (epub)

Erschienen 2017 im Verlag Urachhaus

www.urachhaus.com

© 2017 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH

Umschlag und Innenillustrationen: Regina Kehn

Gestaltung und Satz: Ursula Weismann

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel, in dem Enno zeigt, wozu er fähig ist

2. Kapitel, in dem Enno sich in eine Ameise verwandelt

3. Kapitel, in dem Enno mit einer Würgeschlange kämpft und verloren geht

4. Kapitel, in dem Enno mit einer Schnecke um die Wette läuft

5. Kapitel, in dem Enno über Löwenzahn im Asphalt nachdenkt

6. Kapitel, in dem Enno auf seiner eigenen Beerdigung ist

7. Kapitel, in dem Enno einem Raubvogel das Mittagessen versaut

8. Kapitel, in dem Enno auf Elena zählen kann

9. Kapitel, in dem Enno Hilfe von Olsens Mama erhält, obwohl es am Anfang gar nicht danach aussieht

10. Kapitel, in dem Enno den Tauben zusieht

11. Kapitel, in dem Enno auf eine Party geht, zu der er gar nicht eingeladen ist

12. Kapitel, in dem Enno Post bekommt

Die Autorin/Die Illustratorin

Impressum

1. Kapitel,

in dem Enno zeigt, wozu er fähig ist

»Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es eigentlich ziemlich lustig«, sagt meine Schwester Elena und starrt auf den Frühstückstisch, als stünde dort das siebte Weltwunder.

Meine Mutter sieht nicht gerade so aus, als fände sie hier irgendetwas auch nur ansatzweise lustig. Nur um die Mundwinkel meines Vaters zuckt es – wenn man ganz genau hinsieht.

Während ich jetzt selbst auf den Frühstückstisch blicke, den ich an diesem Sonntagmorgen gedeckt habe, um meine Familie zu überraschen und ihr zu zeigen, wozu ich fähig bin, muss ich leider zugeben, dass Elena irgendwie recht hat.

Auf der Tischplatte türmen sich Bratwürste, die Mama heute zum Mittagessen machen wollte, ein Glas saure Gurken, ein Blumenkohl, der schon ziemlich schrumpelig aussieht, drei Pakete Butter, Mayonnaise und Ketchup, Senf, Hawaiisauce, getrocknete Tomaten, Pilze, einige braun gesprenkelte Bananen, eine angebrochene Dose Mais, ein Karton mit rohen Eiern und eine halb volle Flasche Weißwein neben Marmeladen- und Honiggläsern, Käse und Wurst. Na, immerhin, Essen ist genügend da. Dafür fehlen Teller, Tassen und Besteck.

Jetzt würde ich Mama, Papa und Elena gerne erklären, wie das passieren konnte, aber ich habe das komische Gefühl, dass meine Erklärungen die Sache auch nicht besser machen würden. Das war nämlich so: Ich bin früh aufgewacht, vor allen anderen, und habe mir überlegt, meiner Mutter eine Freude zu machen, indem ich den Frühstückstisch decke. Sie motzt nämlich ständig, dass sie das jedes Wochenende machen muss, obwohl sie doch auch arbeitet. Und außerdem sagt sie immer, dass sie sich Sorgen darüber macht, dass ich nichts auf die Reihe kriege, wenn ich mal groß bin und alleine zurechtkommen muss. Na ja, und da wollte ich ihr halt zeigen, dass ich sehr wohl alleine zurechtkomme und sie sich keine Sorgen um mich machen muss. Aber als ich dann anfing, den Tisch zu decken, musste ich auf einmal darüber nachdenken, warum das so ist, dass manche Menschen auf der Welt so viele Lebensmittel haben, dass sie sogar Sachen wegschmeißen, die man eigentlich noch essen könnte (das dachte ich, als ich den schrumpeligen Blumenkohl und die braunen Bananen in den Händen hielt), während andere wiederum verhungern müssen, und warum es so schwer ist, das irgendwie ein bisschen gerechter zu verteilen. Ich erinnerte mich daran, dass ich mit meiner Mutter schon mal darüber gesprochen habe und dass sie gesagt hat, das wäre nicht so einfach. Ich wollte wissen, was denn daran schwierig wäre, man müsse doch nur all die Lebensmittel in ein Flugzeug packen statt in den Mülleimer und sie dahin fliegen, wo sie gebraucht werden. Meine Mutter hat gelacht, mir durch die Haare gestrubbelt und gesagt, so ginge das nicht, und ich habe gefragt, warum das denn so nicht ginge, schließlich würden die Lebensmittel, Bananen zum Beispiel, ja auch mit dem Flugzeug zu uns gebracht. Aber meine Mutter sagte nur: Das verstehst du nicht. Und da hatte sie ausnahmsweise mal recht. Das verstehe ich wirklich nicht. Ja, und über all dieser Denkerei habe ich dann wohl vergessen, was ich eigentlich wollte, und einfach immer weiter alle Lebensmittel aus dem Kühlschrank geräumt und auf den Tisch gestellt. So was passiert mir leider manchmal.

Jetzt gucke ich also zusammen mit Mama, Papa und Elena auf den Frühstückstisch, der eigentlich kein Frühstückstisch ist, und fühle mich plötzlich ganz traurig und unbehaglich. Ich schäme mich, weil ich wieder mal was nicht auf die Reihe gekriegt habe. Und das ist ein ganz doofes Gefühl im Bauch und im Kopf und in der Brust und in den Beinen und Armen und eigentlich überall in mir drin.

»Das war sehr lieb von dir gemeint, Enno«, sagt meine Mutter, und an ihrer Stimme höre ich, dass sie eigentlich was anderes sagen möchte. »Aber jetzt muss ich die ganzen Sachen wieder zurück in den Kühlschrank räumen, und da decke ich das nächste Mal den Frühstückstisch besser wieder allein, da habe ich weniger Arbeit.« Und sie seufzt ganz schwer und ich schlucke, damit mir die Tränen nicht in die Augen schießen.

»Hast du nicht neulich erst gesagt, du müsstest mal wieder den Kühlschrank ausräumen und sauber machen?«, fragt mein Vater. »Das wäre doch eine gute Gelegenheit.« Die Augen meiner Mutter funkeln wütend. »Ja«, knurrt sie, »das habe ich gesagt, aber ich habe nicht gemeint, dass ich das am Sonntagmorgen vor dem ersten Kaffee und vor dem Frühstück machen will. Wenn du allerdings so große Lust dazu hast, dann halte ich dich bestimmt nicht auf.«

»Das kann ich doch machen!«, sage ich schnell, bevor mein Vater von den Blitzen aus den Augen meiner Mutter getroffen wird und tot umfällt. Aber Mama schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, und ich spüre, wie ich unter ihrem Blick mit einem Schlag um mindestens fünf Zentimeter schrumpfe.

»Lass mal, Enno«, sagt meine Mutter und wendet sich ab, damit ich ihr enttäuschtes Gesicht nicht sehen kann. »Ich wollte heute eigentlich nicht auch noch die ganze Küche renovieren.«

»Jetzt reicht es, Sabine«, sagt mein Vater. »Der Junge hat es doch nur gut gemeint.«

Meine Mutter nickt und fängt an, den Tisch abzuräumen. »Das stimmt, Jens«, sagt sie, und an mich gewandt (ohne mich dabei anzusehen): »Zieh dich doch bitte schon mal an, Enno. Du läufst ja noch im Schlafanzug rum.«

Ich versuche es ihr so schnell wie möglich recht zu machen, trete den Rückzug an und stoße dabei mit dem Arm gegen die Tischkante. Das tut weh, noch weher tut es aber, dass dabei die Ketchup-Flasche umfällt, die anscheinend nicht richtig zu war (bestimmt habe ich sie das letzte Mal benutzt), und ihren roten, klebrigen Inhalt auf die Tischplatte ergießt.

Jetzt lächelt meine Mutter dieses Lächeln, bei dem ich weiß, dass gleich ein Pulverfass hochgeht, wenn ich nicht aufpasse. »Sorry«, murmele ich und sehe zu, dass ich Land gewinne.

Als ich aus meinem Zimmer zurück ins Wohnzimmer komme, sitzen alle am Tisch und warten auf mich. Meine Mutter hat, während ich mich umgezogen habe, den Tisch hübsch gedeckt. Sogar ein Teelicht brennt, die Eier stehen in ihren Eierbechern – gekocht diesmal –, und alle lächeln mich verlegen an wie einen Fremden, der sich unverschämterweise ohne zu fragen unter sie mischt. Ich setze mich auf meinen Platz und lächle tapfer zurück, obwohl mir gar nicht danach zumute ist.

Meine Mutter will gerade ihr Ei aufschlagen, als Elena plötzlich in schrilles Quietschen ausbricht. Das tut sie manchmal, seit ihre Brüste gewachsen sind. Wir schauen sie alle überrascht an und meine Schwester deutet grinsend mit dem Zeigefinger auf mich. Ich schaue an mir hinunter, kann aber nichts Außergewöhnliches entdecken, bis meine Mutter sagt: »Also, Enno, ist es wirklich so schwer, einen Pullover richtig herum anzuziehen?«

Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt. »Nein, eigentlich nicht«, sage ich und springe auf, um den Pullover von links auf rechts zu drehen. Dabei stoße ich leider mein Glas Orangensaft um. Mein Gott, was bin ich doch für ein Idiot! Vor Schreck erstarre ich zur Eisstatue. Erst die Stimme meiner Mutter, die mich anblafft, ich solle doch vielleicht wenigstens die Freundlichkeit besitzen und die Küchenrolle holen, um die Sauerei wegzuwischen, die ich angerichtet habe, versetzt mich wieder in Aktion.

Als wir nach dem Saftaufwischen endlich alle am Tisch sitzen, fühle ich mich wie ein Außerirdischer. Ich scheine irgendwie auf einem fremden Planeten gelandet zu sein. Die Lebewesen hier sehen zwar genauso aus wie ich, aber sie ticken alle anders. Ich kenne die Regeln nicht, nach denen das Zusammenleben hier funktioniert. Und egal, wie viel Mühe ich mir gebe, ich mache doch nur alles falsch.

2. Kapitel,

in dem Enno sich in eine Ameise verwandelt

Ich habe die Jalousien vor dem Fenster runtergelassen. Jetzt ist es fast ganz dunkel im Zimmer und ich kann mir den Sternenhimmel anschauen, der über mir an der Decke kreist, während ich auf meinem Bett liege. Das Zimmerplanetarium, das ich zum elften Geburtstag bekommen habe, zaubert jedes Sternbild auf meine Zimmerdecke. Ich sehe mein Sternzeichen, den Wassermann.

Der Gedanke mit dem Außerirdischen ist gar nicht so schlecht. Vielleicht bin ich ja wirklich ein Alien und vor zigtausend Jahren bei einer Erdexpedition von meinen Leuten hier vergessen worden oder so. Ich habe irgendwo unbemerkt in einem Kokon gelegen, über den man ein Krankenhaus gebaut hat, und als meine Mutter (die dann natürlich gar nicht meine Mutter ist) ein Baby geboren hat, habe ich durch meine besonderen Fähigkeiten dafür gesorgt, dass dieses Baby verschwindet – vielleicht haben meine Kollegen vom anderen Stern es zu sich hochgebeamt, um es zu untersuchen –, und mich selbst an seine Stelle gelegt. Der wahre Enno Anders ist jetzt also irgendwo auf einem fernen Planeten und wundert sich. Vielleicht macht er das Gleiche durch wie ich und fühlt sich einfach fremd und anders. Das würde erklären, warum mir manches so unbegreiflich erscheint.

Oder das hier ist gar nicht die Erde, sondern ein ganz anderer Planet. Einer, den man auf der Erde noch gar nicht kennt, der noch nicht entdeckt worden ist. Vielleicht bin ich das hochgebeamte Baby …

Oder das hier ist doch die Erde und ich gehöre einfach zu einer anderen Spezies. Ich bin vielleicht gar kein Mensch. Immerhin ist die Erde für viele andere Lebewesen ein ganz anderer Ort als für Menschen. Wie wäre es denn zum Beispiel, ein ganz besonders großes Tier zu sein, ein Blauwal, der im Meer schwimmt. Oder ein Vogel, der durch die Lüfte fliegen kann. Oder ein ganz kleines Tier, eine Ameise, für die mein Zimmer hier so groß ist wie ein ganzes Sonnensystem oder wenigstens wie ein Planet. Wie fühlt sich wohl eine Ameise?

Ich spüre, wie ich kleiner und kleiner werde. Die Bettdecke ist ein riesiges Meer, und die Falten darin sind gigantische Wellen. Wenn ich in einem Wellental bin, kann ich nichts mehr von meiner Umgebung sehen, nur die nächste große Welle, die auf mich zukommt. Aber dafür bin ich so klein und leicht, dass ich fast überall hinkomme und mich in die kleinste Ritze quetschen kann. Ich kann mich unter der Matratze verstecken. Oder hinter dem Kleiderschrank.

Hinter dem Kleiderschrank ist es gar nicht so übel. Hier ist es kühl und dunkel, die Geräusche werden gedämpft. Ich fühle mich geborgen und sicher. Ein Ort der Stille und der Ruhe. Allerdings komme ich nicht so weit, wie ich gerne möchte, denn eine riesige Staubflocke liegt mir im Weg, die unüberwindbar zu sein scheint.

Jetzt höre ich doch etwas. Eine Stimme durchdringt die Stille.

»Enno?«

»Ich bin hier!«, antworte ich der Stimme meiner Mutter.

»Enno! Wo bist du?«

»Hinter dem Schrank!«, antworte ich so laut ich kann.

»ENNO! Antworte bitte, wenn ich dich rufe!«

»HINTER DEM SCHRANK!«, schreit die Ameise Enno. Aber die Stimme einer Ameise hört natürlich niemand. Nicht einmal, wenn sie schreit.

Dann steht meine Mutter im Türrahmen. »Verdammt, Enno, schläfst du? Ich habe dich tausendmal gerufen! Was machst du denn hier? Bist du krank?« Sie schreitet durch mein Zimmer, zieht mit einem Ruck die Jalousie hoch und legt ihre Hand prüfend auf meine Stirn, um zu sehen, ob ich Fieber habe.

Die Sterne verschwinden.

Ich öffne mühsam die Augen. »Wir müssen mal hinter dem Kleiderschrank den Staub wegmachen, Mama.«

»Wie kommst du denn jetzt darauf?«

Beinahe antworte ich, dass es für Ameisen dahinter sonst unmöglich ist, bis ans Ende des Weges zu gehen, weil Staubflocken ihnen den Durchgang versperren wie monströse Felsbrocken. Aber gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, wie meine Mutter immer guckt, wenn ich so etwas sage. Sie reißt dann ihre Augen weit auf und hält die Luft an. Ein bisschen so, als hätte sie Angst vor mir.

»Ach, nur so«, sage ich deswegen schnell.

Ein bisschen verwundert sieht meine Mutter jetzt trotzdem aus, aber sie sagt nichts, schaut mich nur eine Weile stumm und mit gerunzelter Stirn an. Dann räuspert sie sich und sagt: »Olsen hat angerufen. Er fragt, ob du rüberkommst.«

Besuchen Ameisen ihre Freunde?

Haben Ameisen überhaupt Freunde?

Als ich Olsens Zimmer betrete, sitzt mein Freund auf dem Fußboden vor seinem Bett und tut nichts. Jedenfalls nichts, was ich erkennen könnte. Er starrt einfach nur geradeaus gegen seine Wand, auf der eine Fliege entlangkrabbelt. Vielleicht überlegt er ja gerade, wie es wäre, eine Fliege zu sein?

In dieser Hinsicht sind Olsen und ich uns nämlich ziemlich ähnlich. Wir machen uns Gedanken über Dinge, über die andere ihr Leben lang nicht nachdenken. Vielleicht bin ich deshalb froh, dass Olsen mein Nachbar ist und nicht zum Beispiel Luca, der höchstens überlegt, wann das nächste Fußball-Training stattfindet oder wie er seine Mutter überreden kann, ihm neue Schienbeinschoner oder Torwarthandschuhe oder sonst was zu kaufen.

»Hi«, sage ich und setze mich neben Olsen.

Olsen wendet den Kopf und sieht mich an, als müsste er erst darüber nachdenken, wer ich bin und was ich hier will.

»Hi«, sagt er dann.

»Was machst du?«, frage ich.

»Nichts«, antwortet Olsen, als sei das das Normalste von der Welt. Also nicke ich einfach, als würde ich das verstehen. Verstehe ich ja auch irgendwie.

»Und du?«, will Olsen wissen.

»Ich denke darüber nach, ob sich Ameisen miteinander verabreden«, antworte ich. Das ist das Komische an Olsen. Ihm kann ich solche Sachen sagen, ohne Angst haben zu müssen, dass er mich für verrückt hält.

Tut er auch nicht. Er schaut mich ernst an und sagt dann nach einer Weile: »Ich glaube nicht. Die arbeiten doch immer, halten sich sogar andere Ameisen als Sklaven, die für sie arbeiten oder ihre Kinder großziehen. Die haben für nichts anderes Zeit.«

So ist das mit Olsen. Egal, was man ihn fragt, er weiß immer eine Antwort. Olsen ist nämlich besonders schlau. Trotzdem hat er außer mir keinen einzigen Freund, denn die anderen finden ihn alle bescheuert. Das liegt vielleicht daran, dass er in seiner Klasse der Jüngste ist. Olsen ist elf, also genauso alt wie ich, aber er geht schon in die siebte Klasse. Ich bin auch elf, gehe aber erst in die vierte Klasse. Ich bin jetzt vielleicht nicht gerade der Held in meiner Klasse (den Job macht schon Luca), aber immerhin bin ich der Größte, Stärkste und Älteste, und deswegen lassen mich die anderen meistens in Ruhe. Bei Olsen ist das anders. Er ist der Kleinste und der Jüngste, aber Klassenbester, und das finden die anderen eben ziemlich doof.

Deswegen tut mir Olsen auch manchmal leid. Andererseits beneide ich ihn darum, dass seine Mama ihn dafür umso mehr lieb hat und ihn ganz toll findet, weil er eben so viel klüger ist als die anderen. Olsen ist halt nicht nur anders, so wie ich, er ist was Besonderes (im Gegensatz zu mir, denn ich bin nur anders, aber nicht besonders). Olsens Mama hält immer zu ihm und sagt ihm, dass er richtig ist, so wie er ist, und dass die anderen das nur nicht verstehen, weil sie nicht so klug sind wie er. Und dass er seinen Weg schon machen wird, wenn er groß ist. Und genau das sagt meine Mama nie zu mir, dass ich meinen Weg schon machen werde, wenn ich groß bin. Meine Mama sagt immer: »Ach, Enno, was soll nur aus dir werden, wenn du groß bist?« Und dann schüttelt sie sorgenvoll den Kopf.

Ich stehe auf und gehe zu Olsens Schreibtisch, auf dem ein dicker Stapel Papier mit irgendwelchen total kompliziert aussehenden Rechenformeln liegt. »Was ist das?«, frage ich. »Berechnest du wieder irgendwas? Zum Beispiel wie viel Milliarden Blätter Papier man aus allen Bäumen dieser Erde herstellen könnte? Ich weiß nämlich nicht, ob das so wahnsinnig wichtig ist, dass du deswegen schon mal ungefähr fünfzigtausend Bäume verplemperst.«

Olsen grinst. »Das sind nur meine Hausaufgaben.«

Ich reiße Mund und Augen auf. »Das sind deine Hausaufgaben? Alter Schwede! Und ich dachte schon, du wolltest mal wieder irgendeinen Preis gewinnen.« Ich lege die Blätter angewidert zurück. »Ich glaube, dann bleibe ich lieber für immer in der vierten Klasse.«