Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Dit ljuset inte når bei Bonnier Carlsen Bokförlag, Stockholm.

Die Übersetzung dieses Buches wurde durch die freundlich gewährte Förderung des Swedish Arts Council unterstützt.

ISBN 978-3-8251-6159-0 (epub)

Erschienen 2017 im Verlag Urachhaus

www.urachhaus.com

© 2017 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart

© Text: Annika Thor 2015

© Umschlaggestaltung: Bianca Bonfert

© Umschlagillustration: Ann_Mei/istock photo

Die Veröffentlichung in deutscher Sprache wurde mit Bonnier Rights, Stockholm, vereinbart.

Gesamtherstellung: CPI books GmbH, Leck

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

INHALT

Erstes Kapitel - DIE FLUCHT

Zweites Kapitel - DER ENGEL

Drittes Kapitel - DIE THEATERTRUPPE

Viertes Kapitel - DER OFFIZIER

Fünftes Kapitel - DIE KARTEN

Sechstes Kapitel - DER JUNGE

Siebtes Kapitel - DAS MÄDCHEN

Achtes Kapitel - DIE MÜTZE

Neuntes Kapitel - DER BRAND

Zehntes Kapitel - DIE BEERDIGUNG

Elftes Kapitel - DIE ABREISE

Zwölftes Kapitel - EIN ZUHAUSE

EPILOG

ÜBER DIE AUTORIN

IMPRESSUM

Erstes Kapitel

DIE FLUCHT

»Los, Johan! Klettern!«

Sie standen unter mir um den Baumstamm herum, eine eifrige Schar von etwa zehn Jungen in meinem Alter und auch älter.

»Klettern! Na, was ist?!«

Ich hatte es ein paar Meter in den Baum hinauf geschafft, von Ast zu Ast. Aber bis zu meiner Mütze, die dort oben baumelte, war es noch einmal so weit.

Der Anführer, einer der älteren Jungen, Frettchen genannt, weil er mit seiner blassen Haut, seinen weißen Augenbrauen und den rötlichen Augen an einen weißen Iltis erinnerte, hetzte mich weiter.

»Die Mütze, Johan! Willst du deine Mütze nicht holen?« Zögernd richtete ich mich auf, griff nach dem Ast über mir und hievte mich nach oben. Gleich würde alles Gewicht an meinen Armen hängen. Ich spürte, wie die Rinde mir die Haut am Bauch aufschrammte, als mein Hemd hochglitt.

»Klettern, Johan! Traust du dich etwa nicht?«

Meine Füße ließen den Ast los, auf dem ich gestanden hatte, jetzt trugen nur noch die Arme mein ganzes Gewicht. Ich zog das eine Bein hoch und versuchte, mich mit dem Knie auf den nächsten Ast zu stützen, reichte aber nicht ganz hinauf.

»Höher! Klettern!«

Mit aller Kraft zog ich mich nach oben und hob gleichzeitig das Bein, spürte den rauen Ast an meinem bloßen Knie, verlor das Gleichgewicht und fiel kopfüber hinunter auf den Kies. Ringsum höhnisches Gelächter.

»Nicht einmal halbwegs geschafft!«

Jetzt hatten sie ihren Spaß gehabt, genau das bekommen, was sie wollten. Ich blieb auf dem Kies liegen und hörte, wie sie davonzogen. Als sie verschwunden waren, setzte ich mich auf und befühlte Arme und Gelenke. Nichts schien gebrochen zu sein, keines der Fußgelenke verstaucht. Schürfwunden an den Knien, Ellbogen und Händen, doch das war ich ja gewohnt.

Nach dem Mittagessen, bevor unsere Nachmittagsarbeit anfing, hatten wir Kinder immer eine Stunde frei, um auf dem kiesbedeckten Hof vor dem Waisenhaus zu spielen. In den Spielen der Jungen ging es stets darum, wer am schnellsten rennen, am höchsten klettern und sich als Stärkster behaupten konnte. Sie machten Ringkämpfe, im Winter seiften sie einander mit Schnee ein. Mit hölzernen Stöcken, die als Schwerter dienten, spielten sie Krieg, oder sie wetteiferten, wer sich am höchsten in den großen Baum hinauftraute. Der Baum wuchs direkt neben dem Bretterzaun, der den Hof des Waisenhauses einfasste. Von dort oben konnte man die Welt außerhalb sehen, die wir sonst nur sonntags flüchtig wahrnahmen, wenn wir in Reih und Glied zur Kirche marschierten und nach dem Gottesdienst wieder zurück.

Mir selbst wurde beim Klettern schwindelig. Ich war klein und dünn für mein Alter und wurde bei allen Ringkämpfen regelmäßig besiegt. Rennen konnte ich recht schnell, aber nicht schnell genug, um nicht von Jungen mit längeren Beinen eingeholt zu werden. Es gab viele, die mir gern einen extra kräftigen Schlag mit dem Holzstock verpassten oder den Schneeball mit Kies vermischten, der das Gesicht aufkratzte. Nasenbluten und blaue Flecken waren der Preis, den ich zu zahlen hatte, weil ich zu den auserwählten Jungen gehörte, die, statt vormittags zu arbeiten, meinten, mit ihren Schulbüchern und ihren Rechenaufgaben angeben zu können. Meine Mütze hing immer noch im Baum. Ich war nicht derjenige, der sie dort hinaufgeworfen hatte, aber ich würde die Schuld dafür bekommen und bestraft werden, weil ich unachtsam mit dem Eigentum des Waisenhauses umgegangen war. Eine Tracht Prügel. Kein Abendessen. Alleine schlafen, und zwar in der dunklen Abstellkammer, wo die Scheuereimer und Bürsten aufbewahrt wurden.

Vielleicht sollte ich es mit einem Stein versuchen? Wenn ich genau träfe, würde die Mütze sich vom Zweig lösen und herunterfallen.

Ich musste eine Weile suchen, bis ich einen Stein fand, der die richtige Größe hatte. Ich war so in die Suche vertieft, dass ich nicht merkte, wie die anderen Kinder sich paarweise oder in Gruppen auf den Eingang zubewegten. Mit dem Stein in der Hand ging ich zum Baum zurück, stellte mich schräg darunter und versuchte den Wurfwinkel zu berechnen. Das könnte klappen.

Im selben Augenblick, als ich den Stein losschleuderte, packte mich jemand am Arm. Die Wurfrichtung wurde verfälscht, und statt in die Baumkrone zu fliegen, fiel der Stein in einem krummen Bogen über den Zaun. Ich hörte ihn dumpf auf der Straße aufschlagen.

»Was fällt dir ein, Steine zu werfen, du Lümmel!«

Vor Wut war der Lehrer rot im Gesicht. Sein Griff um meinen Arm wurde härter. Eine Ohrfeige landete brennend auf meiner Wange. Mein linkes Ohr war plötzlich wie taub.

»Ausgerechnet du! Wo du mehr im Kopf hast als der Rest der hiesigen Schlingel zusammen. Und was hast du überhaupt hier draußen verloren, die Pausenglocke hat doch schon geläutet? Du solltest jetzt im Spinnsaal sein.«

Es hatte keinen Sinn, etwas zu erklären. Der Lehrer würde mir nicht glauben, und wenn es zu den anderen Jungen durchsickerte, dass ich gepetzt hatte, würden sie mich am nächsten Tag verprügeln.

»Ich habe die Glocke nicht gehört«, war alles, was ich herausbrachte. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung.«

»Steine über den Zaun werfen! Wenn jemand den an den Kopf bekommen hätte!«

Der Lehrer brummte und schimpfte weiter, während er mich zum Eingang zerrte, mit unverändert hartem Griff um meinen Arm.

»Rauf mit dir! Jetzt mach, dass du davonkommst!«

Ich erhielt einen unsanften Stoß in Richtung Treppe und rannte nach oben, an dem Stockwerk vorbei, wo die Schlafsäle sich befanden, und weiter hinauf ins Dachgeschoss. Die Tür zum Spinnsaal war wie immer zu und abgeschlossen. Ich musste fest klopfen, bis die Spinnmeisterin aufmachte.

»Wo bist du gewesen? Die anderen haben schon längst mit der Arbeit angefangen!«

Zwei Stockhiebe trafen meinen Rücken. Die Schläge schmerzten, im linken Ohr hörte ich immer noch ein dumpfes Klopfen, und meine Wange fühlte sich empfindlich und geschwollen an. Ich hastete zu meinem Spinnrad, nahm einen gekardeten Wollbüschel und begann zu arbeiten. Das Garn lief durch meine Finger, während ich taktfest das Pedal trat und nicht daran zu denken versuchte, was nach dem Ende des Arbeitstages auf mich zukam. Frettchen und einer seiner Kumpane, die unmittelbar vor mir saßen, drehten sich um und grinsten boshaft, während sie mir mit Gesten und Mienen deutlich machten, was mich erwartete: noch mehr Prügel, wenn der Direktor des Waisenhauses entdeckte, dass die Mütze fehlte. Das heißt, falls ich nicht erzählte, wie alles sich abgespielt hatte, doch dann würden Frettchen und die anderen mich verprügeln, weil ich gepetzt hatte.

Als die Glocke zum Abendessen läutete, kam die Spinnmeisterin an meinen Platz und musterte das gesponnene Garn.

»Das ist ungleichmäßig«, sagte sie.

Ich selbst konnte keine Fehler am Garn erkennen, aber es lohnte sich nicht zu widersprechen.

»Erst kommst du zu spät, und dann arbeitest du auch noch schlampig. So was können wir nicht dulden. Dieses Garn hier muss noch einmal gezwirbelt werden, und das hier auch.«

»Das mache ich morgen«, flüsterte ich.

»Morgen? Oh nein, mein Lieber, das machst du jetzt. Du bleibst hier und arbeitest, bis es dunkel wird. Dann kannst du auf einem der Wollsäcke schlafen, ich habe nämlich anderes zu tun, als herzukommen und dich herauszulassen.«

Nachdem die anderen Kinder mit ihren Holzschuhen die Treppe hinuntergepoltert waren, lag der Spinnsaal einsam und verlassen da. Das Licht des Frühlingsabends genügte, um arbeiten zu können, aber in den Ecken lauerten dunkle Schatten. Die Spinnmeisterin hatte die Tür abgeschlossen, vor dem nächsten Morgen würde mich niemand herauslassen. So blieb mir wenigstens erspart, an diesem Tag noch mehr Prügel einstecken zu müssen.

Ich arbeitete, solange es hell genug war. Im Takt mit dem surrenden Spinnrad und dem Treten des Fußes dachte ich immer wieder nur das eine:

Ich muss fort. Fort von hier. Muss fort. Fort von hier. Fort, fort von hier!

An die Zeit vor dem Waisenhaus konnte ich mich nicht erinnern. Ich war ja noch so klein gewesen, kaum zwei Jahre alt, als ich dorthin kam. Als der Waisenhausdirektor den kleinen Jungen damals nach seinem Namen gefragt hatte, konnte der Junge nicht antworten. Vielleicht hatte er seinen Namen vergessen, oder er hatte nie gewusst, dass er einen Namen hatte. Die unbekannte Person, die das Kind in einer Oktobernacht vor dem Tor zurückgelassen hatte, gab sich nicht zu erkennen und hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Zettel mit dem Namen des Kindes an das schmutzige Jäckchen zu heften. Ins Register wurde ich als Johan Herbst eingetragen, nach der Jahreszeit, in der ich angekommen war.

Zehn Jahre später war ich elf Jahre alt, bald zwölf, eines von ungefähr hundert blassen, ewig verschnupften Waisenhauskindern in abgetragenen graubraunen Kitteln und klappernden Holzschuhen.

Wenn ich morgens in dem Bett aufwachte, das ich mit einem anderen Jungen teilte, und mich in dem großen Schlafsaal umsah, war es manchmal, als hätte ich vergessen, wer ich war. Ich hätte irgendeiner von all diesen Jungen sein können, die ihre Füße widerwillig auf den kalten Fußboden stellten und anfingen, Hosen, Hemden und Kittel anzuziehen.

Mit unseren kurz geschorenen Haaren sahen wir alle gleich aus, ein Fremder hätte uns kaum voneinander unterscheiden können.

Die Haare wurden so kurz geschoren, um den Läusen leichter beizukommen, die Mädchen dagegen durften ihre langen Haare behalten, allerdings streng gescheitelt und geflochten. Durch die dünne Bretterwand, die den Schlafsaal der Jungen von dem der Mädchen trennte, war immer wieder Schluchzen und Geschrei zu hören, wenn die älteren Mädchen die Haare der Jüngeren unsanft auskämmten und beim Flechten so straff anzogen, dass Stirn- und Nackenhaut schmerzten.

Wenigstens diese Plage blieb uns, mir und den anderen Jungen, erspart. Wir wuschen nur hastig Gesicht und Hals mit dem eiskalten Waschwasser. Dann strömten wir aus dem Saal zur Treppe, wo der graue Fluss aus dem Saal der Jungen sich mit dem ebenso grauen Fluss aus dem Saal der Mädchen vermischte.

Verfroren, hungrig und müde drängten wir Kinder uns in den Bänken, um der Morgenandacht zu lauschen. Danach bekamen wir endlich einen Schöpflöffel Grütze und ein Stück Brot, bevor es Zeit für die Schule oder die Arbeit war. Die Jungen, denen das Lernen leichtzufallen schien, erhielten von den Lehrern des Waisenhauses Unterricht, während die anderen Kinder verschiedene Aufgaben im Haus und im Freien verrichteten. Ich war einer der Glücklichen, die lesen, schreiben und rechnen lernen durften. Dass Mädchen etwas anderes als kochen, waschen und nähen lernen könnten, war vollkommen unvorstellbar.

Als ich im Lesebuch die Beschreibungen von Städten, Dörfern, Ebenen und Wäldern las, begriff ich, dass es eine Welt außerhalb des Waisenhauses gab, eine Welt, die ich noch nicht kannte, aber die ich eines Tages kennenlernen würde. Nachmittags dagegen, wenn ich und die anderen älteren Jungen in der Spinnerei saßen und uns mit der Wolle abmühten, die zu Garn gesponnen werden sollte, sagte ich mir, dass ich nie von dort wegkommen würde. Oder wenn, dann nur, um an einem ähnlichen Ort wieder zum Arbeiten eingesperrt und, falls ich nicht fleißig genug wäre, geschlagen zu werden. Das Waisenhaus war meine Welt, es gab kein Davor, kein Danach und kein Anderswo.

Ich schlief unruhig, obwohl der Wollsack, auf dem ich mich zusammengerollt hatte, weicher war als mein Bett unten im Schlafsaal und ich einen leeren Sack gefunden hatte, mit dem ich mich zudecken und gegen die nächtliche Kälte schützen konnte. In den Winkeln des Dachbodens bewegten sich seltsame Schatten, die Holzdielen knarrten, obwohl niemand sie betrat, draußen stieß eine Eule ihren unheimlichen Ruf aus. Die Einsamkeit ängstigte mich, ich war es ja gewohnt, den warmen Körper eines anderen neben mir zu spüren und ringsum die Geräusche vieler schlafender Jungen zu hören. Immer wieder wachte ich mit einem Ruck auf und musste mir in Erinnerung rufen, wo ich mich befand. Und jedes Mal, wenn ich aufwachte, war der Gedanke da: Fort, fort von hier!

Im Laufe der Jahre, die ich im Waisenhaus verbracht hatte, war es natürlich manchmal vorgekommen, dass Jungen ausgerissen waren, ein seltenes Mal auch eines der älteren Mädchen. Beinahe alle waren innerhalb weniger Tage oder Wochen wieder da gewesen, zurückgeschleppt von einem der grau gekleideten Ordnungshüter der Stadt. Die Bestrafung war hart genug ausgefallen, um die meisten von ihnen davon abzuhalten, es noch einmal zu versuchen, aber ich erinnerte mich an einen Jungen, der drei Fluchtversuche gemacht und es schließlich geschafft hatte. Und das eine Mädchen, das ausgerissen war, von dem hatten wir nie wieder etwas gesehen.

War es vielleicht für Mädchen einfacher, unentdeckt zu bleiben? Waren Jungen aus dem Waisenhaus leichter zu erkennen, und das nicht nur wegen der geschorenen Haare?

Und was wäre, wenn der Direktor bei der Polizei anzeigte, ein Junge sei ausgerissen, es dann aber gar keinen Jungen gäbe, den man finden konnte? Was dann?

Es dauerte ein paar Tage, bis ich alles geplant hatte. So vieles musste bedacht werden. Die Kleider. Die Haare. Genügend Proviant für die ersten Tage, damit ich nicht betteln musste und dadurch Aufmerksamkeit auf mich lenkte.

Als Verkleidung brauchte ich einen Rock, eine Mädchenbluse und – das Wichtigste von allem – ein Kopftuch, das ich mir um den Kopf binden konnte, um meinen kahlen Schädel zu verbergen. Sollte jemand dennoch bemerken, dass ich keine Haare hatte, würde ich sagen, ich hätte ein schlimmes Fieber gehabt, und dabei seien mir die Haare ausgefallen.

Am einfachsten wäre es natürlich gewesen, kurz bevor ich mich davonmachte nachts in den Schlafsaal der Mädchen zu schleichen und die Kleidungsstücke, die ich brauchte, zu stehlen. Aber wenn ich einem der Mädchen die Kleider wegnähme, würde das am nächsten Morgen entdeckt werden, gleichzeitig mit meiner Flucht. Dann könnte der Waisenhausdirektor eins und eins zusammenzählen und sich denken, dass der Ausreißer als Mädchen verkleidet war, und in dem Fall hätte die Verkleidung überhaupt keinen Sinn gehabt.

Ich musste mich gedulden, bis es Zeit für die große Wäsche war. Das kam nicht oft vor, ein Mal im Monat vielleicht oder noch seltener. Aber dem Gestank meiner eigenen Kleider nach zu urteilen, müsste es bald so weit sein.

Die Wäsche war Aufgabe der großen Mädchen, überwacht wurden sie dabei von einer der Frauen, die im Waisenhaus arbeiteten. Die Kleider, die groben Leintücher und Handtücher wurden in der Waschküche, einem Schuppen in einer Ecke des Hofes, mit Lauge gekocht, danach wurden die Sachen in großen Bottichen vor dem Schuppen mit kaltem Wasser ausgespült und an Leinen aufgehängt, welche die Mädchen zwischen Pfosten aufspannten. Das hatte ich schon oft beobachtet, und ich wusste, dass die Wäsche zum Trocknen meist über Nacht hängen bleiben durfte.

»Ist jetzt bald wieder große Wäsche?«, fragte ich eines der Mädchen, das nach dem Abendessen den Tisch abräumte.

»Was geht dich das an?«, versetzte sie ärgerlich.

Doch dann schien sie ihre Patzigkeit zu bereuen und sagte:

»Übermorgen, wenn du es unbedingt wissen musst.«

Also hatte ich nur zwei Tage Zeit, um Brot zu horten. Morgens ein kleines Stück und abends eins. Zu dumm, dass ich das Brotstück, das es zum Abendessen gegeben hatte, schon aufgegessen hatte. Jetzt mussten vier Stück Brot genügen. Mehr als ein Stück pro Tag brauchte ich nicht, und innerhalb von vier Tagen wäre ich schon weit weg.

Meine eigenen Jungenkleider würde ich mitnehmen, und wenn ich die Stadt, in der das Waisenhaus lag, weit genug hinter mir gelassen hätte, würde ich Kittel und Hose anziehen und wieder ein Junge werden. Irgendeine Art von Arbeit würde ich wohl finden, auf einem Bauernhof oder bei einem Handwerker, der einen Gehilfen brauchte. Oder in einer Wollspinnerei, denn spinnen konnte ich ja bereits.

Das würde schon irgendwie klappen. Oder nicht? Schlimmer als im Waisenhaus könnte ich es ohnehin nicht treffen, sagte ich mir. Und jetzt hatte ich mich jedenfalls entschieden.

Im Schulsaal sah ich durchs Fenster, wie die Mädchen jeweils zu zweit die schweren Körbe mit dampfender, nasser Wäsche zu den Spülbottichen vor der Waschküche hinaustrugen. Diese letzten Tage hatte ich die Mädchen beobachtet – wie sie sich bewegten, wie sie die Röcke anhoben, um über ein Hindernis zu steigen, wie sie ihre Kopftücher unterm Kinn oder im Nacken zubanden. All das musste ich wissen, um meine Rolle spielen zu können, ohne mich zu verraten.

Es war ein sonniger Vormittag. Hoffentlich bedeutete das nicht, dass die Wäsche im Laufe des Tages trocknen und bereits am Abend abgehängt würde. Mein Plan baute ja darauf, dass sie über Nacht hängen blieb.

Aber als ich das nächste Mal hinaussah und beobachtete, wie die Mädchen Blusen, Hemden und Röcke aufhängten, war der Himmel bedeckt, und es fielen sogar ein paar Regentropfen. Das beruhigte mich.

Ich hatte angenommen, ich würde an diesem Tag, der, wenn alles gutging, mein letzter im Waisenhaus werden sollte, vor Aufregung am ganzen Leib zittern. Doch stattdessen schien sich jetzt, kurz bevor ich meinen Beschluss ausführen würde, die Angst aufzulösen, die ich bisher empfunden hatte. Als hätte ich alle Ängste verbraucht, indem ich den Fluchtverlauf immer wieder in der Fantasie durchgegangen war, sodass ich jetzt meinen Plan Schritt für Schritt würde ausführen können, ohne mir irgendwelche Sorgen zu machen.

Der Tag verging, als wäre er einer der vielen Werktage in meinem Waisenhausdasein. Vormittags Schule, dann Mittagessen und die Spielstunde auf dem Hof, am Nachmittag die langweilige Arbeit am Spinnrad, danach das Abendessen, bei dem ich ein letztes Stück Brot in der Hosentasche verschwinden ließ, und das Abendgebet mit einer Lesung aus der Bibel.

Schließlich war endlich Schlafenszeit. Ich kroch ins Bett, wo ich Kopf an Fuß neben meinem Schlafgefährten lag, zog die zerschlissene Decke über mich, schloss die Augen und stellte mich schlafend. Ich würde mindestens eine Stunde warten müssen, bis alle anderen sicher eingeschlafen wären, und hatte vor allem befürchtet, selbst auch einzuschlafen. Aber als ich jetzt so im Bett dalag, war ich hellwach. Ich spürte meinen Herzschlag, und meine Muskeln zuckten, als befände sich mein Körper bereits auf der Flucht und nur mein Wille hielte mich noch im Bett zurück.

Jetzt, Ende des Frühjahrs, wurde es draußen nicht einmal spätabends richtig dunkel. Das war einerseits gut, andererseits aber auch schlecht. Gut, weil es mir schwergefallen wäre, mein Vorhaben in völliger Dunkelheit auszuführen. Schlecht, weil die Gefahr bestand, dass der Direktor, dessen Wohnung auf die eine Giebelseite hinausging, oder eine der angestellten Frauen, die in den Zimmern neben der Küche wohnten, mich draußen auf dem Hof sehen könnten.

Doch warum hätten sie das tun sollen? Inzwischen schliefen sie bestimmt auch wie alle anderen.

Als sämtliche Geräusche bis auf das Seufzen und Schnaufen der Schläfer im Schlafsaal verstummt waren, schlüpfte ich aus dem Bett und schlich mich davon. Die Bodendielen knarrten, aber niemand richtete sich auf, um festzustellen, wer da unterwegs war. Nachts musste ja meistens jemand irgendwann aufstehen – der Pinkeleimer, der in der Ecke stand, war morgens fast immer voll.

Raus zur Tür, die Treppe runter. Meine Hosen, das Hemd und den Kittel hielt ich in der einen Hand, die Holzschuhe in der anderen. Vor der Eingangstür blieb ich stehen, klinkte sie auf und schlich ins Freie.

Der Kies auf dem Hof schmerzte unter meinen bloßen Füßen, aber ich traute mich nicht, die Holzschuhe anzuziehen. Obwohl ich mich so vorsichtig wie möglich bewegte, knirschten die Steinchen trotzdem bei jedem Schritt. Endlich war ich bei den Wäscheleinen angelangt. Ich wählte einen Rock und eine Bluse aus, die groß genug zu sein schienen. Ein ausgeblichenes Kopftuch, und dann noch ein zerschlissenes Leintuch, das ich als Bündel verwenden wollte.

Jetzt wartete die größte Schwierigkeit auf mich: aus dem Hof herauszukommen, der ja von einem hohen Bretterzaun eingefasst war. An den glatten Brettern hochzuklettern war unmöglich, und das Tor war wie immer abgesperrt und nachts noch durch ein großes Vorhängeschloss gesichert. Es gab nur einen einzigen Weg nach draußen: rauf auf den Kletterbaum, und von dort mit einem Sprung hinüber auf die andere Seite des Zauns.

Ich zog die Bluse an und band mir das Kopftuch um den Kopf, wie ich es den Mädchen abgeschaut hatte. Den Rock legte ich mit meinen eigenen Kleidern in das Bündel. Es war schwierig genug, mit Hosen in den Baum hinaufzuklettern; mit dem weiten Rock um die Beine wäre es unmöglich gewesen.

Als ich unter dem Baum stand und nach oben schaute, verließ mich der Mut. Wie sollte ich, der ich bisher nie weiter als bis zu den untersten Ästen gelangt war, es schaffen, hoch genug zu klettern, um über den Zaun zu gelangen, obendrein mit einem Bündel belastet? Ganz oben baumelte immer noch meine Mütze als Erinnerung an mein Unvermögen.

Ich hängte mir das Bündel wie einen Rucksack um und verknotete die Stoffenden fest über der Brust. Ein paar Sekunden lang sah ich die Holzschuhe unentschlossen an, dann beschloss ich, sie zurückzulassen. Es war ja beinahe Sommer, ich würde ohne Schuhe zurechtkommen. Übrigens würden die groben Holzschuhe mich vielleicht als ein Kind aus dem Waisenhaus kenntlich machen, ich wusste ja nicht, ob andere Kinder auch diese Art Fußbekleidung trugen.

Die ersten Äste gingen gut. Jetzt war ich genauso hoch oben wie damals, als ich nach meiner Mütze hinaufgeklettert war. Es war der nächste Ast, der mich zu Fall gebracht hatte.

Ich durfte nicht fallen, nicht jetzt, nicht auf diese Seite des Zauns.

Im selben Augenblick, als ich mich aufrichtete und nach dem Ast griff, hörte ich oben im Baumwipfel einen Kuckuck rufen. Es war, als wollte er mir Mut machen. »Komm, komm, und flieg davon, so wie ich!«

Kurz entschlossen zog ich mich auf den Ast hinauf und fand ein gutes Stück über dem Zaun Halt für die Füße. »Komm, komm«, rief der Kuckuck, dann flog er in die Richtung davon, wo der Himmel noch am hellsten war. Kuckuck im Westen lenkt alles zum Besten, dachte ich, schloss die Augen und sprang.

Zweites Kapitel

DER ENGEL

Die schmale Gasse vor dem Waisenhaus war nicht gepflastert, daher landete ich ziemlich weich, ohne mich zu verletzen. Rasch sah ich mich um: kein Mensch in Sichtweite. Das Waisenhaus lag an einer Nebenstraße am Rande der Stadt, wo kaum jemand spätabends etwas zu erledigen hatte.

Ich löste das Bündel vom Rücken, holte den Rock heraus und streifte ihn mir über. Es war ein eigenartiges Gefühl, statt einer Hose, die den Bewegungen der Beine folgte, den losen Stoff um die Waden flattern zu haben. Ob ich mich im Laufe der wenigen Tage, in denen ich den Rock als Verkleidung verwenden wollte, wohl daran gewöhnen würde?

Mit dem Bündel in der Hand begann ich in Richtung Kirche zu gehen, nicht, weil ich einen bestimmten Plan hatte, sondern weil es mir sicherer erschien, einem Weg zu folgen, der mir vertraut war. Die einzigen Lebewesen, die ich sah, waren ein schmutziger Hund, der nach Futter zu suchen schien, und eine dicke Ratte, die unmittelbar vor meinen Füßen über die Straße huschte. Hinter der Kirche nahm die Bebauung zu. Kleine, schiefe Häuser standen dicht zusammen, als würden sie sich stützend aneinanderlehnen. Ab und zu hörte ich jetzt Stimmen, Rufe und Gelächter, aber es dauerte noch etwas, bevor ich die ersten Menschen sah: drei Männer, die an einer Straßenecke standen und abwechselnd aus einer Flasche tranken, die sie herumreichten.

Ich sah sie, bevor sie mich erblickt hatten. Zuerst wollte ich einen Umweg machen, um ihnen auszuweichen, doch dann sagte ich mir, früher oder später würde ich ohnehin meine Rolle als Mädchen spielen müssen, und da könnten diese drei Männer genauso gut meine ersten Gegenspieler werden.

»Hallo, Kleine!«, rief der Größte und Kräftigste der drei, als ich näher gekommen war. »Komm her, dann kriegst du einen Schluck und obendrein ein bisschen Spaß!«

Der Große streckte die Hand aus, packte mich am Arm und zog mich an sich. Ich stemmte mich dagegen, konnte mich aber nicht aus seinem Griff befreien. Mit der einen Hand hielt der Mann mich an sich gepresst, mit der anderen bog er meinen Kopf nach hinten, damit mein Gesicht nach oben gewandt wurde. Ein großer, nach Branntwein stinkender Mund näherte sich meinen Lippen, die ich so fest zukniff, wie es nur ging, während ich gleichzeitig aus Leibeskräften zappelte, um mich zu befreien.

»Lass sie in Ruhe«, sagte einer der anderen. »Ist doch nur ein Kind, siehst du das denn nicht?«

Der Mann, der mich festhielt, zog seinen Kopf zurück, musterte mich und schnaubte. Dann ließ er mich los und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.

»An der ist nicht viel dran, womit man sich amüsieren könnte«, lachte der Dritte.

»Lauf heim zu deiner Mutter«, sagte derjenige, der mich Kind genannt hatte. »Kleine Mädchen wie du sollten so spät abends nicht alleine unterwegs sein. Das kann übel ausgehen, begreifst du das denn nicht?«

Ich antwortete nicht, sondern lief nur schnell an ihnen vorbei. Hinter mir hörte ich den ersten Mann rufen:

»Aber komm zurück, wenn du ein bisschen größer geworden bist! Dann zeig ich dir ein paar Spielchen, die nicht für kleine Kinder gedacht sind.«

Ich hatte mir vorgestellt, die Mädchenkleider würden mich unsichtbar machen, doch stattdessen schienen sie mich in eine Beute zu verwandeln, eine Beute für Leute, die stärker waren als ich. War es ein Fehler gewesen, mich als Mädchen zu verkleiden? Sollte ich mich lieber in irgendeinem Winkel verstecken und wieder ein Junge werden?

Aber bald, wenn der Morgen anbrach, würde man im Waisenhaus entdecken, dass ich verschwunden war. Dann würde der Direktor die Flucht anzeigen, und die Stadtwache würde anfangen, nach einem kurz geschorenen Jungen in graubraunen Kleidern zu suchen. Jetzt war es zu spät, zu dunkel und zu gefährlich, mich auf die Landstraße hinauszubegeben. Ich musste irgendwo einen Unterschlupf für die Nacht finden, als Mädchen gekleidet, aber dennoch in Sicherheit vor betrunkenen und bedrohlichen Männern.

Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich die beiden grau uniformierten Wächter erst sah, als sie nur ein paar Meter von mir entfernt waren. Mein Herz schlug wie wild vor Angst. Es war zu spät, um in eine der Seitengassen zu schlüpfen, das würde nur ihr Misstrauen wecken. Darum zwang ich mich, geradeaus weiterzugehen und nur so weit zur Seite auszuweichen, als nötig war, um sie an mir vorbeizulassen. Die Wächter unterhielten sich angeregt und schienen keine Notiz von mir zu nehmen: Ich war nur eine von vielen, ein unscheinbares Mädchen mit kariertem Kopftuch.

Die Häuser an den Straßen, die ich entlangging, wurden nach und nach größer, manche waren sogar aus Stein und Ziegeln gebaut statt aus Holz. In einigen der Häuser gab es Läden mit Ladenschildern: Vor dem Bäcker hing eine Brezel, vor dem Schuster ein Stiefel, ein Kamm, der quer über einem Rasiermesser lag, hing vor dem Barbier. In anderen Häusern standen die Türen offen und gaben den Blick frei auf erleuchtete Räume voller Menschen, die beim Essen saßen und aus Krügen und Humpen tranken.

Das hier ist die Welt, dachte ich. Sie war groß und verwirrend, aber ich würde sie kennenlernen und ein Teil von ihr werden.