Weß, Ludger Vironymous

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ISBN 978-3-492-98231-3

April 2017

© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Natykach Nataliia

Datenkonvertierung: abavo, Buchloe

 

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August 2019, Sonntag

Atlanta, GA, 6:45 Uhr Ortszeit

Übernächtigt vom fast zehnstündigen Flug, stand Tom Berner in der Ankunftshalle des Flughafens von Atlanta. Er sah sich nach einer Zeitanzeige um. Sein Blick fiel auf einen Fernsehbildschirm mit dem CNN-Programm: Kurz vor 7 Uhr. Nur noch zwanzig Minuten bis zum Abflug nach Washington. Das war knapp – er hatte es kommen sehen. Er hatte seinen Blick kaum abgewandt, um zu seinem Gate zu sprinten, als er innehielt. Hatte da eben nicht »Rom« im Laufband der Nachrichten gestanden? Er sah wieder zum Monitor hoch. »… nach Rom ### Flugzeug der AirEurope über Atlantik vermisst ### AE191 auf dem Weg von Buenos Aires nach Rom ### Flugzeug …«

AE191 hatte Carla und Pia an Bord.

Die Nachricht traf ihn wie ein Faustschlag. »191, unser Datum«, hatte er zu Carla gesagt und sie geküsst, als sie ihm die Flugnummer gezeigt hatte. An einem 19. Januar hatten sie sich kennen gelernt. Er ließ seinen Gepäckwagen stehen und ging auf den Monitor zu. Sein Herz raste, in seinen Ohren rauschte es.

Er hatte Carla und Pia in Buenos Aires selbst zum Gate gebracht. Die kleine Pia, die erst im Urlaub laufen gelernt hatte, war noch etwas unsicher zwischen den Sitzreihen umhergetapst, dann hatte Carla sie auf den Arm genommen. Beide hatten gewinkt, während er sich auf dem Laufband rückwärts entfernte. Statt mit ihnen nach Italien zurückzukehren, hatte er in die USA fliegen müssen.

Tom trat noch näher an den Bildschirm heran, in der Hoffnung, etwas hören zu können, doch der Fernseher war stumm geschaltet. Die Moderatorin sprach mit einer Kollegin, die aus Buenos Aires zugeschaltet war. Das Bild wechselte zu einer Grafik mit der Flugroute von AE191. Sie endete mitten über dem Meer mit einem blinkenden roten Kreuz. »Letzter Kontakt« wurde daneben eingeblendet und eine Uhrzeit, dann schaltete der Sender zu Aufnahmen von Menschen am Flughafen, die sich weinend in den Armen lagen.

Er starrte zum Bildschirm hoch. Das konnte nicht sein! Wie war das möglich? Wieso war er nicht bei ihnen? Was konnte er tun? Eine Telefonnummer für Angehörige wurde eingeblendet. Er sprach sie leise mit, auf Italienisch, um sie sich einzuprägen.

Wo war sein Handy? Er fand es in der Jackentasche und tippte hastig die Pin-Nummer ein. Fehlermeldung. Er zwang sich zum Durchatmen, konzentrierte sich auf die korrekte Ziffernfolge, gab sie ein, wartete mit zitternden Fingern, bis die gewohnte Anzeige erschien. Er tippte die Rufnummer ein, als jemand ihn ansprach.

»Sir?«

Aus den Augenwinkeln nahm er zwei Uniformierte wahr.

»Ist das Ihr Gepäck?« Tom hob abwehrend die Linke. Er musste sich konzentrieren.

»Sir, hören Sie mich?«

Statt einer Antwort wiederholte Tom die Telefonnummer und streckte den Arm aus, um auf die Bilder zeigen. Verdammt, er musste jetzt telefonieren! Alles andere hatte zu warten, seine Frau und seine Tochter hatten in dem Flugzeug gesessen! Aber der Sicherheitsmann missverstand die Bewegung, verstärkte seinen Griff, riss ihm den Arm auf den Rücken und verdrehte ihn. Tom schrie auf. Er versuchte, sich aus dem Griff zu winden, da packte auch der andere zu. Das Telefon fiel zu Boden und Handschellen klickten. »Sir, Sie sind verhaftet.«

Baltimore, MD, 7:00 Uhr Ortszeit

Etwa zur gleichen Zeit deutete Betty im Vorgarten ihres Hauses im Roland Park Viertel, Baltimore, mit der Gartenschere auf die dünne schwarze Ledermappe, die ihr Mann in der Hand hielt.

»Hast du wirklich alle Unterlagen mit?«

Frank lächelte sie an. »Das meiste ist hier drin, du kennst mich doch!« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, küsste sie zum Abschied, warf die Mappe auf den Beifahrersitz seines schwarzen SUVs und schwang sich hinter das Lenkrad.

Betty legte ihr Werkzeug ab. »Bist du gar nicht nervös? Gott, ich könnte keinen klaren Gedanken fassen bei der Vorstellung, gleich mit der Präsidentin zu frühstücken.«

»Wir werden nicht frühstücken, wir werden arbeiten. Ich treffe ihre Berater für ein Briefing. Sie wird erst später dazukommen, für einen Probelauf der Pressekonferenz.« Er startete den Motor und schnallte sich an. »Morgen habe ich Grund, nervös zu sein. Es werden vielleicht hundert Reporter kommen.«

»Aber das Rätsel hast du doch gelöst?«

»Ich bin sehr sicher. Aber wenn ich erzähle, woran sie gestorben sind, wird die Presse natürlich wissen wollen, wer dafür verantwortlich ist. Ich hoffe, die Journalisten verstehen, dass ich nicht der Richtige bin, um diese Frage zu beantworten.« Mit der Linken warf er ihr eine Kusshand zu. »Mach dir noch einen schönen Sonntag!«

Betty hob die Hand. »Viel Glück, Frank!« Sie trat auf die Straße und winkte ihn aus der Einfahrt. »Alles frei.«

Sie sah ihm nach, wie er die Allee hinunterrollte. Da fuhr er nun einem weiteren Höhepunkt seiner Karriere entgegen. Als sie geheiratet hatten, vor dreißig Jahren, hätte sie sich das nicht träumen lassen. Da war er gerade Juniorprofessor für Molekularbiologie an einer kleinen Provinzuniversität gewesen. Jetzt galt er als Nobelpreiskandidat, beriet die amerikanische Regierung und traf sich mit der Präsidentin. Betty war stolz auf ihn.

Was für ein schöner Tag, dachte sie. Die Sonne ließ die Blätter der Bäume saftig grün leuchten, warf Schattenkringel auf die Straße und zauberte ein kleines Feuerwerk aus Reflexen auf den blank polierten Wagen, den Frank jetzt der ersten Kurve entgegensteuerte.

Betty wollte sich gerade umdrehen und in den Garten zurückkehren, als etwas die Idylle störte. Ein Motorrad kam aus einer Seitenstraße herausgeschossen und folgte Frank. Sie hatte in dieser Gegend noch nie ein Motorrad gesehen. Einbrecher vielleicht? Erst vor vier Wochen war in der Straße eingebrochen worden, weiter vorne. Sie hob die Hand über die Augen, um besser zu sehen, aber sie konnte nur erkennen, dass zwei Personen auf dem Motorrad saßen. Jetzt verschwanden beide Fahrzeuge um die kleine Kurve der Saltair Street, es gab einen kurzen, dumpfen Knall, danach einen zweiten, helleren, und eine Hupe ertönte. Das Hupen hörte nicht auf.

Betty begann zu laufen. Sie verlor ihre Gartenschuhe und rannte barfuß weiter, ohne die Steinchen zu spüren, die in ihre Fußsohlen schnitten. Eine Minute verging, bis sie atemlos die Kurve erreichte. Franks Auto stand schräg zur Straße. Es war gegen die Gartenmauer der Schaeffers geprallt, die Freitag zum Barbecue bei ihnen gewesen waren. Der Motor lief noch, die Warnblinker leuchteten. Das Motorrad war verschwunden.

Frank saß schräg hinter dem Steuer, als wenn er sich zum Beifahrersitz hinüberbeugte. Suchte er seine Mappe? Sie riss die Tür auf.

»Frank?«

Auf seiner Schläfe war ein dunkler Fleck, ungefähr an der Stelle, auf die er eben noch mit dem Finger gezeigt hatte.

»Frank!«

Sie fasste ihn an der Schulter und ihr Blick fiel auf das, was die Kugel mit seinem Gehirn angerichtet hatte.

Da begann Betty McKenna zu schreien.

Boston, MA, 9:00 Uhr Ortszeit

Sechshundert Kilometer nordwestlich von Baltimore steuerte Jeremy an diesem Morgen sein Dienstfahrzeug, eine schwarze Lincoln Limousine, aus dem Ted Williams Tunnel in die Ausfahrt zum Logan Airport, Boston. Drei Minuten später ließ er den Wagen vor Ausgang Nummer 2 ausrollen und parkte. Jeremy kontrollierte noch einmal die Ankunftszeit des Flugs. Noch sechs Minuten bis zur Landung. Sein Fahrgast würde in etwa zwanzig Minuten durch die Tür kommen.

Jeremy öffnete den Kofferraum und nahm ein Mikrofasertuch und eine Sprühflasche heraus. Er schritt um den Wagen, wischte ein paar Flecken ab, polierte die Türgriffe und entfernte Fliegenreste von der Windschutzscheibe. Er sah auf die Uhr. Noch elf Minuten. Nachdem er die Utensilien wieder verstaut hatte, öffnete er die Tür zum Fond, kontrollierte den makellosen Sitz der weißen Kopfstützenüberzüge, den Inhalt der Minibar – zwei Flaschen von De Villes bevorzugter Luxusmarke GreenIce aus Grönland, garantiert 250.000 Jahre altes Gletscherwasser –, polierte noch einmal die Gläser mit einem Tuch, das er der Seitentasche der Fahrertür entnahm, und sprühte zwei kurze Stöße Lederduft ins Wageninnere. Anders als die Mercedes-Limousinen von Mitts Limousinenservice rochen die Lincolns immer etwas nach Kunststoff, vor allem im Sommer. Nicht nur deswegen bevorzugte Jeremy die Mercedes-Modelle, aber De Villes legte Wert auf amerikanische Autos.

Noch vier Minuten. Jeremy verstaute die Putzmittel, legte seine weißen Handschuhe an und zog seinen Ralph Lauren-Anzug glatt, den der Chef spendiert hatte. Jedes Jahr gab es einen neuen, immer dann, wenn der Boss im September vorbeikam.

Auf seine Firma ließ er nichts kommen: immer die neuesten Wagen der Luxusklasse, dazu ein erstklassiges Outfit und ein Gehalt, das fünfzig Prozent über dem lag, was ein Chauffeur normalerweise verdiente, dazu noch üppiges Trinkgeld; schließlich chauffierte er VIPs, Politiker, Manager, immer Top-Leute, manchmal sogar in anderen Städten, wenn Not am Mann war. Dann durfte er sogar fliegen.

Aber das Beste von allem war der Boss, auch wenn er sich so selten sehen ließ. Vier Jahre hatte Jeremy im Knast gesessen, wegen Autodiebstahls. Er hatte sich mehrere Verfolgungsjagden mit der Polizei geliefert. Die Bullen hatten das irgendwann persönlich genommen, denn er hatte alle gewonnen. Nur die letzte nicht. Da war ihm eine alte Frau in die Quere gekommen, und weil Jeremy keine alten Frauen überfuhr, hatte diese Fahrt an einer Wand geendet.

So hatte er es dem Chef erzählt, als der ihn beim Vorstellungsgespräch nach seiner Vorstrafe gefragt hatte. Der Boss hatte einen Moment geschwiegen und dann »Wir fahren VIPs, sehr wichtige und berühmte Leute …« gesagt. Jeremy hatte bereits seinen Hintern vom Stuhl gehoben, weil er den Rest schon kannte. War ja klar. Wer würde schon einen Luxusschlitten mit Madonna oder einem Bankdirektor an Bord einem Dieb überlassen? Aber dann hatte der Typ hinzugefügt: »… da ist es ganz gut, wenn du weißt, wie man Verfolger abhängt«, und gefragt: »Wann kannst du anfangen?«

Jeremy sah noch einmal an sich hinab und wischte ein Stäubchen vom Sakko. Der Boss war schwer in Ordnung. Was machte es da schon, dass er einen Sauberkeitsfimmel hatte! Damit konnte Jeremy gut leben. In der Army hatte er gelernt, dass es einfach so war, wenn der Sergeant das so wollte. Hemden, T-Shirts und Hosen falten, zu perfekten Rechtecken zusammenlegen, rollen und packen. Schränke wischen, Klos putzen, Gewehre polieren. Kein Problem für Jeremy.

Er rückte seine Sonnenbrille zurecht und hielt Ausschau. Warten und wachen hatte er bei der Army auch gelernt.

Die Automatiktür zur Halle des Bostoner Flughafens öffnete sich, ließ Geschäftsleute, Rucksacktouristen, Familien mit überladenen Gepäckwagen heraus und hinein; Menschen, die lachten, die ernst oder gehetzt wirkten, zielstrebig den Zebrastreifen überquerten oder unschlüssig dastanden und in die Morgensonne blinzelten, um sich zu orientieren. Ein paar Mal sah er näher hin, wenn ihm etwa eine Frau gut gefiel.

Dann erschien hinter zwei Chinesen mit einem Gepäckwagen voller Plastiktaschen und folienverschweißter Koffer Francis De Villes. Er sah genau so aus wie auf dem Foto, das Jeremy am Morgen bekommen hatte: kurz geschorene Haare, maßgeschneiderter Anzug, Einstecktuch und blank polierte Schuhe.

»Guten Morgen, Sir.« Jeremy tippte zwei Finger an die Mütze und hielt die Tür der Limousine auf.

»Guten Morgen!« De Villes nahm Platz im geräumigen Fond und schnallte sich an.

»Zum MIT?«, fragte Jeremy, nachdem er hinter dem Steuer Platz genommen hatte.

De Villes warf einen kurzen Blick in seinen Aktenkoffer.

»Kresge Auditorium.« Er holte einen Tablet-Computer heraus und legte ihn neben sich auf das Lederpolster. Schon während er eine Flasche Mineralwasser aus der Minibar nahm und ein Glas füllte, sah er auf den Bildschirm. Abwesend trank er, las, griff zum Handy und führte ein längeres Telefonat.

Die Fahrt vom Logan Airport zum MIT dauerte knapp 20 Minuten, eine Zeit, die nur Sonntagmorgen zu schaffen war. Zehn Minuten vor 9:00 Uhr bog die Limousine in die Danforth Street ein.

Von hier waren es noch zweihundert Meter bis zum Parkplatz vor dem Kresge Auditorium, aber der Weg dorthin war von einem Streifenwagen blockiert. An beiden Seiten der Straße waren Demonstranten aufgereiht. Ein Polizist trat an den Wagen und Jeremy ließ die Scheibe hinunter.

»Was ist los? Mein Fahrgast muss zum Kresge Auditorium.«

»Wir haben hier eine Demonstration.« Der Beamte beugte sich vor und schaute in den Wagen. De Villes sah kurz von seinem Computer auf und hob die Augenbrauen. »Es gibt doch hoffentlich keine Probleme?«, fragte er.

Der Polizist schüttelte den Kopf. »Sie können durchfahren!« Er richtete sich auf und gab seinem Kollegen ein Zeichen.

Jeremy schloss das Fenster, verriegelte die Türen und wartete, bis der Streifenwagen Platz gemacht hatte.

»GMO – No! GMO – No!« »Schützt das Leben – stoppt die Bio-Ingenieure!« »Global Seed ist Global Greed!« Der Lärm schwoll an, als die Limousine, flankiert von berittenen Polizisten, langsam auf den Eingang des Campus zurollte. Trillerpfeifen gellten und ein rohes Ei zerplatzte auf der Windschutzscheibe. »Fahr zur Hölle, Frankenstein!«

Jeremy setzte die Scheibenwaschanlage in Gang. Zweimal glitten die Wischerarme hin und her, dann war die Sicht wieder frei. Dennoch würde er gleich eine Waschanlage aufsuchen müssen. Mitts Limousinen hatten jederzeit makellos und klinisch rein zu sein. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. De Villes starrte schweigend auf seinen Bildschirm. Seine Kiefermuskeln waren angespannt.

Zwei Minuten später erreichten sie den Eingang zur Halle. Von der Demonstration war nichts mehr zu sehen und kaum noch etwas zu hören. Lässig gekleidete junge Leute und Ältere im Anzug standen in kleinen Gruppen zusammen, lachten und diskutierten. Jeremy entnahm einem Banner über dem Eingang, dass hier eine Tagung stattfand, irgendetwas mit Getreide und Unkraut.

Er reichte sein Klemmbrett mit dem Beleg nach hinten, nicht ohne einen der eleganten dunkelblauen Werbekugelschreiber mit dem geschwungenen goldenen Aufdruck »Mitt’s Limousine Service« dazuzulegen. De Villes quittierte und reichte drei 10-Dollar-Noten nach vorn.

»Danke, Sir.« Jeremy stieg aus, um die Tür zu öffnen.

Als De Villes ausstieg, löste sich aus einer der Menschentrauben ein grauhaariger Mann und trat auf sie zu. Er schüttelte De Villes die Hand. »Herzlich willkommen, Dr. De Villes. Es ist uns eine Ehre, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben.«

Jeremy sah den beiden nach, während sie im Gebäude verschwanden. Dann öffnete er den Kofferraum, trennte einen blauen Plastikbeutel von einer Rolle ab und legte das benutzte Trinkglas, die Wasserflasche und den Kopfstützenbezug hinein. Anschließend säuberte er mit einem Akkustaubsauger sorgfältig den Platz, auf dem der Vorstandsvorsitzende von Global Seeds, Inc. gesessen hatte und entleerte den Auffangbehälter in einen zweiten Beutel. Weil das Eigelb ihn nervös machte und seinen Zeitplan durcheinanderbrachte, legte er die Plastikbeutel auf den Vordersitz, statt sie im Kofferraum zu verstauen. Normalerweise wäre das kein Problem gewesen, doch ein übereifriger Angestellter der Waschanlage warf die Tüten später in den Abfall, während Jeremy hinter der Halle eine Zigarette rauchte. Er wusste, dass das am Abend Ärger mit dem Dispatcher geben würde. Aus irgendeinem Grund war der Chef mit Kleinigkeiten ungeheuer penibel: Glas statt Plastik, Textil statt Papier, reinigen statt neu kaufen. Der Dispatcher würde ihm vorbeten, was der Chef erwartete: einen makellosen Wagen, perfekt ausgefüllte Quittungen, Belege für jede Ausgabe sowie Leergut, Gläser und Kopfstützenbezüge der Gäste. Und die Mülltüten als Beweis, dass er den Wagen nach jedem Fahrgast gereinigt hatte. Jeremy überlegte nicht lange. Er fuhr auf den nächsten Parkplatz, saugte seinen Platz ab und produzierte mit seinem eigenen Trinkglas und dem Kopfstützenbezug vom Fahrersitz den Müll, den der Dispatcher im Kofferraum vorzufinden wünschte.

Carlsbad, CA, 8:15 Uhr Ortszeit

Wer sich in Carlsbad, Kalifornien, dem Zentrum des Reichtums in den Vereinigten Staaten, zur Ruhe setzte, hatte es geschafft. Hier wohnten Legenden wie Howard Birnsteen, ein milliardenschwerer Unternehmer, um dessen Urteilsvermögen sich Legenden rankten. Wenn er in ein Unternehmen einstieg, sahen Investoren das als Erfolgsgarantie. Heute ließ sein Instinkt ihn im Stich.

Am Vorabend hatte er in einem letzten klaren Moment seine Sekretärin telefonisch gebeten, einen Arzttermin für ihn zu vereinbaren. Drei Tage zuvor war er auf einer Konferenz aufgetreten, auf der alle erkältet zu sein schienen. Nun hatte es ihn wohl auch erwischt. Es hatte wie eine übliche Grippe begonnen: Das Abendessen hatte nicht geschmeckt, die Gelenke schmerzten, er hatte Schweißausbrüche und leichtes Fieber. Dann waren Sehstörungen hinzugekommen wie bei der Migräne, unter der er ab und zu litt. Im Bett, im abgedunkelten Zimmer, hatte ihn eine Unruhe ergriffen, die ihm Angst gemacht hatte. Es war ihm nicht gelungen, sich zu entspannen.

Seine Gedanken waren gerast, immer im Kreis, wie die Symbole auf den Rädern der einarmigen Banditen in Las Vegas. Da war er mit Lucie gewesen, seiner ersten Frau; er dachte an die Hochzeit, schon fielen ihm Fotografen ein, digitale Kameras, Computer, ihre Verwendung in der synthetischen Biologie, die Rolle der Moleküle, ihre Kleinheit, die Nanotechnologie, Oberflächen von Pflanzen, der Garten, Frösche, die Evolutionslehre, Darwin, Schiffe, Yachten, das Meer. Keinen Gedanken hatte er länger als eine Sekunde festhalten können, bevor der nächste kam, und dann noch einer und noch einer. Sie teilten sich, flogen in verschiedene Richtungen und stießen überall neue Assoziationen an wie Neutronen eine atomare Kettenreaktion anfachen. Sie hinterließen Spuren und Bilder, die nicht verblassen wollten. Er war in einem albtraumhaften Labyrinth gefangen, den Wimmelbüchern seiner Enkelkinder nicht unähnlich, aber in drei Dimensionen, bewegt und ohne Begrenzung. Sein Hirn war kurz vor der Kernschmelze gewesen und als der Wecker geklingelt hatte, fühlte er sich, als hätte er keine Minute geschlafen.

Erst nach dem Duschen hatte er sich ein wenig besser gefühlt. Das Croissant mit der bitteren Orangenmarmelade hatte sogar außergewöhnlich gut geschmeckt. Dann hatte der Chauffeur geklingelt, und er hatte sich in den Wagen gesetzt, unsicher das Fahrziel betreffend.

»Wohin fahren wir?«, hatte er den Chauffeur gefragt.

»Zum Golfclub, Sir. Sie haben eine Verabredung.«

Ah ja. Er schaute im Kalender nach: Dean Rearden. Wer war das nochmal? Während er überlegte, kehrte das Chaos in seinen Kopf zurück. Jedes Schild, jede Reklametafel, ihre Zahlen, Farben und Buchstaben sprangen ihn an und bohrten sich in sein Hirn. Er schloss die Augen, aber das war noch schlimmer. Jetzt drangen Licht und Schatten wie Morsesignale durch seine Augenlider, hell, dunkel, hell, kurz kurz kurz lang, kurz kurz, kurz lang kurz, kurz kurz lang, kurz kurz kurz. Er kniff die Augen zusammen, schlug die Hände vor das Gesicht und war sicher, dass von allen Seiten Lanzen auf ihn gerichtet waren, spitze Stangen, die in seine Augen zu stechen drohten. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, er konnte kaum noch atmen. Ein stechender Schmerz breitete sich entlang der Wirbelsäule aus. Ihm wurde übel. Wo war er? Was geschah mit ihm?

»Wir sind da, Mr. Birnsteen.«

Wer sprach da? Er schlug die Augen auf. Ein Mann stand neben dem Wagen und öffnete die Tür. Die Sonne stach Howard in die Augen. Als er nach unten blickte, veränderten sich die Farben und die Umgebung sah aus wie auf einem rotstichigen Farbfoto. Er quälte sich aus dem Wagen. Seine Glieder waren steif und schmerzten. Fühlte man sich immer so, wenn man alt war? Würde er bald sterben?

Wieder drehte sein Gehirn auf. Er war doch nicht alt! Er war doch gerade noch ein Kind gewesen – oder Student? Bilder von einem Marathon und der Golden Gate Bridge blitzen auf. Jemand hatte ihm gratuliert, er erinnerte sich an Kameras und Mikrofone. Ein Wettkampf, genau, und er hatte gut abgeschnitten. Unter den zehn Besten seines Alters, das hatten sie gesagt. Er war fit. Aber nicht heute.

Der Film stoppte für einen Moment. Er versuchte, dahinter zu kommen, seit wann er sich so schlecht fühlte. Es gelang nicht. Wie alt war er eigentlich? Als er aufschaute, erkannte er den Mann neben sich. Das war Charly, sein Fahrer! Charly sah ihn an, als würde er etwas von ihm erwarten. Aber was?

»Oh, Entschuldigung. Ähm. Was sagten Sie?«

»Wann soll ich Sie abholen, Mr. Birnsteen?«

Tja, wann? Hilflos sah er auf seine Uhr.

»Wie üblich, gegen 14:00 Uhr?«, schlug der Fahrer vor.

Howard nickte. »Ja, wie üblich.«

Steifbeinig ging er auf das Clubhaus zu. Jetzt kamen die Kopfschmerzen zurück. Verdammt, was war nur mit ihm los?

Er presste seine Finger in den Nacken, dorthin, wo der Schmerz saß. Wieder flackerte etwas auf. Er war in Carlsbad, am Golfplatz, seinem Lieblingsplatz, mit Blick auf den Pazifik und eine Lagune. Dort gab es Vögel, viele Vögel, Wasservögel. Was für ein komisches Wort, Wasservögel. Gab es Erdvögel?

Dann stand er am Empfang. Die junge Frau schien ihn zu kennen, sie strahlte ihn an und nannte ihn beim Vornamen.

»Mr. Rearden ist schon da, er wartet da hinten auf Sie.«

Mr. Rearden? War er deswegen hier? Ach ja, eine Verabredung. Er straffte sich. Immerhin, so geistesabwesend war er doch nicht. Ein Mann kam lächelnd auf ihn zu, streckte die Hand aus.

»Guten Morgen, Howard! Was für ein schöner Tag!«

»Guten Morgen … Dean.« An den Namen hatte er sich erinnert! Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Mit Dean wollte er etwas besprechen, nach dem Golfen, das wusste er auch noch.

Die Erleichterung dauerte nur Sekunden. Er wollte Deans ausgestreckte Hand ergreifen, doch seine Hand griff ins Leere, er hatte keine Kraft im Arm. Dean lachte, schlug ihm auf die Schulter und sagte etwas. Wieder wusste er nicht die richtige Antwort.

»Ein schöner Morgen.«

Das war alles, was ihm einfiel.

Eine Welle von Übelkeit rollte heran. Er blieb stehen und atmete tief durch. Wieder verschoben sich die Farben.

»Alles in Ordnung, Howard?« Dean musterte ihn von der Seite.

»Ja, ja, ich denke schon. Alles in Ordnung.«

Auf dem Platz kam der Schwindel zurück. Alles drehte sich. Er schaute zu Boden. Als er aufblickte, erschien die Welt doppelt, das Tee, der Runway und die Fahne, selbst die Hügel in der Ferne. Er schloss die Augen in der Hoffnung, die Doppelbilder würden verschwinden, aber vergebens. Jetzt war ihm, als ob der Boden schwankte. Ein Erdbeben?

Warum bemerkte Dean nichts, nicht die Erdstöße, nicht die falschen Farben und auch nicht die Drehung der Erde? Na klar, Dean hatte nur ein gewöhnliches Gehirn! Warum war er nicht gleich darauf gekommen? Sein eigenes Hirn stand unter Strom. Er musste sich nur daran gewöhnen! Fast hätte er gelacht. Genau, sein Gehirn war in einen Overdrive-Modus gewechselt, ein Turbo-GTI-Gehirn. Das war es! Er fühlte sich sonderbar stark, seine Muskeln verhärteten sich, sein ganzer Körper wurde steif. Dean würde staunen, er würde ihn heute besiegen, mit Leichtigkeit. Alles würde gut werden. Er sah Deans Bewegungen wie in Zeitlupe, sah, dass er den Schläger leicht verriss, vielleicht durch einen Schmerz in der Wirbelsäule, und er wusste ganz einfach, dass der Schlag ins Rough gehen würde.

»Das geht schief«, wollte er sagen, aber aus seinem Mund kamen nur gurgelnde Laute, seine Zähne schlugen aufeinander, die Glieder zuckten. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.

Sekunden später lag Howard Birnsteen mit Schaum vor dem Mund auf dem makellosen Rasen. Seine Augen zeigten nur noch das Weiß.

Dean Rearden kniete neben ihm nieder, um Erste Hilfe zu leisten, und winkte einen jungen Gärtner herbei. »Rufen Sie einen Arzt!«

Ein anderer Spieler, der Birnsteen schon auf dem Parkplatz erkannt hatte, beobachtete die Szene, erfasste den Ernst der Lage und holte sein Handy aus der Hosentasche. Er twitterte: #BrainTool CEO Howard #Birnsteen gerade auf #Aviaria Golfplatz zusammengebrochen – nächstes #CEOpfer?

Noch während der Notarzt den Abtransport organisierte, hatte sich die Twitternachricht wie ein Lauffeuer verbreitet. Als der Krankenwagen mit Howard Birnsteen abfuhr, um ihn ins Tri-City Medical Center zu transportieren, hatte George Bruttis, ein Großinvestor, der 45 % der BrainTool-Aktien hielt, bereits den Aufsichtsratsvorsitzenden in der Leitung.

Das folgende Chaos – der Aufsichtsratsvorsitzende gab um 9 Uhr morgens nach Anrufen von Dow Jones, Bloomberg und AP News den Tod von Howard Birnsteen bekannt, während die Investor Relations-Abteilung noch behauptete, Birnsteen sei am Leben – führte zu einem Kurssturz ins Bodenlose. Wenige Minuten später setzte die New Yorker Börse den Handel der BrainTool-Aktie aus. Um 11 Uhr morgens erschien ein Kommuniqué des Krankenhauses, wonach Birnsteen schon zum Zeitpunkt der Einlieferung tot gewesen sei. Sein Leichnam müsse noch obduziert werden.

Mailand, Italien, 17:00 Uhr Ortszeit

Giulio Iposi verbrachte den Sonntagnachmittag am Schreibtisch, zu Hause in seinem Arbeitszimmer. Er beschäftigte sich mit den Finanzen des von ihm geleiteten kleinen Medienunternehmens. Die Nachricht vom mutmaßlichen Absturz der AE191 nahm er mit der professionellen Neugierde eines Chefredakteurs zur Kenntnis, ohne sie jedoch weiter zu verfolgen. Bei Epoca wäre das sofort ein potenzielles Titelthema geworden, aber Epoca war Geschichte. Für La Tempesta würde der Absturz nur dann wichtig, wenn es bei der Aufklärung zu Ungereimtheiten kommen würde, zu Pannen, Vertuschungsversuchen, Verfehlungen von Airline und Technikern, mit möglichen Konsequenzen für Firmen, Aufsichtsbehörden und so weiter. Aber für solche Meldungen war es noch zu früh.

Also sah er weiter die Finanzaufstellung der Wirtschaftsprüferin durch. Das Ergebnis war erfreulich: die Zahl der Abonnenten wuchs, und das schneller als gedacht. Vielleicht war es wirklich möglich, in Italien eine neue Form des Journalismus zu etablieren? Fünf Millionen Euro Startfinanzierung über Crowdfunding hereinzuholen, war schon eine kleine Sensation gewesen, die die Kommentatoren in aller Welt damit erklärt hatten, dass die Italiener es einfach leid waren, von einigen wenigen Medienimperien des Landes desinformiert zu werden.

Aber das waren Vorschusslorbeeren gewesen. Jetzt musste La Tempesta sich bewähren. Auf den Namen war er noch immer stolz. Daniel Defoes gleichnamige Publikation von 1704 galt als das erste journalistische Projekt der Welt. Er hatte Leser eingeladen, eigene Beiträge zu liefern.

Gegen 18:00 Uhr wandte er sich der Planung zu. Das gut gefüllte Geschäftskonto ließ mindestens eine neue feste Stelle zu. Die war auch dringend notwendig. Sie mussten jemanden für Datenjournalismus und investigative Recherche an Bord haben, jemanden, der sich mit Datenbanken und Online-Recherchetools auskannte. Nur so konnte man heute echte Scoops landen, nur so konnten sie ihr Versprechen einlösen, die italienische Medienlandschaft wie ein Sturm durchzupusten. Er könnte der neuen Spezialistin, die morgen anfangen sollte, eine unbefristete Stelle anbieten, wenn sie gut war! Er wollte gerade ausrechnen, welche weiteren Wünsche – Infrastruktur, Datenbanken – erfüllbar waren, als eine neue Eilmeldung ihn ablenkte: Der Vorstandsvorsitzende der kalifornischen BrainTool Inc., Howard Birnsteen, war tot zusammengebrochen, auf einem Golfplatz in Carlsbad.

So eine Scheiße! Giulio hielt Aktien des Unternehmens. Der Kurs hatte sich gerade wieder etwas erholt, nachdem vor drei Monaten Birnsteen an Bord gekommen war. Ende letzten Jahres war sein charismatischer Vorgänger, John Steeds, auf ähnliche Weise ums Leben gekommen. Danach hatte der Kurs des Unternehmens sich fast halbiert, bis der Aufsichtsrat Birnsteen als Nachfolger gewonnen hatte. Wer würde das Amt jetzt übernehmen?

Er sah die Berichte durch. Ganz schlecht, dass der Aufsichtsrat nicht sofort einen Nachfolger bekannt gegeben hatte; die hatten ihre Lektion definitiv nicht gelernt. Schlechte Corporate Governance nannte man das. Was die Sache noch schlimmer machte: Selbst wenn ein Nachfolger gefunden würde, musste man damit rechnen, dass er das gleiche Schicksal erleiden würde. Es gab gar keinen Zweifel mehr, dass BrainTool auf der ominösen Abschussliste stand, die seit über einem Jahr die Aktienmärkte verrücktspielen ließ. Das Unternehmen war damit tot – jedenfalls vom Standpunkt der Aktionäre aus gesehen, da mochten Technologie und Produkte noch so toll sein.

Birnsteen war mittlerweile Nummer 22 auf der Liste der Vorstandschefs, die in den vergangenen 15 Monaten plötzlich gestorben waren – und zwar alle an einer Hirnerkrankung, die mit Fieber begann und innerhalb von Stunden zum Tod führte. Zunächst hatte es nur die Bosse von globalen Rüstungs-, Pharma- und Ölkonzernen erwischt. Mittlerweile starben auch die Chefs von jungen, aber vielversprechenden Hightech-Firmen. Eine rätselhafte Geschichte, und genau die, an der Tom gerade dran war, sein bester Mann. Giulio rief sein Depot auf. Er würde verkaufen, schnellstens. Am besten sollte er sich von allen Blue Chips trennen und nur noch in Nebenwerte investieren.

Er wartete auf den erfolgreichen Log-In, als eine Nachricht auf seinem Smartphone erschien: »AE191 hatte Carla und Pia an Bord!«

Zehn Sekunden später hatte er Laura am Apparat.

»Schatz, bist du sicher?«

»Ich habe gestern noch die Daten auf dem Schirm gehabt, weil Tom umgebucht werden musste.«

Giulio ließ das Telefon sinken, trat ans Fenster und starrte hinaus.

»Giulio, bist du noch da?«

Er hob das Telefon wieder ans Ohr.

»Ja, ja. Das muss ich erst einmal verdauen.«

»Ich komme jetzt. In einer halben Stunde bin ich da.«

Giulio legte das Handy zur Seite. Am Himmel war der Kondensstreifen eines Flugzeugs zu sehen. Er wandte sich ab. Das hatte Tom nicht verdient! Sechs Jahre – oder waren es schon sieben? – musste es her sein, dass Franca, Toms damalige Lebensgefährtin, in Afghanistan bei einem Reportageauftrag ermordet wurde. Und nun das? Das durfte einfach nicht wahr sein!

Er kehrte zum Schreibtisch zurück und begann zu recherchieren. Mit jeder Minute gab es mehr Berichte, Live Ticker wurden eingerichtet, Videos gezeigt. Niemand hatte etwas Neues mitzuteilen: In der schweren See am mutmaßlichen Absturzort war noch nichts gefunden worden.

Sollte er Tom anrufen? Wusste Tom das schon? Er griff zum Telefon, zögerte, legte es wieder zurück. Noch gab es keine absolute Sicherheit. Stattdessen wählte er die Telefonnummer für Angehörige, die er im Web gefunden hatte. Sie war besetzt. Gab es schon Passagierlisten im Netz?

Als Laura kam, hatte er noch immer nichts erreicht. Sie sah, dass er das Telefon am Ohr hatte, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. Giulio drehte den Kopf.

»Noch nichts Neues. Ich versuche seit einer halben Stunde, die Hotline … Hallo? Ja, hier Giulio Iposi.«

Er deckte das Mikro des Telefons ab und flüsterte Laura zu: »Jetzt haben wir gleich Gewissheit!«

Mit lauter Stimme fuhr er fort: »Ich habe Grund zu der Annahme, dass Carla Berner und ein Kind namens Pia Berner an Bord von AE191 waren.«

»Berta-Emil-Richard-Nordpol-Emil-Richard, Berner. Ja, ich warte.«

Atlanta, GA, 14:00 Uhr Ortszeit

Der Schlüssel drehte sich im Schloss, dann herrschte Stille. Tom ließ sich auf die Metallbank der Zelle fallen. Er sah kahle Wände, eine vergitterte Neonröhre, Waschbecken und Toilettenschüssel aus Edelstahl. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

Kein Argument, keine Bitte hatten irgendetwas genutzt.

»Meine Frau und mein Kind sind in der Maschine! Ich muss wissen, was mit ihnen passiert ist! Verstehen Sie das denn nicht? Lassen Sie mich gehen – ich habe nichts getan!« Sie waren nicht darauf eingegangen.

Wie Automaten hatten sie ihre Fragen wiederholt: »Wer sind Sie, woher kommen Sie, was wollen Sie in den USA, wo waren Sie vorher, wen haben Sie getroffen, mit wem sind Sie verabredet?«

Irgendwann war er aufgestanden, hatte geschrien, dass er genug hätte, dass er jetzt gehen würde, dass sie kein Recht hätten, ihn festzuhalten. Was dann passiert war, wusste er nicht mehr genau. Doch seitdem schmerzte sein linker Arm, auch wenn er sich noch bewegen ließ. Seine Stirn brannte. Er hob seine Linke an die Schläfe und ertastete eine Beule. Als er die Hand herunternahm, waren seine Fingerspitzen blutig.

Im Bruchteil einer Sekunde tauchten die Bilder auf, grell und mit einer solchen Wucht, dass ihm schwindlig wurde. Sein Herz stolperte. Sein Magen krampfte.

Blutige Finger, so wie damals, nach dem Knall und der Staubwolke …

Ein Sommertag in Bagdad, ein sonniger Morgen, eine staubige Straße in einem Außenbezirk, sandfarbene, niedrige Häuser, Einschusslöcher in den Wänden. Die Gluthitze machte jede Bewegung zur Qual. Er war mit einer Patrouille der US-Army unterwegs, eine Tour durch die Nachbarschaft: Präsenz zeigen, Vertrauen schaffen, der Welt beweisen, dass es um Frieden ging. Daher nahmen sie Journalisten mit. Ihr erstes Ziel war eine Sackgasse, an deren Ende eine Grundschule lag. Die Kinder hatten Pause und gerieten in Bewegung, kaum, dass der Jeep in die kurze Straße eingebogen war. Der Sergeant stoppte neben einem Pickup, dem die Räder fehlten.

Das Kindergeschrei schreckte eine Katze auf, die im Schatten des Wracks gedöst hatte. Sie verharrte für eine Sekunde mit vorgestreckten Ohren und weit aufgerissenen Augen. Dann schoss sie mit aufgestelltem Schwanz blitzartig unter einem Zaun hindurch.

Er stieg aus, um die Szene von außen zu betrachten. Die Kinder rannten schreiend und jauchzend an ihm vorbei auf den Wagen zu. Sie kannten das Ritual. Die Soldaten verteilten Süßigkeiten. Tom schlenderte zur Schule, wo der Lehrer in der Tür stand und seinen Schützlingen lächelnd zusah. Er gönnte ihnen die Abwechslung vom Kriegsalltag. Tom bot ihm eine Zigarette an.

Rauchend betrachteten sie die überraschend fröhliche Szene, als ein greller Blitz ihn blendete und Kinder und Jeep in einer Staubwolke verschwanden. Ein ohrenbetäubender Knall folgte. Etwas klatschte gegen seine Stirn. Hustend betastete er die Stelle. Als er auf seine Hand sah, war alles rot. Durch seine blutigen Finger hindurch fiel sein Blick auf einen Helm, der auf dem Schulhof lag, daneben ein Kinderschuh aus Stoff mit Blumenmuster. Etwas steckte darin. Er brauchte ein, zwei Augenblicke, um zu begreifen, was das war. Er senkte den Kopf, weil er den Anblick nicht ertragen konnte, aber er schloss die Augen einen Sekundenbruchteil zu spät. Da lag noch etwas, direkt vor seinen Füßen, etwas, das nur einen Augenblick zuvor noch lebendig gewesen war, weich und schön, etwas, das ihn am Kopf getroffen hatte.

Ihm wurde übel, genau wie damals. Sein Herz raste. Er schlug die Hände vors Gesicht, bekam kaum Luft. Schweiß stand ihm auf der Stirn, er hatte stechende Schmerzen in der Brust. Dann sackte er zusammen. Das war das Ende. Er würde hier verrecken, ohne zu wissen, was mit Pia und Carla geschehen war.

Andere Bilder blitzten auf, Fetzen von Erinnerungen, das Kalenderblatt mit dem Petersdom. Darauf war sein Blick gefallen, damals, als der Staatssekretär ihn in der Redaktion anrief. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Verlobte in Afghanistan ums Leben gekommen ist.« Die Taliban hatten Francas Wagen in die Luft gesprengt. Was mit ihrem Leichnam geschehen war, hatte er nie erfahren. Er hatte sie nicht begraben können. Er hatte nicht einmal den Ort des Geschehens besuchen können. Natürlich hatte er auch die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft ziehen können.

Der Gedanke war wie ein Riss in einem Vorhang, durch den Licht in einen Raum fällt. Er zeigte ihm den Weg aus seinen Albträumen. Nein, er würde nicht sterben, nicht jetzt. Er wollte leben. Er hatte noch eine Aufgabe. Er musste Carla und Pia finden, musste herausfinden, was mit ihnen geschehen war und wer dafür verantwortlich war.

Die Bilder wirbelten noch durch seinen Kopf, aber der Verstand meldete sich nun unüberhörbar: »Du hast einen Flashback, eine Panikattacke, die Psychologin hat es dir erklärt, du weißt, was du zu tun hast.«

Tom versuchte, sich aufzurichten. Es war, als hätte jemand eine Decke aus Blei über ihn geworfen. Er keuchte vor Anstrengung, als er es schließlich geschafft hatte.

Er schloss für einen Moment die Augen. Sofort kamen die Bilder wieder. Mit aller Kraft kniff er die Augen zusammen und riss sie dann weit auf. Er zwang sich, seine Umgebung zu betrachten: Die graugrün gestrichenen Wände, die Kratzer in der Wand, die gelbgrüne Tür ohne Klinke. Er musste hier raus, aber wie?

Wieder der Schmerz in der Brust. Er fühlte seinen Puls. Fünf, sechs normale Schläge, dann setzte es aus. Er zählte. Die Aussetzer kamen häufiger. Er zwang sich, tief ein- und auszuatmen, so, wie er es tun sollte, wenn die Panik kam. »Extrasystolen sind das, harmloses Herzstolpern, du hast doch Biologie studiert«, sagte sein Verstand. »Du hast eine Panikattacke, es ist nichts, du weißt es. Franca hatte es auch. Alle hatten es früher oder später, alle, die im Krieg gewesen sind. Es erwischt einen in der U-Bahn, im Aufzug, in der Redaktionskonferenz. Du kennst es doch. Nach Francas Tod, in der Nacht, die Albträume, die Beklemmung, das Herzstolpern. Dein EKG war unauffällig. Der Kardiologe hat dich zum Psychologen geschickt!«

Aber das war lange her, das war doch längst vorbei! Diesmal war es anders, ganz sicher. Die Aussetzer, die Schmerzen in der Brust, die Kälte im linken Arm, das war real, das bildete er sich doch nicht ein!

Die Übelkeit nahm zu. Sollte er aufstehen und zum Waschbecken gehen? Er hatte keine Kraft. Vielleicht war es doch ein Herzinfarkt? Wie viel Stress konnte ein Herz aushalten?

»Erinnere dich an die schönen Dinge«, hatte er Franca gesagt, wenn es bei ihr wieder so weit war. »Denk an das Schönste, was du erlebt hast!«

Aber wie konnte er an etwas Schönes denken! Pia und Carla waren abgestürzt, irgendwo über dem Atlantik, Hunderte von Meilen von der Küste entfernt. Was das bedeutete, wusste er. Wieder sah er den Schulhof in Bagdad vor sich.

Sein Herz würde gleich zerspringen. Vielleicht hatten sie den Absturz überlebt? Was dann? Trieben sie irgendwo im Wasser? Wie kalt war es dort? Gab es dort Schifffahrtsrouten? Gab es Haie? War es dort noch dunkel? Waren schon Suchflugzeuge unterwegs? Warum war er nicht da, sie zu beschützen? Wäre er doch mitgeflogen!

Gerade noch waren sie zusammen gewesen. Pia hatte ihre ersten Schritte am Strand gemacht. Die kleine, süße Pia, die so gut roch und Carlas braune Locken und Augen hatte! Er würde sie nie wiedersehen, nie wieder ihre Stimme hören, nie wieder mit ihr lachen und toben.

Er krümmte sich wieder auf der harten Bank zusammen. Sein Puls raste, er hatte zu wenig Luft, seine Brust schmerzte, als wenn ein Eisenring sie umklammern würde. Wie damals in Bagdad.

»Probiere es wenigstens«, forderte sein Verstand. »Setzt dich hin und atme! Ein und aus, nur atmen! Denk nur an deinen Atem!« Er richtete sich auf, kerzengrade mit gestreckter Wirbelsäule, und zwang sich, langsamer zu atmen, tiefer zu atmen, ein und aus, ein und aus. Es kostete ihn große Anstrengung, nicht an den Schmerz und an sein Herz zu denken, nur ans Ein- und Ausatmen.

Als sich ein Schlüssel in der Tür drehte und das Öffnen der Tür ihn aus seiner Konzentration riss, waren die Schmerzen verschwunden. Einer der Sicherheitsmänner trat ein. »Herr Berner?« Er ließ die Tür geöffnet.

Im Gang wartete ein Mann in Zivil. Neben ihm stand ein Gepäckwagen mit Toms Koffer und Taschen.

»Sir, wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten«, sagte er. »Wir haben Ihr Gepäck und Ihre Angaben überprüft. Ihre Familie war tatsächlich auf das vermisste Flugzeug gebucht. Aber sie war nicht an Bord.« Er warf einen kurzen Blick auf Toms Stirn, dann senkte er die Augen. Tom verstand nichts.

»Ihre Frau heißt Carla?«

Tom nickte.

»Dann wird es Sie sehr freuen zu erfahren, dass Sie Ihnen eine SMS geschickt hat, vor etwa einer halben Stunde. Das deckt sich mit unseren Informationen. Sie war nicht an Bord. Sie ist noch in Buenos Aires.« Er reichte Tom das Smartphone, das die Sicherheitsleute ihm abgenommen hatten. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir die Indiskretion.«

Tom griff nach dem Handy. »Schatz, es geht uns gut! Wir sind nicht mit der AE191 geflogen. Wir leben!«

Tom wurde flau im Magen. Er lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen.

»Oh, und Sie sind frei.« Tom schlug die Augen wieder auf.

»Sind Sie ok?«, fragte der Mann. »Sie sehen blass aus. Können Sie gehen?«

Tom stand auf, ein Lächeln im Gesicht.

»Ja, ja, ich kann gehen.« Bei seinem ersten Schritt schwankte er.

»Sind Sie sicher? Soll ich einen Arzt holen?«

Tom schüttete den Kopf. »Enge Räume tun mir nicht gut.«

»Platzangst?«

»Nein. Ich hatte eine Panikattacke. Aber jetzt ist es vorbei.«

»Ich bringe Sie in mein Büro. Sie können mein Telefon benutzen und ich besorge Ihnen einen Kaffee.«

Auf dem Flur sah der Mann ihn von der Seite an. »Panikattacken sind kein Spaß. Sind Sie in Behandlung deswegen?«

»Ich war’s. Posttraumatisches Stress-Syndrom. Das letzte Mal ist lange her.«

»PTSD ist nie vorbei.« Die Schuhe des Mannes quietschten auf dem Kunststoffboden.

»Sie kennen sich damit aus?«, fragte Tom.

»Ich war Soldat. Afghanistan, Irak. Seit fünf Jahren raus. Jetzt bin ich hier am Flughafen für die Sicherheit verantwortlich. Und Sie?«

»Kriegsreporter. Aber seit sechs Jahren raus.«

Der Mann schloss das Büro auf und ließ Tom eintreten. »Übrigens, ich heiße Dan.«

»Freut mich.« Tom schüttelte Dans ausgestreckte Hand. »Tom.«

»Tut mir leid für den unschönen Empfang. Die Jungs sind unerfahren. Zivilisten.«

Er wies auf den Schreibtisch. »Telefonier, so lange du willst. Kaffee kommt.«

Zwanzig Minuten später begleitete Dan Tom zum Fahrstuhl. »Ist sie ok?«

»Ihre einzige Sorge war, dass ich es rechtzeitig erfahre.«

»Freut mich, das zu hören. Ich bin froh, dass alles in Ordnung kommt.«

Tom nickte. Nie hatte er Carla mehr vermisst als jetzt. Aber vermisste sie ihn?

»Bleib ruhig dort, uns geht’s gut«, hatte sie gesagt. »Du bist doch immer gern in den USA gewesen. Jetzt wird deine Geschichte doch erst richtig spannend. Sie ist doch wichtig.« Aber was war schon wichtiger als die Familie? Warum erinnerte Carla ihn andauernd an seinen Beruf? Er hatte sich nicht darum gerissen, in die USA zu fliegen, als Giulio ihn am Ende des Urlaubs angerufen hatte. Carla dagegen war Feuer und Flamme gewesen.

Dan drückte auf den Fahrstuhlknopf. »Du fliegst dann sicher jetzt sofort zu ihr.«

»Ich weiß es nicht.« Tom zuckte mit den Schultern. Er wusste es wirklich nicht. Er wusste nicht einmal, ob Carlas Antwort ihn enttäuschte oder beunruhigte. Er fühlte nichts. Stumm warteten sie, bis der Aufzug hielt.

»Viel Glück!« Dan schüttelte ihm die Hand. »Ich hoffe, du verzeihst uns die Unannehmlichkeiten.«

»Schon vergessen.« Tom schob seinen Wagen in die Kabine.

Dann schlossen sich die Türen.

Noch auf dem Weg in sein Büro griff Dan zum Telefon.

Hamburg, 18:00 Uhr Ortszeit