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Leni Behrendt
– Box 1 –

E-Book 1-5

Leni Behrendt

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-663-3

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Hüte dein Herz

Als das Mädchen Dorothee geboren wurde, gab es glückselige Freude im Hause des Industriellen Sander. Der hünenhafte Vater sah auf das kleine Wesen wie auf ein Weltwunder, und die Augen der Gattin schienen in alle sieben Seligkeiten des Himmels zu schauen.

Acht Jahre lang hatte man auf das Menschlein warten müssen, acht Jahre voller Sehnsucht – und jetzt war es endlich da. Was Wunder, wenn die Eltern sich vor Freude kaum zu fassen wußten über diesen Gottessegen.

Daß Georg Sander sich eigentlich einen Sohn wünschte, war vergessen. Denn was da vor ihm lag, war sein Kind. Blut von seinem Blut und von dem seines Lieschens, das er trotz eines körperlichen Fehlers geheiratet hatte, weil es so lieb und so gut war. Weil das Pastorentöchterlein sich mit siebzehn Jahren ein silbernes Ringlein an den Finger stecken ließ von dem Glöcknersohn und Kindheitsgespielen, der damals noch die Bank der Obersekunda drückte. Denn die Eltern sparten an allen Ecken und Enden, um ihren Einzigen aufs Gymnasium schicken zu können.

Die Vorschule dazu absolvierte der gescheite Glöcknersohn zusammen mit dem Grafensohn, dessen Heimat die feudale Herrschaft Rautenau war, zu der das Kirchdorf gleichen Namens gehörte. Und da der Pastor ein guter Mann war, ließ er den begabten Glöcknersohn an dem Unterricht teilnehmen, den er dem vornehmen Sprößling erteilte. Natürlich mit Genehmigung des Grafen Sölgerthurn, unter dessen Patronat er stand.

Sie kamen später auf das Gymnasium der naheliegenden Stadt, die gleichaltrigen Knaben und hielten auch da gute Freundschaft miteinander. Und da Fortuna ja eine unberechenbare Dame ist, so konnte es kommen, daß sie eines Tages den Glöcknersohn mit ihrem Füllhorn förmlich überschüttete – er wurde sozusagen über Nacht ein reicher Mann.

Und zwar, als ein längstverschollener Onkel ohne Anhang in Kalifornien starb und seine Millionen somit an seinen Bruder, den Glöckner Sander, fielen. Doch da dieser bereits das Zeitliche gesegnet hatte, bekam den Mammon eben sein Sohn, der sich gerade mit dem Wenigen, was ihm sein Vater hinterlassen konnte, schlecht und recht auf der Technischen Hochschule durchschlug. Es war nun durchaus naheliegend, daß er seinen Freund, den Grafensohn, der die Landwirtschaftliche Hochschule besuchte, bat: »Komm mit mir, Bertram. Steh mir bei in dem kaum Faßbaren, was mich im fremden Land erwartet.«

Dazu war der Freund gern bereit. Und sein Vater riet den beiden Dreiundzwanzigjährigen, einen Rechtsbeistand mitzunehmen, was dann auch geschah, sehr zu Nutz und Frommen des jungen Erben. Denn ohne den Juristen hätte der Unerfahrene sich bei dem Verkauf der Liegenschaften ganz gehörig über den Löffel barbieren lassen, wie man so sagt. So jedoch holte der tüchtige Anwalt das Äußerste heraus und staunte nicht wenig über den reichen Segen, der seinem Klienten so mir nichts, dir nichts zufiel.

Doch Georg Sander schnappte deshalb nicht über, bummelte mit den beiden ihm vertrauten Menschen zuerst einmal für ein halbes Jahr in der Weltgeschichte herum und nahm dann in der Heimat sein Studium wieder auf. Machte den Dr. Ing. und baute ein Werk, um das die Götter ihn beneiden konnten.

Und dann holte er sich sein Lieschen in die prächtige Villa, die gleichzeitig mit dem Werk entstand. Daß das Mädchen ein kürzeres Bein hatte, machte ihm nichts aus. Er hatte sein Lieschen lieb und sah daher in ihm die schönste Frau der Welt.

Und so treu dieser Mann in der Liebe war, so treu war er auch in der Freundschaft. Fand es selbstverständlich, daß sein Intimus das Mädchen seines Herzens heiratete, obwohl es nicht das Geld besaß, das Rautenau so dringend nötig hatte. Und als der Besitz dann auch ernstlich zu wackeln begann, war es für Georg Sander selbstverständlich, helfend einzugreifen, ohne da erst viel Worte zu machen.

Den Stammhalter, der sich dann in dieser glücklichen Ehe einstellte, liebte Georg Sander wie einen eigenen Sohn und half diesen schönen, sonnigen Knaben nach Kräften mit verwöhnen.

Also war es kaum verwunderlich, daß er sowie sein Freund Bertram Zukunftspläne schmiedeten, als in der stattlichen Villa ein Töchterlein geboren wurde. Ein Töchterlein gar zart und fein, das die Eltern vergötterten und überängstlich hüteten. Der Vater nannte den Abgott kurz Dörth, die Mutter jedoch Doro.

Dörth oder Doro – damit stand und fiel alles in dem reichen Hause des Industriellen. Ein Lächeln des eigenwilligen Geschöpfchens machte froh, eine ungnädige Miene betroffen.

Es wurde auch nicht anders, als Lieschen, die sich nach der Geburt des Kindes nicht mehr so richtig erholen konnte, sechs Jahre danach starb und der Witwer seine Schwägerin Ruth heiratete. Die schloß sich dem Kult, den man mit der Tochter des Hauses trieb, durchaus an, setzte ihn auch noch nach der Geburt ihres Söhnchens fort.

Auch die Sölgerthurns, mit denen man in freundschaftlichem Verkehr stand, ließen sich von der kleinen Tyrannin beherrschen. Selbst der um acht Jahre ältere Edzard machte da mit, obgleich auch er verwöhnt war. So sehr verwöhnt, daß die Eltern ihrem Einzigen keinen Wunsch abschlagen konnten.

Das war aber auch wirklich schwer bei dem Knaben, den der Herrgott in seiner besten Laune erschaffen zu haben schien. Wohin er auch kommen mochte, überall bezauberte er in seiner mitreißenden Fröhlichkeit und dem unwiderstehlichen Charme.

Und dem konnten die Eltern natürlich am wenigsten standhalten – auch nicht, als der Sohn später Unsummen für seine Reisen verbrauchte. Er war ja noch so jung, ihr geliebter Einziger, mochte er also das Leben unbekümmert genießen. Später mußte er dann eben reich heiraten – und zwar Dorothee Sander. Das war jedenfalls die Rechnung der beiden Väter.

*

»Da bist du ja, mein Junge«, schloß Graf Sölgerthurn den heimkehrenden Sohn in die Arme. »Laß dich anschauen – also prächtig siehst du aus! Einfach ein Bild von einem Kerl.«

»Man tut, was man kann«, blitzten die prächtigen Zähne in dem braungebrannten Gesicht. Er eilte seiner Mutter entgegen, drückte schmeichelnd die Lippen auf die feinen Hände und strahlte die zarte, vornehme Frau an.

»Geht es dir auch gut, meine kleine Mama? Dumme Frage, wo doch dein böser Junge wieder da ist. Zause ihn nur tüchtig«, lachte er sein sieghaftes, unbekümmertes Lachen, das direkt mitreißend wirkte.

Ein ganzes Jahr war er diesmal weggewesen und hatte das Geld mit vollen Händen verstreut. Na was, wenn das Portemonnaie leer war, kam eben Nachschub. Ein Telegramm nach Rautenau genügte.

Und wer weiß, ob der unbekümmerte Verschwender heute schon nach Hause zurückgekehrt wäre, wenn der Vater ihn nicht zurückgerufen hätte. Und zwar nach einer Unterredung mit dem Gutsverwalter, der schon länger als zwei Jahrzehnte auf Raute­nau segensreich wirkte. Da konnte er sich schon erlauben, ein offenes Wort mit seinem Herrn zu sprechen –

»Also, lieber Graf, so geht es jetzt nicht länger«, eröffnete er ohne jede Einleitung die Debatte. »Wenn der junge Herr Graf immer weiter solche Unsummen für sein Bummlerleben verbraucht, sind wir bald Mathäi am letzten – und können bei Herrn Sander aufs neue betteln gehen.«

»Aber, aber, mein Lieber«, unterbrach der Graf seinen aufrichtigen Beamten peinlichst berührt. »Betteln dürfte ja wohl nicht die richtige Bezeichnung sein. Wir haben Hypotheken aufgenommen, für die wir Zinsen zahlen – also ein faires Geschäft.«

»Wir haben aber die Zinsen das letztemal nicht zahlen können…«

»Ja, ich weiß –«, unterbrach der Graf ihn, sich dabei nervös über den Kopf fahrend. »Mein Sohn hat diesmal reichlich viel Geld verbraucht, das sehe ich ein.«

»Also! Herr Graf wissen, ich stehe zu meiner Herrschaft mit jedem Tropfen Blut, hänge an Rautenau mit ganzem Herzen. Und das Herz tut mir jedesmal bitter weh, daß dieser prächtige Besitz immer wieder zurückstehen muß, damit der Erbherr herrlich und in Freuden leben kann. Man könnte weinen vor Jammer!«

»Ist ja schon gut, mein Getreuer«, beschwichtigte der Graf den bekümmerten Mann. »Lassen Sie mir die Bücher zugehen, damit ich mich überzeugen kann, wie wir überhaupt dastehen.«

Und sie standen schlecht da, wie er nach sorgfältiger Prüfung der Bücher betroffen feststellte. Noch eine Anleihe bei Sander – und ihm gehörte zu zwei Drittel die feudale Herrschaft Raute­nau. Der Verwalter hatte recht, so ging es nicht länger. Edzard mußte sein Globetrotterleben aufgeben, damit nicht weitere Unsummen dem Besitz entrissen wurden.

Und nun saß er da, der unbekümmerte junge Erbe, der keine Ahnung davon hatte, wie traurig es um dieses Erbe stand. Erzählte den Eltern von seiner Reise und tat es so fesselnd und charmant, daß es eine Lust war, ihm zuzuhören.

»Und wie geht es bei Sanders?« wollte er später wissen. »Was macht die Dörth? Ist sie immer noch so ein miesepetriges Dinglein, das sich selbst nicht leiden kann? Wehe dem armen Mann, der diese kleine Tyrannin einmal heiraten wird«, schloß er lachend – und der Vater hatte das Gefühl, als müßte ihm das Herz stillstehen vor Schreck.

Deubel noch eins, das konnte ja gut werden! Der Junge hatte natürlich keine Ahnung davon, was er mit seinem Freund Sander vereinbarte.

Auch die Gräfin ahnte nichts. Ebensowenig, wie verschuldet Rautenau war. Sie war ja so zart und fein, mußte vor jedem rauhen Luftzug des Lebens geschützt werden.

»Pfui, Junge, wie ungalant«, lachte sie jetzt, doch der Gatte winkte hastig ab.

»Edzard, unterlaß bitte derartige Bemerkungen, damit sie nicht womöglich Sanders zu Ohren kommen. Du weißt doch, wie vernarrt sie in ihre Kinder sind…«

»Natürlich weiß ich das«, warf der Sohn unbekümmert ein. »Aber ihr werdet ja das, was ich soeben über den Abgott bemerkte, bestimmt nicht weitersagen.«

In dem Moment schlug der Fernsprecher laut an, und Edzard nahm das Gespräch entgegen.

»Jawohl, ich bin es persönlich«, hörten die Eltern ihn sprechen. »Wie es mir geht? Blendend natürlich. Nun, nun, so arg ist es nun auch wieder nicht, daß ich meinem Globetrottertum Valet sagen müßte. Ich kann es ja nach einer geruhsamen Pause dann hier wiederaufnehmen. Was sagst du da?«

Jetzt lauschte er der Stimme am andern Ende und sprach dann lachend: »Danke, das werde ich bestellen. Natürlich finden wir uns morgen ein, das ist ja nun mal Ehrensache.«

Damit hängte er ab und wandte sich den Eltern zu, die ihn erwartungsvoll ansahen.

»Also, das ist wieder einmal ganz das kleine Scheusal Dörth«, ironisierte er, dabei seinen alten Platz einnehmend. »Eben sagte mir Onkel Georg, daß sein vielgeliebtes Töchterlein aus dem Pensionat ausgebrochen und heute zu Hause eingetroffen ist, was natürlich als Bravourstück beschmunzelt wird. Morgen feiert man ihren Geburtstag, wozu wir herzlichst eingeladen sind. Ich bin recht neugierig auf die Dörth.«

»Junge, ich bitte dich, sei lieb zu ihr«, bat der Graf so dringend, daß der Sohn ihn erstaunt ansah.

»Nanu, Vater, du tust ja so, als hättest du irgendwie Angst vor den Sanders!«

»Ach woher –«, gelang es dem anderen, gleichmütig abzuwinken. »Die vernarrten Eltern können es nun einmal nicht vertragen, wenn man an ihrem Abgott etwas auszusetzen findet. Mutter und mir würde es ja auch nicht gefallen, wenn man dich…«

»Das wäre ja auch noch schöner!« trumpfte die zarte, feine Frau auf. »An unserm prächtigen Jungen dürfte doch nun wirklich nichts auszusetzen sein, will ich meinen.«

»Uijeh!« lachte der Sohn herzlich. »Und wenn man es dennoch täte, mein eitles Muttilein?«

»Dem würde ich erbitterte Fehde ansagen.«

*

Hier stand die schwierige kleine Doro Sander da und ließ sich von den Gästen, die sich zur Feier ihres Geburtstages eingefunden hatten, gnädig becouren. Sie interessierten ihre Hochnäsigkeit samt und sonders nicht – außer Edzard Sölgerthurn. Denn als dieser, den sie ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen hatte, vor ihr stand, sie strahlend anlächelte, seine Lippen schmeichelnd über ihr mageres Händchen tändeln ließ – da gab es dem blutjungen Menschenkind einen Schlag aufs Herz. Und da solche Siebzehnjährigen ja überschwenglich sein können und dürfen, so erkor sie sich spontan diesen »göttlichen Mann« zum Heros, zum Idol und Herzens-Schatz.

Nun, einen Schatz muß man ja wohl hüten. Also heftete Doro sich förmlich an die Fersen Edzards, was er sich gutmütig gefallen ließ. Er tanzte mit dem »hölzernen Gestellchen« immer wieder und ließ sich stets erneut lächelnd auf die Füße treten.

Allerdings erschrak er nicht wenig, als dieses kleine Wesen ihm beim langsamen Walzer verzückt zuflüsterte:

»Ich liebe dich, Edzard von Sölgerthurn. Ich liebe dich mehr als mein Leben. Du bist der Traum meiner Nächte, du bist mein Glück, wenn ich erwache. Du bist meine Seligkeit, mein ein und alles auf der Welt –«

»Nun, nun –«, dämmte der Mann diese Liebeserklärung peinlich berührt ab. »Mit siebzehn Jahren weiß man ja noch gar nicht, wohin das Herzchen gehört, kleine Doro. Laß dir mal erst vom Wind die Öhrchen trocken wehen!«

»Pfui, Edzard, du bist abscheulich!« funkelte sie ihn an. »Wie darfst du überhaupt so frivol mit mir sprechen. Ich werde es meinem Paps erzählen!«

»Frivol –?« Er lächelte mitten in ihre Augen hinein, die unter diesem strahlenden Glanz wieder weich und verträumt wurden. »Weißt du denn überhaupt, was frivol ist, du Dummchen?«

»Nein«, gestand sie kleinlaut – und da lachte er sein sieghaftes Lachen. Allen, die es hörten, wurde froh ums Herz, hauptsächlich dem Vater dieses »Götterknaben«.

Na also, es würde sich schon alles zum guten Ende entwickeln. Vor einem Jahr war an eine Verlobung sowieso nicht zu denken, und bis dahin würde die armselige, vermickerte Kleine sich bestimmt besser herausgemacht haben. Sie steckte ja schließlich noch in der Mauserung. Und aus manchem häßlichen Entlein ist schon ein stolzer Schwan geworden.

Von dieser Hoffnung seines Vaters hatte Edzard Sölgerthurn keine Ahnung. Sonst hätte er sich wohl kaum die überschwengliche Anhimmelung Doros so gutmütig gefallen lassen, sondern sie sich energisch abgewimmelt. Aber so – na was, er nahm das Schäfchen einfach nicht ernst.

Allein, Doro wollte ernst genommen sein. Wie sehr, sollte er schon noch erfahren.

Es war ein Junitag, der für die Landwirte zur Hochsaison zählte. Man befand sich allgemein bei der Heuernte, nur der junge Graf Sölgerthurn nicht. Der lag im schattigen Park in der Hängematte. Daß auch er sich betätigen könnte, darauf kam er gar nicht.

Unbehaglich sah er dem Mädchen entgegen, das sich ihm eilig näherte. Natürlich die Dörth! Man war tatsächlich nirgends mehr vor dem überschwenglichen kleinen Balg sicher. Wenn das so weiterging, würde er wohl wieder seine Koffer packen müssen, nur um so viel schmachtender Anhimmelei zu entgehen.

»Hat der Diener doch recht gehabt, daß ich dich hier finden würde«, atmete die Kleine hastig nach dem schnellen Lauf. »Mußt du dich denn immer so verkriechen?«

»Ich hatte ja keine Ahnung, daß du hier bist, Doro. Wann kamst du?«

»Eben. Meine Eltern wissen gar nichts davon. Paps arbeitet wie gewöhnlich um diese Zeit, und Ma ist auf einem Kaffeekränzchen. Ich muß auch gleich zurück, wollte dir nur rasch meine Gedichte vorlesen.«

»Ja, Dörth, soll ich denn meinen Ohren trauen?« fragte er amüsiert. »Du dichtest?«

»Das ist doch nun wirklich nicht zum Lachen!« funkelte sie ihn zornig an. »Du solltest dich mal schämen, mein armes Herz so mit Füßen zu treten!«

»Aber Doro, wer wird denn so exaltiert sein. Komm, lies vor!«

»Nein – jetzt nicht mehr!« schrie sie ihm weinend entgegen – warf ihm das kleine Heft mitten ins Gesicht und rannte davon.

»Das kann man schon mit hysterisch bezeichnen«, zog er unbehaglich die Schulter hoch, griff nach dem Heft und las die »poetischen Ergüsse«. Natürlich waren sie so, wie man es bei der zurückgebliebenen Siebzehnjährigen nicht anders erwarten durfte.

Schade, daß das kleine Dummchen sich ausgerechnet ihn für ihre Vergötterung aussuchte!

*

Auf Rautenau fand ein Sommerfest statt, zu dem alle die Gäste geladen waren, die mit der Familie Sölgerthurn in gesellschaftlichem Verkehr standen.

Lampions schaukelten an den Schnüren, die von Baum zu Baum gespannt waren. Die Tanzfläche fehlte natürlich nicht und auch nicht die Musiker, die aus einem versteckten Winkel die Tanzmusik lieferten.

Daß sich auch die Sanders zu diesem Fest einfanden, war ja wohl bei der engen Freundschaft der Familien selbstverständlich. Der hünenhafte Industrielle schmunzelte, seine hübsche Frau strahlte, und selbst das launenhafte Töchterlein zeigte eine gnädige Miene. Aber auch nur darum, weil es mit seinem Idol stundenlang zusammensein, mit ihm tanzen und es anhimmeln, andichten, anbeten konnte nach Herzenslust.

Der gute Paps hatte tief ins Portemonnaie greifen müssen, um seiner sehr anspruchsvollen Tochter die Toilette zu ermöglichen, die sie sich aussuchte und die für dieses zwanglose Fest viel zu kostbar war. Und dennoch – oder wohl gerade deshalb – wirkte das armselige Persönchen wie ein mißglückter Pfau unter reizenden Waldvöglein.

Aber was tat’s? Die Dörth wünschte das Prunkgewand, und die vernarrten Eltern fügten sich.

Sie ahnten dabei jedoch nicht, was die Tochter damit bezweckte, nämlich: Mit so viel Schönheit ihr Idol derart zu bezaubern, daß es überwältigt kapitulierte und ihr Lieb und Treue schwor für Zeit und Ewigkeit.

Aber wehe, o wehe – davon schien das »Idol« noch sehr weit entfernt zu sein. Denn des Globetrotters Auge war geschult für Schönheit und Charme.

Und dieses Auge tat ihm direkt weh, als das magere Mägdlein sich nun wie ein wirklich hölzernes Gestellchen vor ihm drehte.

»Bin ich nicht bezaubernd, du mein einzig Geliebter?«

Nun, zuerst machte der so Benamste ein Gesicht, als hätte man ihm unversehens auf sein bestes Hühnerauge getreten, dann meinte er vorsichtig:

»Na – ich weiß nicht. Ist deine Aufmachung nicht zu kostbar für dieses zwanglose Sommerfest?«

»Wo denkst du hin«, blähte die geputzte Maid sich bis zum Bersten auf. »Ich will doch die andern Gänschen in den Hintergrund drängen. Will ihnen beweisen, daß ich eine reiche Erbin bin, die zukünftige Herrin von Rautenau –«

»Na, nun mal hoppla!« rief er erschrocken dazwischen, doch das eingebildete Persönchen winkte nonchalant ab.

»Nicht heut’ oder morgen natürlich, dafür bin ich vorläufig ja noch zu jung. Aber du sollte mir heute schon Liebe und Treue schwören!«

»Doro, so sei doch vernünftig!« unterbrach er die Siebzehnjährige, wobei ihm heiß und kalt zugleich wurde. »Das alles liegt doch noch in so weiter Ferne. Komm, sei lieb.«

»Ich will aber nicht lieb sein! Ich will mein Recht, ich will deinen Schwur!«

»Ach du lieber Gott!« Der so in die Enge getriebene Mann wischte sich jetzt den Angstschweiß von der Stirn. Rettung, stöhnte er verzweifelt in sich hinein.

Und siehe da, die Rettung nahte. Groß und breit stand sie da wie ein Fels in der Brandung – und zwar in Gestalt Georg Sanders.

»Nun, ihr Verschworenen, wie ist’s?« lachte er in dröhnendem Baß. »Sich so einfach zu isolieren, das gibt es nicht. Man fragt allgemein schon nach euch. Ihr dürft nicht auffallen, Kinder. Müßt eure – ähem, Liebe – noch geheimhalten. Denn dazu ist die Dörth noch zu jung.«

»Natürlich –«, lachte der junge Graf ganz unmotiviert auf. »Wollen wir uns also dem verehrten Publikum zeigen.«

Wenig später steckten sie dann mitten im Trubel. Und die ohnehin schon erschütterte Seele des Schwerenöters Edzard erhielt einen weiteren Stoß, als zwei Damen sich ihm näherten. Und eine davon war die verführerische Blanka, die letzte Galanterie seines unbekümmerten Reiselebens.

»Nicht wahr, Graf Sölgerthurn, da staunen Sie?« fragte diese Unbekümmernis süß lächelnd –

»Allerdings –«, kam die Antwort eisig. »Woher kommen Sie denn so plötzlich, meine – Gnädige?«

»Oh, wie formell«, wurde das süße Lächeln nun perfid. »Diese sonderbare Sprache ist mir an dir fremd, mein kleiner Edzard. Willst du nicht…«

»Gar nichts will ich!« unterbrach der Mann sie schroff, dabei ängstlich nach allen Seiten spähend. Doch man schien dieses kleine Intermezzo nicht zu beachten, sondern unterhielt sich in Gruppen abgesondert recht lebhaft. »Ich möchte nur, daß Sie mich ungeschoren lassen. Wer verschaffte Ihnen überhaupt Eintritt in diese illustre Gesellschaft?«

»Illustre Gesellschaft sagt er –«, wollte die Mondäne sich halb totlachen, dabei die andere Mondäne, die neben ihr stand, umfassend. »Hast du das gehört?«

O ja, die Meda hörte es und lachte hintergründig. Diese Meda war gewissermaßen das schwarze Schaf der Gesellschaft. Man mußte sie leider in dem exklusiven Kreis dulden, weil ihr verstorbener Gatte, der Kommerzienrat Schratz sich durch große Stiftungen für Stadt und Land verdient gemacht hatte. Denn wer Geld hat, der hat auch Macht. Dem müssen sich selbst engverschlossene Türen schließlich öffnen.

Man mußte es diesem Nabob sogar nachsehen, daß er als Siebzigjähriger eine Zweiundzwanzigjährige heiratete, deren Vergangenheit im Dunkel lag.

Acht Jahre währte diese sonderbare Ehe, dann starb der Betagte, der Witwe einen guten Batzen hinterlassend.

Und mit diesem glaubte die lustige Witib die Welt erschüttern zu können – vor allen Dingen den um fünf Jahre jüngeren Edzard Sölgerthurn. Aber ach, er zeigte ihr die kalte Schulter, worauf sie dem Vermessenen bittere Rache schwor.

Und diese Rache stand nun neben ihr, in Gestalt der verführerischen Blanka, die Meda ganz durch Zufall kennenlernte in der »mondänen« Welt. Denn schöne Seelen finden sich zu Wasser und zu Land, sagt ein Sprichwort.

Es war direkt Musik für die Ohren der Rachsüchtigen, als Blanka ihr von dem Techtelmechtel mit dem Grafen Sölgerthurn erzählte – und schon war ihr Racheplan gefaßt. Sie machte die ewig in einer Geldklemme steckende Blanka zu ihrer Gesellschafterin – und genoß nun ihre Rache kaltlächelnd.

»Aber mein lieber Graf, wie kann man nur so unhöflich sein«, lächelte sie so recht niederträchtig. »Zwar hatte man vergessen, mich zu diesem illustren Fest zu laden, aber ich nehme das nicht weiter übel, weil bei solch Masseneinladungen schon ein Versehen vorkommen kann. Ich bin ja trotzdem hier. Und daß ich meine Freundin mitbringe, ist ja wohl Selbstverständlichkeit, nicht wahr?«

Es gab einen knirschenden Laut, so fest biß der Mann die Zähne zusammen, ihm kam zum erstenmal in seinem unbekümmerten Leben die Ahnung, daß man nicht jede »Sünde« einfach nonchalant abtun konnte, wie es ihm bisher doch stets geglückt war. Daß es auch Rechnungen gab, die man begleichen mußte. Nicht mit Geld, das hatte er allemal großzügig getan – sondern mit moralischen Ohrfeigen.

*

In dem weiten Park von Rautenau herrschte eine Fröhlichkeit, die kaum noch zu überbieten war. Auf der Tanzfläche drehte man sich zur flotten Musik, die älteren Damen plauschten ver­gnügt, und die dazugehörigen Eheliebsten droschen munter ihren Skat. Satt war man, ein guter Tropfen stand greifbar nahe, also konnte man schon vor Wohlbehagen schnurren wie ein Hauskater am warmen Ofen.

Allein die Dörth tat es nicht, sie mußte wachsam ihren Schatz hüten. Augenblicklich hatte sie ihn fest, schmiegte sich in seinen Arm und tanzte nach einer schmeichelnden Weise. Sie tanzte zwar schlecht, aber mit viel Gefühl.

»Und ich wußte, es ist vergeblich, sein Herz zu hüten«, sang man hie und da den Text des Tangos mit.

»O wie schön«, lächelte das blutjunge Menschenkind wie traumverloren zu ihrem Partner auf. »Ich will ja gar nicht mein Herz hüten, Edzard. Ich will es ja in deine Hände geben mit unerschütterlichem Vertrauen. Hör nur, was man jetzt singt: Tief wie das Meer, süß wie der Wein, können nur verliebte Nächte in Italien sein – kennst du so was?«

Da schämte sich der Mann unter dem unschuldigen Blick dieser Kinderaugen.

»Dummchen, du«, sagte er zärtlich. »Zerbrich dir doch darüber dein Köpfchen nicht. – Und nun weinst du gar. Aber Doro, kleine liebe Dörth, wie kann man denn alles nur so tragisch nehmen. Ganz blaß bist du geworden. Du darfst dich doch von so einer süßduseligen Weise nicht verwirren lassen. Dabei ist doch so viel Lug und Trug.«

»Aber nicht bei uns, Edzard – nicht wahr, nicht bei uns?« flehte sie so angstvoll, daß ihm miserabel zumute war. »Sag es mir doch, daß du mich liebst – bitte, bitte!«

»Aber das weißt du doch, Dörth«, beschwichtigte er das Mädchen, das in seinem Arm zitterte und bebte. »Wir lieben uns doch, solange wir uns kennen.«

»Ja – nun ist es gut –«, legte sie mit einem rührenden Lächeln das Köpfchen an seine Schulter. »Nun werde ich auch warten können.«

Zum zweiten Mal an diesem Abend wurde dem geplagten Mann Rettung, und diesmal, als die Musik schwieg. Gutwillig ließ sich Doro von ihm zu den Eltern führen, die mit den Gastgebern und noch einigen ihnen sympathischen Menschen im trauten Kreis beisammensaßen.

»Sekt möchte ich trinken«, sagte Doro mit so strahlenden Augen, wie man sie an ihr noch nie gesehen. »Hol mir ein Glas davon, Edzard, aber möglichst frisch und kühl.«

Er entwetzte mit einem Gefühl, als hätte man ihn aus einer Schlinge befreit. Doch er kam nicht weit – denn schon wurde ihm die zweite Schlinge gelegt. Und diesmal von einer verführerischen Frau, die seinen Arm nahm und ihn dorthin entführte, wo die Illumination nicht mehr hinreichte, wo es verschwiegen war und still im Dämmer des Parkes – und zwei wachsame Augenpaare spähten ihnen nach.

»Nun, mein Süßer«, girrte ein Lachen auf, das den Mann wie ein ekliges Reptil ankroch. »Komm, setz dich zu mir – und laß uns von der Liebe reden wie einst im Mai.«

»Lassen Sie das!« unterbrach er sie schroff, die sich nun auf eine Bank niederließ, während er vor ihr stehenblieb. »Sie nehmen doch nicht etwa an, daß ich Ihnen hierher folgte, um mir Ihr albernes Geschwätz anzuhören?«

»Ach, sieh mal an«, wurde die Stimme nun spitz und schrill, so daß er nervös zusammenfuhr und sich scheu nach allen Seiten umsah. Dann sagte er kurz: »Ich werde Ihnen noch heute einen Scheck zukommen lassen – denn darauf geht ja wohl das ganze Theater aus.«

»Oder auch nicht.« Sie lachte jetzt so richtig niederträchtig. »Ein zärtliches Schäferstündchen möchte ich mit meinem Süßen verleben. Oder hat der vornehme Herr Graf etwa Angst, daß die Erbtocher dahinterkommen könnte, mit der man ihn verkuppeln will? Mit diesem armseligen, vermickerten Scheusal, dieser Heuschrecke…«

Sie hielt entsetzt inne, als plötzlich eine breite Gestalt wie aus dem Erdboden gewachsen vor ihr stand, und auch Edzard fuhr erschrocken zusammen.

»Ich bin’s man bloß, Herr Graf«, klang eine tiefe Stimme beruhigend auf. »Lassen Sie mich nur machen; denn mit so einem Gewürm werden Sie in Ihrer Vornehmheit ja doch nicht fertig. Da muß man grob sein können wie Bohnenstroh!«

»Wer sind Sie Flegel, was wollen Sie überhaupt hier?« kreischte die »Mondäne« angstschlotternd. Doch schon legte sich eine Hand auf ihren Mund, die bestimmt nicht die kleinste Handschuhnummer hatte.

»Aber wer wird denn gleich so kreischen«, sprach der Verwalter von Rautenau gemütlich. »Wirst doch wohl noch den guten alten Emil Blade kennen, der dich einmal gehörig verprügelte, weil du ihm Mottenpulver in den Tabaksbeutel streutest – und der dann deine armen Eltern trösten mußte, als du mit dem alten Krauter durchgingst. Sag mal, Blanka, ist der eigentlich eines natürlichen Todes gestorben? Aber damit du diese Frage beantworten kannst, muß ich dir wohl zuerst den Mund freigeben.«

Er tat’s – und dann lachte er hinter der Frau her, die davonhetzte, als wären tausend Teufel hinter ihr drein. Doch bevor er noch etwas sagen konnte, vernahm man ein klägliches Wimmern.

»Haben Sie das gehört, Herr Graf?«

»Ja…«

Ihre Augen, die sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten, spähten umher, entdeckten dann unweit im Gebüsch etwas Helles – und gleich darauf standen sie entsetzt vor einer Gestalt, die langgestreckt dalag.

»Nun haben wir die Bescherung«, brummte Blade. »Da ist dieses unglückselige Kind Ihnen nachgeschlichen, Herr Graf, und hat diese widerliche Auseinandersetzung mit angehört. Na, das wird ja einen guten Klamauk geben.«

Damit hob er die Ohnmächtige auf die Arme und sagte hastig zu dem jungen Gebieter, der verstört dastand:

»Wir müssen sie auf Umwegen ins Schloß bringen. Hoffentlich läuft uns keiner der Gäste dabei in den Weg.«

Doch sie hatten Glück. Unbemerkt erreichten sie das Schlafzimmer der Gräfin, wo Blade seine leichte Last auf den Diwan legte.

»Donner noch eins«, wischte er sich den Angstschweiß von der Stirn. »Ich glaube, Herr Graf, da können wir nichts machen, da müssen sich schon die Damen um die Ohnmächtige bemühen. Ich werde ihnen sofort Bescheid sagen.«

Fort war er, und verstört sah Edzard auf Doro nieder, die bewegungslos dalag. Das hagere Gesichtchen geisterhaft bleich, den Mund wie im Schmerz verkrampft.

Und dann war es die beherzte Ruth, die nicht so lange fassungslos auf das geisterhafte Mädchen starrte, wie der Gatte und die drei Sölgerthurns es taten, sondern handelte. Sie hielt dem wie tot erscheinenden Töchterlein einen mit belebender Essenz getränkten Wattebausch unter die Nase, und schon war das mit Erfolg gekrönt. Die schmale Brust begann zu arbeiten, die bläulichweißen Lider hoben sich schwer von den Augen, die umherirrten, als hätten sie bereits in eine andere Welt geschaut. Bis diese gehetzten Augen an Edzard hängen blieben.

»Nein!« schrie sie da so gepeinigt auf, daß es allen sozusagen durch Mark und Bein ging. »Nein, ich will ihn nicht mehr sehen! Er ist ja so schlecht – so erbärmlich schlecht.«

»Wer denn, mein Liebes?« fragte Ruth mit schwankender Stimme, dabei den kümmerlichen Körper des Stiefkindes, das ihr doch so fest ans Herz gewachsen war, erbarmend umfassend. »Wer hat dir denn etwas zuleide getan?«

»Edzard – er brach mir die Treue – mit dieser Kokotten – der Freundin der Frau Schratz…«

Wie auf Kommando gingen jetzt die Blicke der verstörten Menschen zu dem jungen Mann hin, der dastand – mit hängendem Kopf, mit hängenden Armen – wie das personifizierte Schuldbewußtsein.

»Edzard… du…?« fragte die Mutter so jammervoll, da er wie ein ertappter Sünder zusammenfuhr und bis in die Lippen erblaßte. Nicht ein Wort bekam er über die verkrampften Lippen – und das bedeutete gewissermaßen sein Todesurteil. Es herrschte eine an Herz und Nerven zerrende Stille im Raum, bis Doro aufschrie, ganz dünn und hell:

»Bring mich fort, Paps – bring mich fort. Er ist ja so schlecht – so abgrundtief schlecht – er hat mir das Herz gebrochen!«

Da biß der gepeinigte Vater die Zähne zusammen, hob seine Tochter auf die Arme, hastete davon, die Gattin folgte – und dann klappte die Tür zu.

»Edzard, um Gottes willen, was hat das zu bedeuten!« fuhr der Vater sich buchstäblich in die Haare. »Rede doch endlich, Junge! Steh doch nicht da wie ein Gebild aus Stein!«

Vom Park her kam flotte Musik, fröhliches Lachen perlte dazwischen.

»Lassen wir das«, sprach Edzard jetzt so hart, wie die Eltern es noch nie von ihm gehört. »Wir müssen uns jetzt um unsere Gäste kümmern. Später werde ich euch alles erklären.«

Er ging – und die Mutter weinte heiß auf. Der Gatte, der sie umfaßte, merkte, wie sie an allen Gliedern bebte.

»Liebste Frau, ich bitte dich, werde nicht auch noch ohnmächtig«, flehte er in heißer Herzensangst. »Komm, ich bring dich zu Bett –«

»Das geht nicht, Bertram«, winkte sie ab, die Tränen dabei trocknend. »Man würde mich unten vermissen. Mach dir keine Sorge, ich halte schon durch.«

Das tat sie denn auch in bewundernswerter Haltung. Keiner der Gäste wäre auf den Gedanken gekommen, daß die liebenswürdig lächelnde Gastgeberin so voller Angst und Sorge war. Der Gatte ließ sie nicht aus den Augen, weil er fürchtete, daß sie jeden Augenblick in sich zusammensinken könnte.

Und Edzard? Nun, der war ganz der Sohn seiner beherrschten Eltern. Er tanzte, lachte und scherzte – und dabei war ihm so erbärmlich zumute.

*

Als Edzard nach dem Ende des ­Festes das Schloß betrat, tat er es schleichend wie ein Dieb. Nur jetzt nicht noch dem Vater Rede und Antwort stehen müssen, erst einmal mit sich selbst fertig werden.

Allein, das sollte ihm nicht vergönnt sein. Denn die Wohnzimmertür öffnete sich, und der Senior stand auf der Schwelle.

»Auf ein Wort, Edzard.«

»Hat das nicht Zeit bis morgen?«

»Nein, das hat keine Zeit«, kam es unwillig zurück. »Gekniffen wird hier nicht, mein Lieber.«

Wenig später stand der Sohn dann dem Vater gegenüber, der ohne Umschweife begann:

»Setzen wir uns. Und dann möchte ich auf meine Fragen klipp und klare Antworten haben. Erkläre mir, was Doro damit meinte, daß du ihr – die Treue – und das Herz – brachst. Denn schließlich wurde das Mädchen gerade erst siebzehn Jahre alt – und ist außerdem in ihrer ganzen Entwicklung zurückgeblieben. Du hast doch nicht etwa mit diesem Kind…«

»Ich habe gar nichts!« brauste Edzard jetzt dazwischen. »Für wie geschmacklos hältst du mich eigentlich!«

Danach war es erst einmal beklemmend still, dann fragte der Vater kurz:

»Und was war das für eine – Dame –, die diese obskure Schratz uns so mir nichts, dir nichts ins Haus brachte? Kanntest du sie?«

»Ja.«

»Woher?«

»Von meiner letzten Reise.«

»Dann hast du…«

»Ja, ich habe.«

»Ja, sag mal, mein Sohn, schämst du dich denn gar nicht, mit so einer zwielichtigen Person – anzubändeln? Nun sehe ich endlich klar. Sie ist dir hierher gefolgt, um dich an dein Versprechen zu mahnen.«

»Unsinn!« schnitt der Sohn dem Vater schroff das Wort ab. »Ich habe gar nichts versprochen, dafür bin ich viel zu vorsichtig der Weiblichkeit gegenüber. Es wäre auch alles halb so schlimm, wenn Doro uns nicht nachgeschlichen wäre und unser Gespräch belauscht hätte –«

»Großer Gott, auch das noch!« stöhnte Bertram gepeinigt auf. »Junge, mit dieser Kokette hast du dir dein ferneres Leben zerstört. Sieh mich nicht so verständnislos an – es ist zum Wahnsinnigwerden!«

Und dann brach es aus ihm heraus, alles das, was er mit seinem Freund Sander geplant und erhofft. Schonungslos eröffnete er dem Sohn, wie es um Rautenau stand – und ganz blaß hörte dieser zu.

»Na, wenn das keine niederschmetternde Eröffnung ist!« lachte er dann auf, so hart, so rauh, so voll bitterster Verzweiflung, daß dem Vater das Herz brechen wollte vor Jammer. Doch ehe er noch etwas sagen konnte, war der Sohn schon hinausgestürmt…

Und somit endete das herrliche, unbekümmerte Leben des Herrensöhnchens Edzard Sölgerthurn.

*

Es gab nun Wochen verzweifelter Angst und Not. Und nicht nur in der Villa, sondern auch im Schloß.

Und wenn man so sagt, daß ein Mensch sich über Nacht verändern kann, dann traf das bei Edzard Sölgerthurn voll und ganz zu. Denn aus dem strahlenden »Götterknaben« war ein Mann geworden – ein Mann, der über Nacht das Lachen verlernt zu haben schien. Und hatte er sich früher nie um den landwirtschaftlichen Betrieb gekümmert, so tat er es jetzt mit Verbissenheit. Gönnte sich weder Rast noch Ruh, bis es selbst dem sehr tüchtigen Verwalter zuviel wurde.

»Herr Graf, das ist ja nun wohl übertrieben«, sagte er an einem Tag, dabei besorgt in das Gesicht seines jungen Gebieters sehend, das sich in den vergangenen Wochen so sehr verändert hatte. Schmal war es geworden, hart und kantig. Die Augen, die einst so gestrahlt, blitzten jetzt wie kalte Kiesel, und wenn der harte Mund sich einmal zum Lächeln verzog, geschah es voll Bitternis und Sarkasmus.

»Herr Graf, wenn Sie das weiter so treiben, machen Sie sich kaputt.«

»Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen«, kam es verbissen zurück. »Wie steht es überhaupt, werden wir die Zinsen aufbringen können? Denn von Herrn Sander haben wir keine Rücksicht mehr zu erwarten.«

»Leider –«, knurrte der Verwalter wie ein bissiger Kettenhund. »Der hegt und hätschelt seinen Groll wie ein zartes Baby. Wie geht es übrigens Fräulein Sander?«

»Sie scheint jetzt endlich über den Berg zu sein, wie man so sagt. Man erfährt ja nichts Genaues, weil Herr und Frau Sander sich von uns nicht sprechen lassen, weder persönlich noch fernmündlich. So gibt denn der Diener das Befinden der Kranken täglich durch, obwohl wir ihn darum nicht angingen.

Übrigens, Herr Blade, wenn wir das Geld für die Zinsen nicht zusammenkriegen sollten, bin ich bereit, das Nebengut Lindgau zu verkaufen. Sie wissen ja, daß mein Großvater es mir persönlich vermachte, weil es nicht direkt zu Rautenau gehörte, sondern von meiner Großmutter mit in die Ehe gebracht wurde. Also ist es mein unumschränktes Eigentum.«

Damit ging er – und der Verwalter sah ihm mitleidig nach.

Armer Kerl! Was andere verbrachen, dafür mußt du jetzt büßen. Denn nicht nur dein Vater machte sich an dir schuldig, indem er dich so unbekümmert in den Tag hineinleben ließ, sondern auch Sander, weil er das mit stets bereitgehaltenem Portemonnaie begünstigte. Und nun er dafür geradestehen soll, schmollte er wie ein vertrotztes Kind.

Nun, mit der Annahme tat der erbitterte Verwalter dem Mann unrecht. Er schmollte durchaus nicht, sondern bangte um das Leben seiner Tochter, das wochenlang wie an einem seidenen Faden hing. Also konnte man ihm nicht verdenken, daß er demjenigen bitter gram war, der seiner Ansicht nach die Krankheit seines Kindes verschuldet hatte. Der verbissene Groll begann sich erst langsam zu legen, als seine so sehr geliebte Dörth außer Gefahr war und man sie zur Erholung nach dem Süden gebracht hatte. Ruth und der Junge blieben bei der Rekonvalenszentin, während Georg sich nur eine Woche bei ihr aufhalten konnte. Länger ging es nicht, die Arbeit rief.

Nach Hause zurückgekehrt, erfuhr Sander dann, daß Lindgau zum Verkauf stände. Warum, war dem Mann natürlich klar. Man konnte in Rautenau nicht die Zinsen aufbringen, und so war der junge Graf gezwungen, sein persönliches Eigentum herzugeben, weil das nicht der Herrschaft Rautenau unterlag, von der kein Stück laut Familiengesetz veräußert werden durfte.

Nun, dieser Verkauf paßte Sander nicht. Also erschien er bei Bertram Sölgerthurn, vor dessen Anblick er erschrak. Alt, müde und grau sah er ihm entgegen.

»Keine Angst, du sollst zu deinem Recht kommen«, sagte er bitter. »Die Zinsen werden pünktlich gezahlt.«

»Quatsch!« tat der andere unwirsch ab, während er unaufgefordert Platz nahm. »Deshalb erscheine ich nicht, sondern um zu verhindern, daß Lindgau verkauft wird. Du scheinst den Kopf verloren zu haben, mein lieber Freund.«

»Freund…?« dehnte der Graf. »Ich weiß nicht.«

»Aber ich weiß«, wurde er barsch unterbrochen. »Und zwar, daß ich nicht zugeben werde, daß dieses schöne Gut verkauft wird. Kannst du die Zinsen nicht pünktlich aufbringen, dann werde ich sie dir eben stunden – basta!«

»Das will Edzard nicht.«

»Ach was, grüne Jungen haben gar nichts zu wollen. Mag er lieber Gott danken, daß mir mein Kind nicht genommen wurde – sonst –«

»Laß mir den Jungen in Ruhe. Er ist wahrlich genug für etwas gestraft, was er gar nicht verbrach. Sieh ihn dir doch an, was in den sechs Wochen aus ihm geworden ist. Das Herz im Leib könnte sich einem umdrehen vor Jammer.«

»Das machen bei ihm die Gewissensbisse.«

»Gewissensbisse –?« brauste Bertram jetzt auf. »Warum sollte er denn welche haben, wenn ich fragen darf! Daß deine hysterische Tochter ihn als ihr Eigentum betrachtete, dafür kann er doch wahrlich nichts. Laß dir erklären…«

»Danke. Was ich wissen muß, hat meine Tochter in ihren Fieberphantasien hinlänglich erklärt.«

»Na also! Du stehst auf der Seite deines Kindes, ich auf der des meinen. Somit wäre wohl jeder Kommentar überflüssig.«

»Das scheint es tatsächlich zu sein.«

Eine steife Verbeugung. Sander ging – und der Graf stöhnte gepeinigt auf.

*

Fast drei Jahre waren vergangen. Drei Jahre, wo man bei dem Industriellen Sander das Sprichwort anwenden konnte: Wer Tauben hat, dem fliegen Tauben zu. Denn sein Reichtum mehrte sich. Was er auch beginnen mochte, das glückte, scheffelte Geld noch und noch.

Und bei den Sölgerthurns? Da konnte man mit dem Sprichwort sagen: Wer Unglück haben soll, stolpert im Grase, fällt auf den Rücken und bricht die Nase.

Denn was man in Rautenau auch tat, immer stand ein Unstern darüber. Verregnete Ernten, Viehseuchen, tödliche Krankheiten in der Pferdezucht und noch so manches Erschütternde mehr. Es schien fast, als hätten sich alle Teufel gegen die Sölgerthurns verschworen.