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Claudia Schuster

 

 

Into Blackness

 

Die Schwärze hinter dem Licht

 

Band 1

Impressum

© tensual

http://www.tensual.de

Ein Imprint des dead soft verlag, Mettingen 2015

http://www.deadsoft.de

 

© the author

 

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com/

 

Bildrechte:

© Serg Zastavkin – fotolia.com

© Paulista – fotolia.com

 

1. Auflage

ISBN 978-3-946408-01-7

ISBN 978-3-946408-00-0 (epub)

 

Tag 1

 

Endlich Feierabend, dachte Carla Jansen und schulterte ihre Sporttasche. Mit einem Gruß verabschiedete sie sich von Inspektor Li, dem Trainer. Sie trat durch die Tür des Sportcenters und blieb neben ihrem Arbeitskollegen Milo stehen. Sie atmete tief durch. Eine Brise kitzelte ihre nackten Arme. Das Klimasystem hier auf Bat’klan war nahezu perfekt. Carla vergaß oft, dass sie unter Thermokolloid-Hauben eingeschlossen war. Es würde Jahrhunderte dauern, bis der Planet eine natürliche Atmosphäre entwickelt hatte, und so lange musste das Leben unter riesigen Kuppeln stattfinden.

„Du hattest heute Dienst bei Estella Barr, nicht wahr?“, fragte Milo und strich sich eine Strähne seines lockigen Haares hinter das Ohr.

„Ja. Hör mir bloß auf!“ Carla verdrehte die Augen. „Hank hat den Auftrag abgegeben, nach der Pumps-Affäre. Ich musste seine Schichten übernehmen.“

Paz Colabriera trat aus dem Sportcenter. Sie trainierte oft gemeinsam mit den Personenschützern.

„Pumps-Affäre?“ Paz hob ihre Augenbrauen. „Davon weiß ich gar nichts.“ Sie zog ihr enges Top zurecht.

„Na, ihr bei der Polizei kriegt ja überhaupt nichts mit“, frotzelte Milo und grinste frech.

„Der blanke Neid eines Babysitters“, erwiderte Paz, um ihn ein bisschen aufzuziehen.

Milo war stolz, zur Personenschutztruppe des Protektors zu gehören.

„Hört schon auf ihr zwei“, bremste Carla. „Lasst mich lieber erzählen.“

„Ja, schieß los!“

Sie verließen die Einfahrt der Trainingshalle und bogen rechts ab in Richtung Haltestelle. Die Entfernungen innerhalb einer Kuppel waren klein, weshalb die meisten Einwohner Bat’klans auf eigene Fahrzeuge, die N-Teks, verzichteten. Das Transportnetz der BB – Bat’klan-Bahn – war gut ausgebaut.

„Also“, setzte Carla an, „vor zwei Tagen machte Hank die Schicht bei Estella Barr. Sie hat ihn ihren Schuhschrank ausräumen lassen, weil sie neu sortieren wollte.“

„Sie hat was?“, fragte Paz entgeistert. „Das ist doch Aufgabe des Personals und nicht des Personenschützers!“

„Du hast ja keine Ahnung“, sagte Milo. „Das ist oft so. Wir sind ständig um sie herum. Wenn du nicht aufpasst und nicht dauernd Grenzen ziehst, wirst du immer wieder zu was eingespannt.“

„Sie lässt dich eine Stoffbahn halten, eine Tasche tragen und was weiß ich noch alles“, erklärte Carla. „Hank hat es mit den Schuhen erwischt.“

Paz kicherte.

„Uns ging es genauso wie dir. Man muss einfach lachen, wenn man sich dieses Gebirge von einem Mann vorstellt, der in seinen esstellergroßen Händen Stilettos durch die Gegend trägt“, setzte Milo nach.

„Der Einzige, der es überhaupt nicht lustig fand, war Hank“, ergänzte Carla feixend. „Als er gemerkt hat, dass wir auch noch über ihn lachten, hat er den Auftrag einfach hingeschmissen. – Und jetzt müssen wir ran.“

„Na ja … typisch Hank … Ein Sargnagel ist humorvoller als er“ Milo schnaubte.

Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen, als die Bahn heranglitt.

Mit Hilfe der Abtaststrahlen am Unterboden, die man im Sonnenlicht nicht sah, tarierte sie sich automatisch zur Gehweghöhe aus und schmiegte sich an den Rand. Carla stieg mit ihren beiden Trainingspartnern ein und verzog die Nase. Es war eine Transferbahn, die zwischen den Kuppeln eins und zwei verkehrte. Das Desinfektionsmittel der Schleuse haftete noch der Ceramo-Oberfläche an. Den Geruch konnte sie nicht leiden, aber zum Glück wurde nur außen gesprüht.

Die Rush-Hour war vorbei, die zehn Meter lange Bahn so gut wie leer. Carla zählte nur vier Fahrgäste. Erleichtert ließ sie sich in einen Gelopadsitz plumpsen. Sie war hundemüde. Nach dem Training spürte sie, wie immer, jeden Knochen. Selbstverteidigung war nun mal keine Schwangerschaftsgymnastik und Pflicht für jeden Bodyguard. Sie atmete kurz durch und sah Paz an. „Heute hat einer dieser Spaßvögel Hanks Arbeitsschuhe im Spind durch hochhackige Pumps ersetzt. Meine Güte, hat der getobt! Richtig sauer ist er geworden. Ich dachte, er haut die Metallschränke zu Klump.“

„Dass der sich so leicht aus der Ruhe bringen lässt“, wunderte sich Paz. „Hank sieht aus, als würde er Stahlschrauben frühstücken.“

„Da hast du’s, die schlagen ihm auf den Magen. Da wäre ich auch gereizt.“

Milo ächzte, als Carla ihn in die Seite boxte. „Du altes Lästermaul, wahrscheinlich warst du das mit den Pumps!“

„Zuviel der Ehre, gnä’ Frau. Diese exzellente Idee war leider nicht von mir. – Mädels, wollen wir nicht noch was trinken gehen?“ Er zog sich an den Armlehnen aus dem Sitz hoch, um sich aufrecht hinzusetzen. Das Gelopad nahm am Kopfteil wieder seine ursprüngliche Form an.

Carla winkte ab. „Nee, du, lass mal. Heute nicht. Ich bin alle. Ich will nur noch heim und vorm Fernseher absacken.“

„Wie langweilig! Da ist einmal dein Macker nicht zu Hause, und du nutzt das nicht aus.“

„Milo, du Holz! Marc ist kein Macker. – Nein wirklich, ich bin platt. Meine Energie reicht nur noch für ’n Film.“

„Bei mir nützt dein Welpenblick auch nichts, Milo.“ Paz wedelte abwehrend mit den Händen. „Ich komme nicht mit. Ich habe noch was anderes vor.“

„Och, Menno! Was ihr jetzt meinem sensiblen Männerego angetan habt, darüber denkt ihr wohl gar nicht nach.“ Er schob die Unterlippe vor.

Carla tätschelte seinen Arm. „Du wirst es verkraften, starker Mann.“

An den Fenstern der Bahn glitten Alleebäume vorbei, sie waren im Segment H angekommen. Die automatisierte Stimme im Abteil sagte Carlas Haltestelle an, als sie sich erhob. Die Bahn bremste und Carla musste sich festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Die Trägheitsdämpfer reichten nicht aus, um die Bewegungsenergie zu absorbieren. So etwas kam manchmal vor, vermutlich stand die nächste Inspektion kurz bevor.

„Wir sehen uns morgen, Milo. Tschüss, ihr zwei und viel Spaß noch!“

„Warte Carla, ich steige auch aus“, meldete sich Paz. „Gleich um die Ecke gibt es einen Laden, den will ich mir mal ansehen.“

Mit dem Geräusch von Fingern, die über Samt strichen, glitten die Türen auf und die Wärme des Sonnentages schlug ihnen entgegen. Sie stiegen nacheinander aus.

Die Bahn fuhr weiter, Milo winkte ihnen hinter dem matt getönten Ceramo-Suspensionsfenster noch einmal zu.

 

Neben dem Weg zog ein Gartenroboter in einer Rabatte seine Bahnen. Er jätete, lockerte das Erdreich und goss die Blumen, die wie Veilchen aussahen, aber nach Jasmin dufteten. Vermutlich eine für das Kuppelklima geeignete neue Züchtung. Der Roboter arbeitete beinahe geräuschlos.

„Jetzt mal im Ernst, Carla. Ist Estella Barr wirklich so eine anstrengende Frau?“, fragte Paz.

„Na ja, die Schichten bei ihr sind nicht gerade beliebt. Unsere Truppe wechselt turnusmäßig. Permanent würde das keiner machen wollen. Sie kann schon recht zickig sein.“

„Hm … kein Wunder, wenn man die Tochter eines der reichsten Männer des Universums ist.“

„Meinst du, Geld verdirbt zwangsläufig den Charakter? Scheiße, ich wollte eigentlich reich werden.“ Carla lachte. „Man hat eine riesige Verantwortung als Personenschützer, und Estella macht es uns nicht gerade leichter.“

„Ist wirklich ständig jemand bei ihr?“

„Ja, rund um die Uhr, deshalb arbeiten wir auch im Drei-Schicht-Betrieb. Und wir werden gedrillt, das kann ich dir sagen. Protektor Barr hat sehr genaue Vorstellungen, wie seine Tochter beschützt werden muss.“

„Das habe ich schon gehört. Aber warum eigentlich? Ist sie wirklich in Gefahr?“ Paz lebte noch nicht lange auf Bat’klan.

Sie blieben stehen und machten einer Frau Platz, die ihnen mit einem Zwillingskinderwagen entgegenkam. Eines der Babys weinte und die Mutter war damit beschäftigt, es zu beruhigen.

„Es wurde erst so schlimm mit dem Protektor, nachdem seine Frau gestorben ist. Also, mit schlimm meine ich die Angst, die Protektor Barr um seine Tochter hat.“ Carla machte eine kurze Pause und sah auf die blinkende Plakette an einem Alleebaum. Er sah gesund aus, aber vermutlich stimmte etwas nicht mit der Nährstoffversorgung. Bald würde ein Biotechniker kommen und sich darum kümmern.

„Seine Frau wurde von einem Fanatiker getötet“, sagte Carla mit Blick auf Paz.

„Hier auf Bat’klan?“

„Nein, auf der Marskolonie. Barr und seine Frau waren dort zusammen auf einer Geschäftsreise. Genaueres weiß ich auch nicht. Aber seither hat der Protektor Angst um seine Tochter.“

„Das macht ihn ja beinahe menschlich.“

„Wieso, wie meinst du das?“

„Mit so viel Geld bist du doch eher ein Gott oder ein König und kein normaler Mensch. So stelle ich mir das jedenfalls vor. Du kannst dir jeden Wunsch erfüllen, alles dreht sich nur um dich, andere erledigen für dich deinen Kram. Das muss herrlich sein!“

„Nein, Paz, das kannst du vergessen. Sein Geld hat dem Protektor nichts genützt. Seine Frau ist tot und für kein Geld der Welt wird sie wieder lebendig. Nicht nur anständige Menschen interessieren sich für dich, wenn du so reich bist, sondern auch Verbrecher. Ich kann die Sorge des Protektors um seine Familie verstehen. Ich hab schon einiges erlebt im Dienst.“

„Echt? Dann ist deine Arbeit ja richtig gefährlich!“

„Mitunter schon. Besonders auf außerplanetaren Einsätzen. Der Protektor ist viel unterwegs und seine Tochter ebenfalls in letzter Zeit. Nur seine Schwester, Dr. Nanomin, verreist nicht oft.“

Die Alleebäume waren jung, sodass zwischen ihren Kronen Sonnenstrahlen auf die Gehwegplatten aus Granit fielen. Die Feldspateinschlüsse glitzerten im Licht.

Paz blieb stehen, zog eine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf. „Dr. Nanomin bin ich noch nicht begegnet. Wie ist sie so?“

„Sie ist eine tolle Frau.“

„Also ist sie nicht so schwierig wie ihre Nichte Estella?“

„Nein, überhaupt kein Vergleich! Sie ist eine pragmatische Frau. Die Dienste bei ihr sind angenehm.“

Sie schlenderten weiter und wurden von einem Jogger überholt. Er trug eine enge Hose und auf dem entblößten Oberkörper prangten zahlreiche Dermaplikationen. In die Haut eingepflanzte Edelsteine waren momentan der letzte Schrei.

Paz schüttelte sich. „An diese Mode kann ich mich nicht gewöhnen. Ich finde es gruslig.“

Carla schmunzelte. „Da müsstest du dich mal mit Dr. Nanomin unterhalten. Sie ist ganz deiner Meinung. Sie hat ihrer Nichte einen Vortrag gehalten, welche Komplikationen auftreten können. Also, mir ist ganz schlecht davon geworden, aber Estella hat sich trotzdem dermaplizieren lassen.“

Paz verdrehte die Augen.

Eine N-Tek glitt geräuschlos vorbei.

Carla hängte sich die Tasche über die andere Schulter und zog eine eingeklemmte Haarsträhne unter dem Tragriemen hervor. Nach dem Duschen im Trainingscenter hatte sie auf einen Haargummi verzichtet. Sie ließ ihr Haar gern an der Luft trocknen. Sie schüttelte kurz den Kopf, und der kräftige Duft von Herbs & Spices stieg ihr in die Nase.

Marcs Shampoo. Wenn er für ein paar Tage wegmusste, benutzte sie es, wie auch sein Duschgel und sein Deo. Sie schlief sogar in seinem Pyjama. Sie sagte ihm das nicht, das war ihr kleines Geheimnis. Der vertraute Geruch entspannte Carla, ließ sie lächeln.

Ein Bistro nutzte den Platz bis an den Gehweg heran. Auf den Stühlen lagen dicke, rot-weiß gestreifte Kissen, das Lokal war bereits gut besucht. Bunte Cocktails hoben sich von den weißen Leinentischdecken ab und zogen die Blicke auf sich.

„Wollen wir noch kurz was trinken?“, fragte Paz.

„Warum nicht, meinen Film kann ich auch später noch gucken.“

Paz ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. „Ich trinke ein Feierabendbierchen! Du auch?“

„Ich nehme einen Fruchtcocktail. Bier ist nicht so mein Ding.“ Carla versuchte, so natürlich wie möglich zu klingen. Sie lächelte und gab dem Kellner ein Zeichen. Alkohol, das war früher. Carla war stolz auf sich. Aber sie schaffte es immer noch nicht, offen vor anderen darüber zu reden.

Die Getränke wurden gebracht. Sie spießte eine der prallen Erdbeeren in ihrem Cocktail auf und schob sie in den Mund. Das Aroma erfüllte ihren Gaumen. „Hast du gemerkt, wie der Kellner dich angelächelt hat?“, sagte sie, noch kauend zu Paz. „Du gefällst ihm. Der ist auf einen Flirt aus.“

Paz lachte. „Nein, das habe ich nicht gemerkt, ist aber auch egal. Kein Interesse.“

„Aber du kennst ihn ja noch gar nicht. Vielleicht ist er ganz nett.“

„Kann schon sein, aber …“, Paz zögerte, sah auf ihre Hände, die das Bierglas umschlossen hielten, „er ist nun mal ein Mann.“

„Ach so. – Willst du mal meinen Cocktail probieren?“ Einladend hielt Carla ihr den Becher hin.

Paz lächelte. „Weißt du, dass ich gerade vor Freude tanzen möchte?“

„Weil ich meine Erdbeeren mit dir teile?“

„Nein, wegen dem ach so. Ich kann zugeben, dass ich nicht auf Männer stehe. Einfach so. Und es passiert nichts. Gar nichts. Ich werde nicht beleidigt, beschimpft oder ausgegrenzt. Ich darf einfach ich sein“, Paz drehte das Glas zwischen ihren Fingern hin und her, schaute auf die Tischdecke, „deshalb wollte ich unbedingt nach Bat’klan. Hier herrschen liberale Zustände, Gleichberechtigung.“

„Woher kommst du eigentlich?“, wollte Carla wissen. Sie war hier geboren, kannte andere Planeten nur von Dienstreisen.

„Ich bin auf Endosta geboren und aufgewachsen.“

„Oh! Ich verstehe. – Mein Vater stammt von Endosta.“ Carla deutete auf ihr Gesicht. Ihre dunkle Hautfarbe hatte sie von ihm geerbt.

„Dann brauche ich dir nichts weiter zu erklären.“

Endosta war ein hochtechnisierter Planet mit guter Infrastruktur und florierender Wirtschaft. Allerdings stand er unter der Führung der Vereinigung Wahrer des Lichtes, einer dogmatischen Religionsgemeinschaft. Jeder, der nicht in die Schablone der Wahrer passte, hatte mit Repressalien zu kämpfen.

„Meine Eltern gehörten zu den ersten Siedlern auf Bat’klan. Noch heute feiern wir den Tag der Einbürgerung wie einen zusätzlichen Geburtstag“, erklärte Carla.

„Was für ein schöner Brauch. Das werde ich auch machen. Endosta war ein Gefängnis!“ Paz ließ das Bierglas los, gestikulierte. „Es war ein endloses, Nerven zerreibendes Versteckspiel. Das hält keine Beziehung auf Dauer aus. Man verbiegt sich immer mehr, bis man nicht mehr der Mensch ist, der man einmal war. Hier auf Bat’klan hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass ich frei atmen kann. Es ist wunderbar!“

„Ich freue mich so für dich“, sagte Carla, drückte kurz ihren Unterarm und musste schmunzeln. „Dann brauche ich aber nicht darauf zu warten, dass du und der Inspektor ein Paar werdet?“

Paz, die gerade an ihrem Bier nippte, verschluckte sich. „Wie bitte? Inspektor Li und ich? Das kann nicht dein Ernst sein! Wie kommst du nur auf so etwas?“

„Na ja, ihr macht den Eindruck, als würdet ihr euch gut verstehen. Ihr arbeitet miteinander, seht euch oft, seid beide neu hier und seht auch noch nett zusammen aus.“ Carla zuckte die Schulter. „Warum also nicht?“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. – Wir sehen nett zusammen aus?“

„Nun, ich sehe euch immer zusammen beim Training und ihr macht so einen aufeinander eingespielten Eindruck. Als würdet ihr euch blind verstehen. Freundschaft und so was eben.“

„Das täuscht. Inspektor Li ist ein korrekter Vorgesetzter, er schreit nicht rum, hat Geduld und nimmt sich die Zeit, vieles zu erklären. Ich schätze ihn sehr. Aber er ist sehr reserviert. Kannst du dir vorstellen, dass wir noch nie ein einziges privates Wort gewechselt haben? Wenn wir miteinander sprechen, geht es immer nur um den Beruf.“

„Kaum zu glauben.“

„Aber so ist es! Private Fragen ignoriert er, weicht ihnen aus.“

„Wie seltsam!“

„Schon, aber was soll’s. Er ist ’n prima Chef, das reicht mir. Ich weiß nun, wie er tickt und frage ihn einfach nichts Persönliches mehr.“

„Ja, aber warum ist er so?“

„Schlechte Erfahrungen, wer weiß.“ Paz zuckte mit den Schultern. „Er kommt von Tharkos, das ist ein knochenharter Planet. Dort kriegst du nichts geschenkt.“

Der Kellner kam an den Tisch. „Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“

Sie beschlossen aufzubrechen.

„Ich lade dich ein“, sagte Paz, „schließlich habe ich dich zu diesem Drink überredet.“ Sie zwinkerte Carla zu.

„Nein, kommt gar nicht infrage!“, wehrte Carla ab, doch Paz hatte dem Kellner bereits ihr Handgelenk mit dem Uni-Sys hingehalten. Der Kellner wies mündlich den Betrag an, Paz kontrollierte ihn auf dem Soft-Shell und bestätigte. Die Transaktion war getätigt.

Carla erhob sich.

Paz trat neben sie, legte eine Hand auf ihre Schulter. „Weißt du, ich könnte mich immer noch kugeln vor Lachen, wenn ich dran denke, wie du Li geküsst hast.“ Paz ließ ein Glucksen erklingen. Es kam tief aus der Kehle.

Carla errötete. „Das ist mir so unangenehm! Hör bloß auf damit!“ Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

„Ich habe noch nie so viele dumme Mienen auf einmal gesehen! Der Protektor, Li, Estella … herrlich! Ein Bild für die Götter.“

„Schluss jetzt, Paz! Ich will davon nichts mehr hören! Ich war völlig überdreht in dem Moment, nicht zurechnungsfähig. Ein Anruf … weißt du, meine Schwester hatte eine schwierige Operation gut überstanden … Ich hätte einen Laternenpfahl geküsst, wäre einer in der Nähe gewesen.“

„Der hätte sich vermutlich sogar weniger steif gegeben, als der Inspektor. Ab dem Moment warst du meine Heldin. Grandios!“ Paz lachte.

Carla machte ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Sie hatte sich hinterher mehrfach bei Inspektor Li entschuldigt. Jetzt zu erfahren, dass er sich sogar Paz gegenüber reserviert verhielt, machte die Angelegenheit im Nachhinein noch peinlicher.

„Schon gut, ich werde es nie wieder erwähnen“, erlöste sie Paz, „vielleicht kannst du in ein paar Jahren drüber lachen.“ Sie klopfte ihr beruhigend auf den Rücken.

Kurz nach dem Bistro trennten sich ihre Wege. Carla hatte es nicht mehr weit bis zu ihrer Wohnung. Sie winkte Paz noch einmal kurz zu, als sie um eine Häuserecke bog. Sie mochte Paz. Vielleicht konnte aus Sympathie Freundschaft werden.

Eine Klimadrohne flog leise summend vorbei. Die Atmosphäre wurde kontinuierlich überprüft. Das war in dem geschlossenen Kuppelsystem unbedingt notwendig, um das sensible Gleichgewicht zu halten. Die Simulation von ganz normalem Wetter gelang meist hervorragend. Genau das richtige Maß an Regenzeiten war eingeplant, um den Bewohnern von Bat’klan die Vorfreude auf die Sonnentage nicht zu nehmen.

Carla erreichte ihre Wohnanlage, betrat die Eingangshalle. Zitronenduft lag in der Luft. Die Reinigungsroboter standen an der Wand aufgereiht. Der Hausmeister befüllte sie mit ätherischen Ölen.

Der Aufzug brachte Carla rasch in den zweiten Stock. Vor der Wohnung hielt sie das Handgelenk mit dem Uni-Sys an die Identifikationseinheit. Gleichzeitig tastete ein Scanner die biometrischen Daten ihres Gesichtes ab und erkannte ihre Zugangsberechtigung. Mit leisem Klicken öffnete sich die Tür. Carla drückte sie mit der Schulter ganz auf und trat ein. Sie stellte die Sporttasche ab und schlüpfte aus den Schuhen.

Sie dachte an Marc, daran, was er wohl gerade tat. Es war schön, mit ihm verheiratet zu sein, einen Menschen an der Seite zu haben, der einem so vertraut war. Sie liebte ihn. Trotzdem genoss sie die seltenen Abende, an denen sie die Wohnung für sich allein hatte.

Sie ging durch den Flur Richtung Küche, und ihre Füße federten auf dem Bodenbelag. Es war Sisal, ein Luxus, den sie sich gegönnt hatten. Carla hatte lange nach der richtigen Färbung gesucht: grau-blau. Eine Farbe, die Marcs Augen ähnelte. Aber das hatte sie ihm natürlich nicht gesagt. Die harten Naturnoppen des Teppichs massierten ihre Fußsohlen. Sie merkte, wie sie sich entspannte.

Zwei Schritte vor der Küchentür brach für Carla das Universum auseinander. Es war der Moment, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Dann geschah alles gleichzeitig: Sie versuchte sich umzudrehen, sah einen Schatten auf sich zustürzen, und noch ehe sie die Arme nach oben reißen konnte, explodierte Schmerz in ihrem Kopf.

 

* * *

 

Inspektor David Li betrat den Duschraum des Sportcenters. Es war spät, die Trainingsgruppe war schon lange weg. Der immer noch in der Luft hängende Wasserdampf legte sich wie ein feuchtes Tuch auf seine nackte Haut, und der Geruch von Duschgel und Männerschweiß stieg ihm in die Nase. Jemand hatte sein Handtuch vergessen. Bunt hing es an einem Haken und zog seinen Blick an, ein Farbklecks auf pastellfarbenen Fliesen. Das Tropfen eines Wasserhahns war das einzige Geräusch, das zu hören war.

David Li hatte nach Beendigung der Übungseinheit in der Turnhalle noch die große Form des Tai-Chi geübt. Er mochte den flüssigen Bewegungsablauf und konzentrierte sich auf die präzise Ausführung der einzelnen Figuren. Die Langsamkeit des Tai-Chi und die wechselnde Spannung der Muskeln machten seinen Geist frei. Meistens jedenfalls.

Heute war es ihm nicht so recht gelungen. Die Sache spukte ihm noch immer im Kopf herum. Warum kann man Gedanken nicht einfach wie eine Lampe ausschalten, dachte er. Unschlüssig starrte er auf das Handtuch. Nichts war einsamer als ein Ort, der sonst vom Lärm vieler Menschen erfüllt wurde. Er musste sich zwingen, die Dusche zu betreten, zog das Handtuch von seinen Hüften und trat rasch unter den Brausekopf.

Das Wasser, Robaine, nur das klare Wasser im Überfluss hat mich hierher gelockt, hatte er, im Versuch zu scherzen, erst kürzlich zu seinem Freund, Protektor Robaine Barr, gesagt. Es grenzte für ihn noch immer an ein Wunder, sich mit Wasser waschen und sogar baden zu können. Auf Tharkos hatte er nur Ultraschallduschen gekannt. Wasser war Luxus. Luxus war teuer. Und Li war nicht reich. So einfach war das.

„Ein plausibler Grund!“ Robaine hatte gelacht und ihm auf die Schulter geklopft. Sein Freund war der Einzige, der wusste, warum er wirklich nach Bat’klan gekommen war. Mit Wasser hatte es nichts zu tun. Doch auf Robaines Verschwiegenheit konnte er sich verlassen. Die Sache war der Grund, warum er hier war, auf Bat’klan, dem fünften Planet im Jhudailon-System, unter der administrativen Führung von Robaine Barr.

„Es freut mich sehr, dass du endlich hier bist!“, hatte Robaine an seinem ersten Tag gesagt. „Du hättest mein Angebot längst annehmen sollen.“

David hatte dazu nur genickt. Was sollte er auch sagen? Er sollte dankbar sein, aber es fühlte sich falsch an. Als hätte er sich ins gemachte Nest gesetzt. Trotzdem musste er zugeben, dass ihm seine Arbeit hier Spaß machte. Er konnte kaum glauben, dass er bereits seit zehn Monaten hier war.

David war ein guter Ermittler. Auf Tharkos war er rasch in der Polizeihierarchie aufgestiegen. Er hatte gezeigt, was er konnte. Trotzdem fühlte es sich an, als hätte er sich die Stelle auf Bat’klan, aufgrund der Freundschaft, die ihn mit Robaine Barr verband, erschlichen. Eine Freundschaft, die spektakulär begonnen hatte.

Er seifte sich kraftvoll ein. Stets in Bewegung bleiben, aktiv sein, so lebte er. Müßiggang war gefährlich, ließ zu viel Zeit zum Nachdenken. Auch das war ein Grund, warum er das Kampfsporttraining der Polizisten und der Personenschützer übernommen hatte. Es gehörte nicht zu seinen Pflichten, doch es war eine nützliche Art, unauffällig Zeit zu verschwenden. Müßige Zeit, die er nicht brauchte. Zeit, in der ihn nur unliebsame Gedanken überfallen hätten.

Er hielt sein Gesicht in den Wasserstrahl, schloss die Augen, Schaum floss aus seinem kurzen Haar in den Abfluss. Sofort schaute er wieder zur Tür. Über Jahre antrainierte Instinkte ließen sich nicht so leicht ablegen.

Tharkos war eine gefährliche Welt. Man musste immer auf dem Sprung sein. Davids Reaktionsgeschwindigkeit und seine Instinkte hatten ihm dort mehr als einmal das Leben gerettet. Bat’klan war anders. Selbst nach zehn Monaten staunte er immer noch. Nicht über das Fehlen von Gewalt, sondern über die Sorglosigkeit der Menschen hier. Sie gingen nachts allein durch die Straßen, bogen an den Innenseiten um Häuserecken, schauten niemals über die Schulter. Das erschien ihm unnatürlich.

Er stellte die Dusche ab und nahm sein Handtuch. Seine Haut prickelte, als er sich mit ausholenden, beinahe groben Bewegungen abtrocknete.

Auf dem Weg zu seinem Spind kam er an einem Spiegel vorbei. Noch kein einziges Mal war er davor stehen geblieben, doch heute tat er es. Er löste das Handtuch. Obwohl er allein war, hatte er es um seine Hüften geschlungen. Mit ernster Miene betrachtete er sich.

Narben waren zu sehen, zu viele, um noch attraktiv zu wirken. Sie erzählten eine Geschichte von Kampf, Gewalt und Gefahr. Es gab Dinge in seinem Leben, über die er nicht sprechen würde. Mit niemandem.

Langsam hob er den linken Arm und spannte den Bizeps an. Deutlich zeichnete er sich unter seiner Haut ab und bewegte sich, als er den Unterarm zu sich heranzog. Ein Wassertropfen löste sich aus seinen Haaren, fiel auf die breite Brust und folgte der konkaven Wölbung seines Bauches, um sich im Bauchnabel zu verfangen.

Vom Laufen waren seine Beine kräftig, er fühlte zähe Muskelbänder unter der Haut, einer Haut, die dunkelbraun war, rau und fast ledrig. Die aggressive Strahlung der drei Sonnen von Tharkos war so tief in seinen Körper eingedrungen, dass seine Epidermis ihre dunkle Färbung nur langsam verlor. Es würde wahrscheinlich noch Monate dauern, bis David die fahle Hautfarbe der Menschen von Bat’klan angenommen hatte. Wenn überhaupt. Er fiel auf, auf diesem Planeten, mit den schützenden Kuppeln. Es war offensichtlich, dass er nicht hierher gehörte. Er war ein Fremdkörper.

David drehte sich, um auch seinen Rücken zu begutachten. Breit und kräftig.

Was er sah, stellte ihn zufrieden, nicht aus Eitelkeit. Sein Köper war eine Waffe, kraftvoll, präzise und wenn nötig sogar tödlich. Wann diese Waffe zum Einsatz kommen würde, wusste er nicht, aber er würde bereit sein.

Zum Schluss schaute er in sein Gesicht. War es schön? Auf Tharkos waren asiatische Gesichtszüge verpönt. Er zuckte mit den Schultern. Egal, er sah gesund aus. Schönheit war nicht relevant.

Das Einzige, was er mit Bedauern betrachtete, war seine Größe. Mit einem Meter siebzig war er für einen Kämpfer zu klein. Größe bedeutete Überlegenheit, auch wenn Chang-Rey das nicht so gesehen hatte.

„Ein Kampf wird im Kopf entschieden“, pflegte er zu sagen. Davids Mutter hatte ihn zu diesem alten Lehrer geschickt. Der Junge sollte lernen, sich zu verteidigen. Er hatte nicht gewollt, war wütend über die Unnachgiebigkeit seiner Mutter gewesen. Erst später verstand er sie. Sie hatte es nicht mehr ertragen, ihn jeden Tag mit blauen Flecken und aufgeschlagenen Lippen heimkommen zu sehen. Sie hatte geschimpft, ihn geschüttelt und nach den Schuldigen gefragt, aber er hatte nur schweigend und mit gesenktem Kopf vor ihr gestanden. Er hatte nie gepetzt. Wozu auch. Jede Gang hatte ihr Bauernopfer, ein Kind, das bestraft wurde, wenn ein Sündenbock gebraucht wurde. Die Anführer blieben und sie besaßen ein gutes Gedächtnis für Leute, die Schwierigkeiten gemacht hatten. Und Petzen hieß Schwierigkeiten machen. Kinder lernten das schnell, doch die Erwachsenen begriffen nichts. Gar nichts. Beschäftigt mit ihren eigenen Sorgen, kämpften sie ums Überleben.

Er erinnerte sich sehr gut an seine erste Begegnung mit Chang-Rey. Von einer schweigsamen Frau war er in ein großes Zimmer geführt worden. Die Böden waren mit Matten bedeckt, die Wände mit dunklem Holz vertäfelt. Geschnitzte Masken schauten von den Wänden, schienen ihn, den kleinen Jungen, mit den Augen zu verfolgen. Es war kühl, er fröstelte. Er musste lange warten. Plötzlich ertönte eine Stimme von dort, wo es am finstersten war. Im Falsett gesprochen krochen die Worte auf David zu.

„Alles ist Bewegung, alles fließt. Es gilt Chancen und Gelegenheiten zu erkennen.“ Ein Schatten löste sich von der Wand, kam auf ihn zu. Chang-Rey blieb vor ihm stehen, überragte ihn um einiges. Der Lehrer hatte die Augen geschlossen, das Gesicht nach oben gewandt.

„Warum sich Gedanken machen, David, über etwas, das man nicht ändern kann? Das ist eine Schwäche, mit der man Kraft vergeudet. Dann bist du dein eigener Feind. Du willst siegen? Dann musst du besser und schneller werden als die anderen.“

Danach hatte er ihm lange in die Augen geblickt. Es war, als wolle Chang-Rey ihn prüfen. Er fühlte sich dem Meister zu Gehorsam verpflichtet, übte, wurde besser und schneller. Schon bald stammten die blauen Flecken nur noch vom Training und seine Kleider blieben heil.

David nickte seinem Spiegelbild zu. Er drehte sich um, ging zu seinem Spind und zog sich an. Der Stoff seines Hemdes raschelte leise, als er eine Hand durch den Ärmel gleiten ließ.

 

* * *

 

Er hatte sie mit Handschellen ans Bett gefesselt. Ausgebreitet zu einem menschlichen X lag Carla Jansen vor ihm. Mit einem Klebeband verschloss er ihren Mund, verzichtete auf einen Knebel. Die Wohnung hatte dicke Wände.

Er entkleidete sie, benutze dazu sein Messer. Der Stoff der Bluse sirrte, als die Klinge hindurchschnitt. Das Gewebe der Hose war dicker, der Ton beim Zertrennen dumpfer.

Als er den geschärften Stahl am zweiten Hosenbein ansetzte, kam Carla zu sich. Er beobachtete ihr Gesicht. Ihre Augenlider flatterten, sie blinzelte und zog mit der rechten Hand an ihrer Fessel. Vielleicht wollte sie ihren Kopf berühren. Nach dem Schlag musste er ziemlich schmerzen. Nur langsam öffnete sie die Augen, brauchte mehrere Anläufe dazu. Ihr Blick richtete sich auf ihn. War das Erkennen, das er in ihren Pupillen aufblitzen sah? Unglauben? Orientierungslosigkeit? Das wechselnde Mienenspiel der Frau vermochte er nicht zu deuten, aber es faszinierte ihn. Sie reagierte. Carla reagierte auf ihn!

Von seinem Gesicht flog ihr Blick hinab zu seiner Hand, die das Messer hielt. Was sich jetzt in ihrer Miene widerspiegelte, erkannte er. Das war Angst! Hektisch versuchte sie, Arme und Beine zu befreien. Sie zerrte an den Fesseln, doch die waren stärker als die Frau.

Sie versuchte zu schreien, aber das Klebeband dämpfte die Geräusche.

 

* * *

 

Robaine Barr lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und rieb sich über die Augen. Er war ausgelaugt. Die Zahlenkolonnen, Daten und Grafiken vor ihm auf dem Bildschirm entzogen sich seiner Analyse. Sie formten sich zu keinem klaren Bild, blieben ein loses Konglomerat zufälliger Zeichen.

Er beugte sich vor und schaltete den Computer aus. Das Leder seines Stuhls knarrte. Er würde morgen weitermachen. Heute lag die Müdigkeit wie eine schwere Decke auf seinem Verstand und verhinderte, dass sich ein guter Gedanke erheben konnte. Genau genommen hatte die Datenanalyse auch bis morgen Zeit. Er arbeitete zu viel, sagte seine Schwester. Er dachte nicht darüber nach. Als Luana noch gelebt hatte, lohnte es sich, Feierabend zu machen. Sein Blick wanderte zu dem Bild auf dem Schreibtisch. Luana und Estella lachten ihm darauf entgegen. Seine Frau und seine Tochter. Sie sahen sich sehr ähnlich. Luana … er vermisste sie so sehr!

Es wurde dunkler im Raum, als das Licht des Bildschirms in sich zusammenfiel. Dreidimensional wurde es von einem Slot in der Decke mitten in den Raum projiziert. Große Flächen ermöglichten großräumiges Denken, das war Robaines Ansicht.

Im Büro herrschte nun Dämmerlicht, alle Konturen wirkten weicher. Robaine zog den Haargummi ab und seine langen Haare breiteten sich über die Schultern aus. Beim Arbeiten störte es ihn, wenn sich die Strähnen ins Gesicht schoben.

Robaine Barr behielt es sich als Protektor des Planeten vor, über jedes Detail informiert zu werden. In den meisten Fällen liefen die notwendigen Routinen ohne sein Zutun wie eine gut geölte Maschine. Doch Informationsfluss war die zentrale Lebensader. Das war eine der ersten Lektionen, die Robaine sehr schmerzhaft im Haifischbecken der interstellaren Geschäftswelt gelernt hatte und seither nie mehr vergaß. Informationen bedeuteten Vorteile, Vorsprung und damit Macht.

Bei einem seiner ersten Geschäfte hatte er zu wenig gewusst, war mit jugendlicher Sorglosigkeit an das Projekt herangegangen. Unglückliche Umstände hatten zum Tod eines Menschen geführt. Was er hätte verhindern können, wenn er alle Fakten gekannt hätte. Er hatte auf andere vertraut, sie nicht kontrolliert, und diese Nachlässigkeit bereute er bis heute. Entscheidungen bedeuteten Verantwortung. Rein rechtlich traf ihn damals keine Schuld, doch tief in seinem Inneren lag sein Versagen vergraben. Unvergessen, bitter, unerwähnt. Niemandem hatte er davon erzählt, nicht Luana und auch nicht seiner Schwester, Nenamana. Aber es war ein Grund, warum er so hart arbeitete. So etwas sollte ihm nie wieder passieren. Gründlichkeit und Sorgfalt vertrugen sich nicht mit geregelten Arbeitszeiten. Sie verlangten mehr und Robaine war bereit, das zu geben.

Sein Uni-Sys klingelte. Seine Schwester rief an. Er wählte visuellen Empfang.

In Lebensgröße erschien die Projektion von Dr. Nenamana Nanomins Gestalt. Sie saß in einem Sessel und zog den Saum des Bademantels über ihre Knie. Zu den Rändern hin faserte das Holobild aus. Von ihrem Hotelzimmer war nichts als ein dunkler Schatten zu erkennen.

„Hallo Robaine, du arbeitest ja immer noch“, begrüßte ihn Nenamana. Sie klang resigniert.

„Nema, mir gefällt mein Leben, so wie es ist. Müssen wir schon wieder dieses Thema durchkauen?“

„Aber Arbeit kann doch nicht alles sein!“ Sie zog das Handtuch vom Kopf und rieb sich über die Haare.

„Das ist auch nicht alles, Nema. Ich arbeite für Geld“, sagte er ehrlich. „Man kann gar nicht genug davon haben, und wer etwas anderes behauptet, ist naiv oder ein Narr. Geld bedeutet Freiheit, das war schon immer so und das wird auch so bleiben. Geld ist eine der Konstanten im Leben.“

„Ach, Robaine. Ich will dir doch nichts Böses. – Aber jetzt klär mich auf. Was sind neben Geld denn die anderen Konstanten im Leben?“

Robaine sammelte seine Gedanken. „Der Tod.“ Er war ernst geworden. „Und die Natur des Menschen. Es gibt keine Eigenschaft, die sich erst in jüngster Zeit entwickelt hat. Gier, Neid, Stolz, die Sehnsucht nach Liebe … das alles gab es schon immer. Die Zeit unterliegt dem Wandel, ebenso die Technik, die Umwelt, auch alltägliche Dinge, wie die Mode oder die Ernährungsgewohnheiten. Aber vom Prinzip her, von seinem Wesen, ich meine innerlich, ist der Mensch gleich geblieben.“

„Glaubst du das wirklich? Glaubst du wirklich, dass wir jetzt auf die gleiche Weise lieben, hassen, neiden wie die Urmenschen? Glaubst du, Liebe – in der Form, wie wir sie heute kennen – gab es genauso, damals?“

Er strich sich über das Kinn. Die Stoppeln seines Dreitagebartes gaben ein kratzendes Geräusch von sich wie Sand unter den Schuhsohlen. „Ja, das glaube ich. Die Anlagen eines Menschen sind ein atavistisches Erbe. Welche Eigenschaften und vor allem wie stark sie zum Vorschein kommen, das kann man beeinflussen. Durch das Umfeld, durch die Umstände, in denen man sich befindet. Elend, Not und Gewalt lassen viel Schlechtes hervortreten. Der gleiche Mensch, eingebettet in Wohlstand und Frieden, hat ungleich bessere Chancen, gute Seiten zu zeigen.“

„Ich weiß, dass du das so siehst. Das war auch die Triebfeder für dich Bat’klan zu erschaffen, nicht wahr?“ Sie lächelte ihn an.

„Ja. Den Kaufvertrag für Bat’klan habe ich nicht mit Kalkül unterschrieben, sondern mit Herzblut. Ich wollte eine friedliche Gesellschaft gründen, in der die Würde jedes Einzelnen geachtet wird. In der jeder einzelne Mensch wertvoll ist, von Anfang an, bis hin zum Tod.“

„Ich finde, das ist dir auch ziemlich gut gelungen, Robaine.“ Nenamana strich eine Strähne ihres blonden Haares zurück.

„Bat’klan ist meine Vision, mein Wunsch, Gutes zu bewirken, den Menschen ein schönes Leben zu ermöglichen.“

Dass er den Traum von einer besseren Welt bereits als kleiner Junge gehabt hatte, sagte er nicht. Immer wenn ihn der Hunger peinigte oder er Angst gehabt hatte, flüchtete er in Gedanken in eine andere Welt. Kurze Momente, Rettungsanker für sein kindliches Gemüt.

Seine Mutter war drogenabhängig gewesen, hatte sich prostituiert, um an Geld zu kommen. Nach ihrem viel zu frühen Tod war er adoptiert worden, Nenamana wurde seine Schwester. Damals war er fünf Jahre alt.

Es war lange her, diesen Teil seiner Vergangenheit kannten nur wenige Menschen. Er redete nicht darüber. Und obwohl mit den Jahren die Erinnerungen an seine leibliche Mutter verblasst waren, blieb das Gefühl des Verlusts. Und der Zorn auf eine Gesellschaft, die es zuließ, dass so etwas geschah. Dass eine Frau in eine Spirale von Kummer, Not und Sucht geriet, aus der sie aus eigener Kraft keinen Ausweg mehr fand. Eine Gesellschaft, die eine Frau am Ende ihrer Kräfte allein mit einem Kind ließ. Keiner scherte sich darum, ob sie lebten oder starben.

An der Vergangenheit konnte er nichts mehr ändern. Aber im Hier und Jetzt boten sich viele Möglichkeiten. Robaine hatte sie genutzt. Er spürte einen leisen Stolz, wenn er an die achtundzwanzig Jahre dachte, die vergangen waren, seit er den unbewohnten Planeten 756-JZI-2300 gekauft hatte. Er war erst sechsundvierzig gewesen und besaß schon damals mehr Geld, als sich ein Mensch vorstellen konnte. Er war einer der erfolgreichsten Handelsmagnaten des gesamten Universums. Sein unermüdlicher Einsatz, Verhandlungsgeschick und seine untrügliche Nase für gute Geschäfte hatten ihn dazu gemacht. Er verwendete einen Großteil seines Geldes dafür, sich seinen Lebenstraum zu erfüllen, eine verantwortungsvolle, fortschrittliche Gesellschaft zu gründen. Denn im Grunde seines Herzens war er ein Philanthrop und Idealist. Er gab 756-JZI-2300 einen neuen Namen: Bat’klan. Es bedeutete in einer längst ausgestorbenen Sprache Hoffnung.

 

* * *

 

Als ihre Augen sich endlich an das Licht gewöhnt hatten, blickte Carla dem Mann ins Gesicht. Sie kannte ihn. Zumindest sah er so aus wie der, den sie kannte. Es ergab keinen Sinn. Das konnte er nicht sein!

Nichts ergab einen Sinn. Sie lag auf dem Bett, fast nackt, gefesselt. Vor ihr der Mann mit gezücktem Messer. So etwas konnte nicht passieren, nicht ihr!

Sie riss an ihren Fesseln, doch sie saßen fest. Sie war diesem Irren ausgeliefert. Ihr Blick saugte sich an dem Stahl des Messers fest. Das Lampenlicht spiegelte sich darin, Lichtblitze stachen ihr in die Pupillen. Er wird mich töten! Die Erkenntnis sickerte langsam in ihr Bewusstsein.

Mit der Klinge würde er in ihr Fleisch schneiden … Blut und Schmerzen, nein, nein, nein! Panik überschwemmte sie. Carla schrie. Und schrie. Und schrie.

Niemand konnte sie hören. Der Mann senkte das Messer, und sie riss erneut an ihren Fesseln. Die Haut war längst aufgerissen, dort wo sich das scharfkantige Metall der Handschellen in ihre Gelenke grub. Der Verbrecher schnitt ihr das zweite Hosenbein auf. Das Geräusch des reißenden Stoffes klang wie das Abtrennen eines Tierbalgs. Erschöpft hielt sie inne, schaute auf ihren Peiniger und mühte sich, genug Luft in ihre Lungen zu bekommen. Er hatte das Messer weggelegt und starrte auf ihren nackten Körper herunter. Ihr wurde übel. Sie merkte, wie ihr Mageninhalt nach oben drängte. Sie spürte Säure im Rachen und begann zu schlucken. O nein, atme, Carla … atme … ruhig … ruhig. Wenn du jetzt kotzt, ist es vorbei. O Gott, warum hilft mir denn keiner! Marc, bitte, bitte komm!

 

* * *

 

Auf Tellur

 

Sona Bender stiegen Tränen in die Augen. Ihre Mundhöhle brannte. Auf dem Canapé war Chilicreme gewesen! Wasser! Sie brauchte Wasser! Hastig suchte ihr Blick den Tisch ab, fand nichts Flüssiges außer Weißwein. Verzweifelt goss sie sich ein ganzes Wasserglas damit voll und kippte es hinunter. Sie kniff die Augen zusammen, wedelte mit den Händen und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ.

Nichts passierte. Ihr Rachen brannte wie zuvor. In ihrer Verzweiflung hätte sie am liebsten auch noch die Blumenvase geleert. Um den Schmerz irgendwie zu lindern, schob sie sich schnell eins dieser grauenhaft neonpinken Törtchen in Gänze in den Mund und hoffte, dass sie bei ihrem Glück nicht zufällig auf ein Pepperoniteilchen gestoßen war. Es brannte immer noch.

Abgelenkt durch den Schmerz, senkte sie versehentlich ihren mentalen Schutzschild. Sofort stürzten Gefühlswolken und Gedankenfetzen auf sie ein.

Ärger, Zufriedenheit, Hast du gesehen, Wut, Schadenfreude, Langeweile, Wiedersehensfreude, Ich kann es kaum glauben, Traurigkeit, Freude, Überheblichkeit, Zorn, Er hat mir gesagt, dass, Ärger, Unbehaglichkeit, Müdigkeit, Übermut, Schalk, Langeweile, Freude, Zufriedenheit, Uns mitgenommen, Phlegma, Benommenheit, Selbst gehört, Hyperaktivität, Melancholie, Aufregung, Überreiztheit, Doch das muss sie sein, Nervosität, Heiterkeit …

Diese geballte Ladung war wie ein Stromstoß. Sona zuckte zusammen und hob die Abschirmung an. Wie sie solche Menschenmassen hasste! Doch die Teilnahme am jährlichen Mentorenball war Pflicht.

Der Ball war langweilig, spießig und vor allen Dingen voll. Voll mit Alphas. Frauen mit den am höchsten entwickelten mentalen Fähigkeiten des ganzen Planeten. So wie bei ihr.

Sie wollte sich die chiliverschmierten Hände gerade an ihrer Jeans abwischen, da fiel ihr zum Glück noch rechtzeitig ein, dass sie heute ein Seidenkleid trug. Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal ein Kleid angehabt? Zum Schulabschluss? Sie fühlte sich verkleidet darin. So wie damals. Die letzten Jahre hatte sie immer einen eleganten Hosenanzug zum Ball getragen. Aber seit diesem Jahr gab es Kleiderpflicht. Verdammt, sie musste wirklich aufpassen. Fehlte noch, dass sie sich versehentlich rittlings auf einen Stuhl setzte!

Ihre Zunge fühlte sich pelzig an, aber durch das zuckrige Törtchen hatte sich wenigstens das Brennen gelegt. Es hatte so harmlos ausgesehen, das kleine Häppchen. Chilicreme. Wer kam schon auf die Idee, so etwas auf ein Canapé zu schmieren? Sadisten unter den Catering-Leuten. Sie überlegte, ob sie die anderen Happen dieser Art unschädlich machen sollte, ließ die Canapés dann aber unberührt stehen. Es gab einige hier, denen sie das gleiche Erlebnis nur allzu gern gönnte. Sie grinste bei dem Gedanken und nahm sich vor, das Büfett im Auge zu behalten.

Sie drehte sich um und blickte in den Saal auf ein Weizenfeld aus herausgeputzten Menschen, das hin- und herwogte im Wind der Unterhaltungen. Ein prächtiges Bild. Gläser klirrten, leise Musik untermalte die Gespräche und an verschiedenen Stellen perlte Gelächter auf. Alles schien heute zu leuchten. Licht, das sich in Schmuckstücken fing, Stoffe, die bei jeder Bewegung schimmerten und Lippen, auf denen Farben wie Wasser glänzten. Das Gedränge vor der Bühne nahm allmählich zu. Immer wieder entstanden Lücken zwischen den Menschentrauben, und der Boden aus illuminiertem Glas war zu sehen. Klar wie Bergkristall, an manchen Stellen verquirlt mit Glas in zartem Türkisgrün, trug er in seinem sieben Zentimeter dicken Inneren feinste Luftbläschen. Sie streuten das Licht in alle Richtungen. Schaute man zu lange darauf, schien die Fläche sich in Wellen zu bewegen, als würde man durch Wasser waten. Ein Kellner eilte an Sona vorbei, umrundete eine mannshohe Zimmerpflanze und befreite sie von einem leer gegessenen Teller, der zwischen ihre Wedel gesteckt worden war.

Immer mehr Frauen, die an diesem Tag zu Mentorinnen ernannt werden sollten, erklommen die Bühne. Die meisten hatte sie noch nie gesehen.

Sie war froh, dass sie heute nicht im Rampenlicht stand. Als Zuschauerin konnte sie die Zeit mehr oder weniger unbehelligt absitzen.

Nein, nicht absitzen, sie würde sich die Reden mit essen vertreiben. O ja! Das war das einzig Gute an diesen förmlichen Festen, ein üppiges Büfett, so weit das Auge reichte. In Sesam gewälzte und frittierte Meerbarben, mit Rosenblättern gespickte Lammfilets, gebutterte Kartoffelkugeln mit Rosmarin, zu Mustern geschichtete Platten mit grünen, orangen, weißen, gelben und roten Gemüsesorten, süßes Gebäck, herzhafte Currys, aromatische Soßen, zu kleinen Kunstwerken geformte Häppchen in den erstaunlichsten Farben. Eine Gebirgslandschaft aus Speisen. Ihr wurde von der Vielfalt ganz schwindlig. Das Büfett war unüberschaubar.

Auch wenn ihre knochige Gestalt das Gegenteil vermuten ließ, sie liebte Essen! Ihrer Mutter war das schon immer peinlich gewesen.

Während andere Kinder ermahnt wurden, brav zu sein, wenn sie bei Freunden eingeladen waren, bekam sie stets zu hören: Kind, beherrsche dich um Himmels willen, und iss nicht so viel!

Bei dem Gedanken daran musste sie lächeln und biss genussvoll ein riesiges Stück von ihrer Blätterteigpastete ab. Mit dem Handrücken wischte sie sich die herausquellende Füllung aus den Mundwinkeln. Mmmm … Pistaziencreme. Lecker!

Wie ordinär!

Der schrille Gedanke der neben ihr stehenden Alpha durchdrang sogar Sonas Schutzschild. Er war begleitet von einer empathischen Wolke aus Missbilligung. Ungerührt fuhr sie mit dem Verzehr der Pastete fort. Das war sie längst gewöhnt.

Sie war Telepathin. Keine Besonderheit auf Tellur, denn die gesamte Bevölkerung des Planeten war telepathisch veranlagt. Aber in den Rang einer Alpha zu kommen, gelang nur den Wenigsten. Erst recht nicht in so jungen Jahren.

„Wie ist es Ihnen gelungen, den Alpha-Status zu erreichen? Haben Sie eine Erklärung dafür?“ Wie Hagelkörner waren die Fragen der Journalistin damals auf sie eingeprasselt. Über Nacht war sie zur Sensation geworden.

„Ich habe ihn erreicht, das sagt das Testergebnis“, hatte sie geantwortet, sich mental komplett eingekapselt, als könne sie damit die Fragen abwehren.

„Ja, das wissen wir, aber Sie sind gerade mal neunundzwanzig Jahre alt. Das durchschnittliche Übertrittsalter von Beta zu Alpha ist fünfundvierzig. Wie haben Sie das so früh geschafft?“

Sie hatte sich massiv bedrängt gefühlt, durfte aber nicht einfach aufstehen und gehen. Für die vom Institut anberaumte Pressekonferenz hatte sie ihre Anweisungen bekommen. Sie sollte bei der Presse einen perfekten Eindruck hinterlassen.

„Was soll ich sagen … ich habe den Test gemacht wie alle … na ja und meine … meine … Leistungen haben eben gereicht.“ Sona hatte hilflos in die Kamera gestarrt. Was wollte diese Frau denn noch von ihr?

„Haben Sie vielleicht eine neue Trainingsmethode entdeckt, um Ihre telepathischen Fähigkeiten so extrem zu steigern?“

Die Kamera hatte ihren kalten Blick nicht von  Sona genommen. „Würden Sie sagen, Sie sind ein Wunderkind?“

Sie hatte das Gefühl gehabt, der durchdringenden Musterung nicht standzuhalten und Hilfe suchend zu Mila geblickt. Aber ihre Mentorin hatte nur mit den Schultern gezuckt. Sie konnte ihr nicht helfen.

Mila Stern-Goldberg, wie sie mit vollständigem Namen hieß, war ihr als mentale Begleitperson zugeteilt worden, da Sonas Eltern mit den ungewöhnlichen Fähigkeiten ihres Kindes überfordert waren. Da war sie drei Jahre alt gewesen. Jahrelang hatte Mila wie ein Familienmitglied bei ihnen gewohnt, ein ungewöhnliches Arrangement, das allen gefiel. Für sie hatte es sich angefühlt, als würde sie von zwei Müttern geliebt und umsorgt.

Sie hatte wieder in das Kameraauge geblickt und sich geräuspert. „Ich bin kein Wunderkind.“

„Aber Ihre telepathischen Leistungen waren doch echt?“, hatte die Journalistin  lauernd gefragt.

„Natürlich waren sie das!“ Was für eine Frechheit!

Vielleicht war sie wirklich eine Art Wunderkind. Aber nicht im üblichen Sinne. Die Telepathie war keine Gabe, die ihr in die Wiege gelegt worden war. Sie besaß eine extreme Sensibilität im mentalen Bereich. Das war auch der Grund, weshalb sie schon früh hatte lernen müssen, sich gut abzuschirmen. Sie fing einfach alles auf, jeden Gedanken, jedes Gefühl, selbst den Anflug eines Gefühls. Sich abzuschirmen, war notwendig gewesen, wollte sie nicht jede Minute von einem Chor aus fremden Gedanken umgeben sein. Das konnte einen verrückt machen. Die jahrelange Anstrengung, starke Schutzschirme aufzubauen, hatten automatisch ihre telepathischen Fähigkeiten mitentwickelt. Ihr war nichts geschenkt worden.

Sie hatte sich diese ausgeprägte Telepathie nicht gewünscht. Ein Wunder? Sie verzog das Gesicht. Als Wunder empfand sie, dass sie die ersten Jahre ihres Lebens psychisch unbeschadet überstanden hatte. Sie wollte sich dafür nicht rechtfertigen müssen! Das hatte sie damals der Journalistin nicht gesagt. Wozu auch, es hätte nichts besser gemacht.