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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Der siebzehnte März des Jahres 1593 artete in dem finnischen Hafenstädtchen Abo fast zu einem Volksfest aus.

Um dem Pöbel vorzugreifen und sich keinen weiteren Ärger einzuhandeln, der sich in Richtung Lynchjustiz bewegte, hatte das Gericht beschlossen, die Todesurteile gegen Paavo Korsumäki und einer Handvoll seiner Kumpane noch am selben Tage zu vollstrecken.

In Abo sprach sich das in Windeseile herum, und nun strömten die braven Bürger von allen Seiten zusammen, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Verständlicherweise war das Volk erregt, denn Korsumäki war nicht nur ein noch nicht zum Christentum bekehrter Heide, sondern ein Brandstifter, Schnapphahn und Mörder, der einen Teil von Abo in Schutt und Asche gelegt hatte.

Auch ein Fremdenhasser war er, das hatten die Seewölfe am deutlichsten zu spüren gekriegt. Korsumäki hatte sich auch nicht gescheut, Hasard junior zu entführen und den Seewölfen Ärger über Ärger einzubringen.

Jetzt war das Maß voll, die Gerechtigkeit nahm ihren Lauf.

Einige der Bürger Abos hatten Schnapsflaschen dabei und gossen den Fusel wild in sich hinein. Das heizte die Stimmung kräftig auf, und so standen sie schreiend und drohend auf dem Marktplatz und warteten darauf, daß es Korsumäki im wahrsten Sinne des Wortes an den Kragen ginge.

Auf dem Marktplatz war in der Nacht ein sogenannter mehrschläfriger Galgen errichtet worden, ein Galgen an dem bis zu einem Dutzend Leute aufgeknüpft werden konnten.

Paavo Korsumäki war als rachsüchtiger Kerl bekannt, unter dessen Knute es immer wieder Mord und Totschlag, Schändung und Brandstiftung gegeben hatte. Das Volk war nicht so rachsüchtig, doch jetzt brachen die Emotionen durch, und jeder wollte sich an Korsumäki wenigstens über die Justiz rächen, wenn er schon nicht selbst Hand an ihn und seine Kumpane legen konnte.

Sie standen in der Nähe des Galgens, gefesselt, schwer bewacht durch Soldaten und Henkersknechte, die sie keinen Moment aus den Augen ließen.

Die Meute schrie und johlte. Etliche Männer, die schon stark angetrunken waren, drängten rücksichtslos durch die Menge und schoben sich weiter nach vorn, um Korsumäki ihre Verachtung, ihren Spott und Hohn ins bärtige Gesicht zu schleudern.

Offenbar ließ den Bärtigen das kalt, nur seine Blicke huschten unruhig über die Menge. Er schien nach einem Fluchtweg zu suchen, doch noch war er an den Wagen angekettet, der sie alle zum Richtplatz gekarrt hatte.

Der Stadtkommandant Eino Pekkanen, ein hagerer ernst blickender Mann, trat vor und musterte die erwartungsvolle Menge, die sich kaum beruhigen konnte.

„Ruhe!“ schrie er laut. „Haltet euch zurück und benehmt euch anständig. Ihr befindet euch auf einer Richtstätte und nicht auf einem Rummelplatz.“

Das Gemurmel, Gezeter und Geschrei verklangen nach seinen Worten. Tiefe Ruhe kehrte auf dem Marktplatz ein.

„Das Urteil ist verkündet und wird vollstreckt“, sagte ein anderer Mann neben dem Kommandanten und wies auf den Henker und seine Richtgesellen, die ein letztes Mal die Richtstätte und den Galgen kontrollierten. Neben dem Stadtkommandanten standen acht Gendarmen mit angeschlagenen Musketen.

Es ging alles recht formlos vor sich, es war auch keine Schuld mehr festzustellen, und das Urteil war verkündet. Der erste der Kerle wurde von dem Wagen losgeschlossen und mußte das Podest besteigen. Die anderen wurden aufgefordert, sich umzudrehen und waren gezwungen, zuzusehen, wie ihre Kumpane aufgeknüpft wurden.

Der Anführer Korsumäki zeigte jetzt die erste Regung. Seine Augen flackerten, er bewegte sich unruhig in seinen Ketten und räusperte sich unentwegt. In den Augen von ein paar anderen stand nackte Angst, als der Henker dem ersten Mann die Schlinge um den Hals legte.

Einer der Verurteilten begann laut zu schreien, als derbe Fäuste ihn packten und ebenfalls nach vorn stießen. Er winselte um Gnade, schrie und bettelte, doch niemand hatte Erbarmen mit ihm. Als er laut schrie, begann die Menge wieder zu grölen.

Ja, sie gönnten es diesen Brandstiftern und Mördern, daß sie ihr Ende am Galgen fanden, und jedesmal, wenn sich die Schlinge zuzog und der nächste den Boden unter den Füßen verlor, brüllten die Bürger. Danach gab es einige Sekunden lang Ruhe, bis der nächste an der Reihe war.

Ein Priester war nicht erschienen, denn keiner aus der Bande war zum Christentum bekehrt worden. So wurde auch nicht lange geredet, und niemand sprach ein letztes Wort oder Gebet. So unchristlich, wie sie gelebt hatten, starben sie auch.

Als der letzte seiner Brandstifter-Kumpane sein Leben am Galgen aushauchte, wurde Korsumäki grün im Gesicht. Sein Bart zitterte, seine Hände zitterten, sein ganzer Körper war in unruhiger Bewegung und schüttelte sich. Anderen gegenüber hatte er kein Erbarmen gezeigt, hatte ihre Angst verlacht, doch nun, da er selbst an der Reihe war, empfand er diese Angst ebenso oder noch viel schlimmer. So ehrlos, wie er immer gelebt hatte, so ehrlos ging es jetzt auch mit ihm zu Ende.

Absichtlich hatten sie den Anführer als letzten in die Reihe der Todeskandidaten gestellt. Er sollte nicht nur den einen Tod sterben, sondern gleich mehrere.

Als sie ihn von der Kette losschlossen, hörte sein Zittern auf. Er schien jetzt ruhig und gefaßt, den Blick hatte er auf seine am Galgen hängenden Kumpane gerichtet.

„Vorwärts mit dir!“ rief der Henkersknecht.

Nur eine Schlinge baumelte jetzt noch vom Galgen, die darauf wartete, daß Korsumäki mit des Seilers Tochter Hochzeit feierte. Er stieg die Stufen hinauf, reckte den Kopf und wartete scheinbar ruhig und gefaßt auf sein Ende. Als der Henker nach der Schlinge griff, stieß der Finne mit dem Stiefel zu, trat nach den Knechten und sprang mit einem wilden Satz vom Podest. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt, aber er versuchte, sich mit Kopf, Schultern und Beinen den Weg durch die Menge freizukämpfen.

Damit war aber die Volksmenge keinesfalls einverstanden. Von allen Seiten setzte es wilde Hiebe, Püffe und Schläge, bis Korsumäki in der Mauer aus Leibern hoffnungslos unterging. Sie hoben ihn über die Köpfe. Hundert Arme bewegten den zappelnden Mann wieder nach vorn zu der Richtstätte.

Die Henkersknechte stürzten sich in die Menge, die Soldaten stürmten vor, und die Gendarmen sprangen hinzu. Sie hoben Korsumäki auf, hielten seine Beine fest und schleppten ihn wieder zurück. Die Volksmenge grölte jetzt noch lauter und schrie sich die Kehlen heiser.

Mit einer solchen Abwechslung hatte keiner gerechnet.

Fünf Männer klammerten sich an den Finnen, der immer noch zappelte und sich zu befreien versuchte. Gegen die vielen Fäuste hatte er jedoch keine Chance mehr. Ein Tau wurde um seine Beine geschlungen, sie streiften ihm die Schlinge über, und dann hängten sie ihn sehr schnell auf.

Der Gerechtigkeit war Genüge getan. Die Volksseele hatte sich abreagiert, und alle waren zufrieden.

In Abo aber gab es noch immer Trümmer, abgebrannte Häuser und Gebäude. Der Wind wirbelte die Asche durch die Stadt, und die Gehenkten schaukelten bei jedem Luftzug am Galgen.

Totentanz in Abo.

Einen Tag, bevor das große Hängen in Abo stattfand, war die „Isabella“ mit Ostkurs ausgelaufen.

Durch die Brandstiftung war das gesamte Holzlager des Kaufmannes Heikki Lahtinen abgebrannt, mit dem Hasard gute Handelsbeziehungen angeknüpft hatte.

Die Arwenacks hatten auch bei dem Aufräumen und den Löscharbeiten kräftig mitgeholfen, aber der Schaden, den Korsumäki angerichtet hatte, war nicht wiedergutzumachen. Das kostbare Holz war ein Raub der Flammen geworden.

Jetzt lag die „Isabella“ auf Ostkurs in Richtung Wiborg. Hasard hatte von Lahtinen und auch von seinem Vetter Arne von Manteuffel ein paar wertvolle Tips erhalten, die sich auf den Handel mit Pelzen aller Art bezogen. Ein Empfehlungsschreiben des Holzhändlers Lathinen besaß der Seewolf ebenfalls, das ihn bei dem Pelzhändler Birger Runeberg einführen sollte.

Auch für gute Seekarten hatte Lahtinen noch gesorgt. Hasard hatte jetzt Kartenmaterial und Segelanweisungen für den Finnischen Meerbusen und alle größeren Hafenstädte bis hinauf nach Wiborg.

Die Stimmung an Bord der „Isabella“ war prächtig, fast geruhsam war das Leben.

Das Schiff lief unter Vollzeug auf Ostnordostkurs seinem Ziel entgegen, nachdem die Arwenacks Hangö gerundet hatten.

Am blauen Himmel kreisten zwei große Vögel. Ähnlich wie Albatrosse hingen sie auf weitausgebreiteten Schwingen in der Luft und ließen sich treiben.

An Backbord war die finnische Küste zu sehen. Hasard verglich immer wieder die Karten und war erstaunt, wie gut und genau sie waren, denn in diesen Küstengewässern war das Segeln und Manövrieren wahrhaftig kein Kinderspiel.

An Bord bestand aller Grund zur Zufriedenheit. Carberrys Kopfstreifschuß war für ihn selbst schon so gut wie vergessen. Die Schulterwunde von Luke Morgan, den der Profos seines Jähzorns wegen gern eine „aufgebraßte Pulverflasche“ nannte, verheilte prächtig.

Auch Hasards Platzwunde am Kopf, verursacht durch einen Steinwurf, bereitete keine Beschwerden mehr. Die Wunde war verschorft, und der besorgte Kutscher, der sie am liebsten dreimal täglich kontrollierte, war mit dem Ergebnis zufrieden.

Blieb noch Old O’Flynn, der sich in Abo den Knöchel verstaucht hatte und immer noch unter leichten Beschwerden litt. Erst wollte er seine Krücken wieder zu Hilfe nehmen, doch es ging ihm gegen den Strich, damit an Deck herumzuhumpeln und den anderen ständig im Wege zu sein. So hielt er sich meist in der Nähe des Schanzkleides auf, damit er sich notfalls festhalten konnte, und betrachtete sein Holzbein, das Ferris Tucker ihm kürzlich angefertigt hatte.

An dem Holzbein war nichts auszusetzen, doch Old O’Flynn betrachtete es trotzdem immer noch eingehend wie einen neuen Erwerb, der ihn ganz besonders freute.

Das einzige, was den salzgetränkten Alten jedoch mit leichtem Mißtrauen erfüllte, war der Bordhund Plymmie, so genannt nach dem dikken Wirt und Schnapphahn der „Bloody Mary“ und auf sein ruppiges Fell bezogen, das anfangs an Plymsons Perücke erinnerte, jetzt aber seidig und glatt war, seit die Zwillinge Lady Plymmie in ihre Obhut genommen hatten.

Old O’Flynn sah düster auf den Hund, genauer die Hündin, die sich ebenfalls für das Holzbein zu interessieren schien. Insgeheim befürchtete er nämlich, daß Plymmie sein Holzbein vielleicht für ein kleines heranwachsendes Bäumchen halten könnte.

„Wenn du Beutelratte jetzt das Beinchen hebst“, sagte er grollend, „dann lernst du den alten Donegal aber von der ganz üblen Seite kennen.“

„Nur Rüden heben das Bein, Grandad“, wurde der Alte ziemlich hochnäsig von Philip junior belehrt. „Weibchen hocken sich dazu immer hin, die heben kein Bein.“

„Trotzdem“, beharrte Grandad eigensinnig, „vielleicht weiß Plymmie nicht, daß sie kein Rüde ist, oder sie guckt es einem anderen männlichen Hund ab.“

„Das geht gar nicht“, meinte Philip, „das ist jedem angeboren. Du hockst dich ja auch nicht auf den Boden und guckst es keinem …“

„Willst du Taschenkrebs mir jetzt Vorträge halten“, schnauzte der Alte seinen Enkel an. „Was ich weiß, das weiß ich.“

„Ich auch“, sagte Philip grinsend, „und ich weiß inzwischen verdammt viel.“

So war an Bord also alles in bester Ordnung, und der Friede lag fast sichtbar über allen Decks, wenn da nicht die Sache mit den Hühnern gewesen wäre, denn da bahnte sich nun etwas an, und wenig später wurde aus dem behaglichen Bordfrieden ein Krieg, der immer weiter eskalierte und die „Isabella“ in ein Tollhaus verwandelte.

Dabei fing alles ganz harmlos an.

2.

Der Kutscher hatte zusammen mit Mac Pellew fünfzehn lebende Hühner von einem Bauern in Abo erstanden. Der Bauer, der sie im Hafen anbot, hatte auch gleich die drei passenden Verschläge dazugeliefert, und so befand sich das Federvieh nun auf der Kuhl.

Verstaut und festgezurrt waren die drei Käfige übereinander unter dem überdachten Freiraum des achteren Backbordniederganges. Niemand störte sie dort, bis auf den Arakanga-Papagei Sir John, der hin und wieder mal eine kurze Attacke flog, wenn das Gegacker allzu laut wurde. Seine Angriffsoperationen endeten jedoch immer vor den vergitterten Frontseiten der drei Verschläge.

Dann stoben die Hühner jedesmal hoch und begannen aufgeregt zu flattern.

Auch Plymmie kam hin und wieder mal, um zu schnüffeln, ebenso der Schimpanse Arwenack, dem das Viehzeug nicht ganz geheuer war. Sir John aber trieb es mit seinen Sturzflügen am tollsten, und er scheute sich auch nicht, auch mal kräftig zwischen die Gitter zu hakken. Die Hühner, anfangs heillos erschreckt, revanchierten sich später mit kräftigen Schnabelhieben. Das vergrößerte natürlich das Konzert, bis Hasard der Kragen platzte, als Sir John wieder eine Attacke segelte und kreischend lamentierte.

Er sah den Profos grinsen, als Sir John vor dem Käfig zeterte und üble Tiraden vom Stapel ließ. In Carberrys Blick lag dabei ein gewisses Maß an Wohlwollen, vermutlich weil „sein“ Sir John sich cleverer benahm als die dämlichen Hühner.

„Mister Carberry!“ rief Hasard vom Achterdeck. „Wie lange soll man sich dieses Gekreische und Gezeter eigentlich noch anhören? Sieh endlich zu, daß der verdammte Sir John von den Verschlägen ferngehalten wird. Das ist ja nicht zum Aushalten. Bring den Vogel weg, oder binde ihn an der Rah fest.“

Ein wüstes, narbiges und ungläubig verzogenes Gesicht blickte nach oben.

Das beleidigte „Aye, aye, Sir“, tropfte so zäh wie dicker Haferbrei von seinen Lippen. Der Profos war sauer, von wegen verdammter Sir John, und so. Die lausigen Hühner waren schuld – wer sonst!

Er brachte den Papagei aber doch fort, mit biestigem Gesicht und unter leisem Fluchen. Auf der Kuhl setzte er ihn halb zusammengefaltet in die Webeleinen des Großmastes.

Sir John zeterte und schrie. Er ratterte kreischend die ganze Skala seines blumenreichen Wortschatzes herunter und beleidigte die unschuldigen Ahnen des Profos’ aufs allerübelste. Auch die anderen mußten sich eine ganze Menge anhören.

Inzwischen war auch der Kutscher auf der Kuhl erschienen, und da hatte der Profos endlich ein Objekt, an dem er Dampf ablassen konnte.

Eine gewisse Hinterhältigkeit lag in seinem Blick, als er den nichtsahnenden Kutscher musterte. Der würde jetzt für den Anschiß herhalten müssen, das war nur gerecht, denn schließlich hatten er und Mac Pellew die verdammten Hühner gekauft. Zwar in der löblichen Absicht, den Kameraden einen kulinarischen Genuß zu bieten, doch daran dachte Carberry jetzt nicht.

„Was ist das da mit dem Federvieh, was, wie?“ fragte Ed mißbilligend. „Dauernd gibt es Krach deswegen. Willst du unser gutes Schiff vielleicht zu einem Hühnerhof umfunktionieren, he?“

„Aber Ed“, sagte der schmalbrüstige Mann lachend, doch Carberry konnte jetzt schon gar kein Gelächter vertragen, gerade jetzt nicht.

„Verdammt noch mal, du grinsender Klüsenfloh!“ rief er. „Ich weiß beileibe nicht, was es da dämlich zu grinsen gibt. Was sollen wir mit dem gackernden Viehzeug?“

Jetzt schwoll auch dem Kutscher der Kamm. Seine gute Absicht war wieder einmal restlos verkannt worden.

„Was wir damit sollen?“ fragte er ungläubig. „Ja, du erstaunst mich bis zur Fassungslosigkeit, mein lieber Ed.“

„Ich bin nicht dein lieber Ed!“ brüllte der Profos. „Merk dir das gefälligst, du vermurkste Galionsfigur!“

Noch blieb der Kutscher ruhig und gelassen, wenn auch seine Augen bedrohlich funkelten. Wenn Carberry ihn mit saftigen Beleidigungen erschlug, dann gab der Kutscher ihm meist mit geistigen Waffen eins aufs Haupt. Er konnte aber auch anders.