image1
Logo

Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie – Karl Jaspers-Bibliothek

Herausgegeben von Matthias Bormuth, Andreas Heinz und Markus Jäger

Übersicht über die bereits erschienenen Bände:

•  Jäger, Markus
»Konzepte der Pschopathologie. Von Karl Jaspers zu den Ansätzen des 21. Jahrhunderts«
(978-3-17-029780-7)

•  Heinz, Andreas
»Psychische Gesundheit. Begriff und Konzepte«
(978-3-17-029936-8)

•  Wedler, Hans
»Suizid kontrovers. Wahrnehmungen in Medizin und Gesellschaft«
(978-3-17-031046-9)

Hanfried Helmchen

Das Janusgesicht der Psychiatrie

Nutzen und Risiken psychiatrischen Handelns

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032293-6

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-032294-3

epub:   ISBN 978-3-17-032295-0

mobi:   ISBN 978-3-17-032296-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Vorwort zur Reihe

 

 

Psychiatrie und Psychotherapie nehmen im Kanon der medizinischen Fächer eine besondere Stellung ein, sind sie doch gleichermaßen auf natur- wie kulturwissenschaftliche Methoden und Konzepte angewiesen. Bereits vor hundert Jahren wies Karl Jaspers darauf hin, dass man sich im psychopathologischen Zugang zum Menschen nicht auf eine einzige umfassende Theorie stützen könne. So warnte der Psychiater und Philosophen entsprechend vor einseitigen Perspektiven einer Hirn- bzw. Psychomythologie. Vielmehr forderte er, die verschiedenen möglichen Zugangswege begrifflich scharf zu fassen und einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Diese Mahnung zur kritischen Pluralität gilt heute ebenso, werden sowohl auf neurobiologischen als auch auf psychotherapeutischen bzw. sozialpsychiatrischen Gebiet nicht selten dogmatische Positionen vertreten, ohne dass andere Sichtweisen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ausreichend berücksichtigt würden.

Die Reihe »Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie - Karl Jaspers-Bibliothek« möchte die vielfältigen Zugangswege zum psychisch kranken Menschen in knappen Überblicken prägnant darstellen und auf die aktuelle Bedeutung der verschiedenen Ansätze für das psychiatrisch-psychotherapeutische Denken und Handeln aufzeigen. Dabei können viele Probleme im diagnostischen und therapeutischen Umgang mit den Menschen nur vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden historischen Konzepte verstanden werden. Die »Karl Jaspers - Bibliothek« möchte den Leser dazu anregen, in solch pluralistischer und historisch weiter Horizontbildung den drängenden Fragen in Psychiatrie und Psychotherapie nachzugehen, wie sie die einzelnen Bandautoren entfalten werden. Ziel der Reihe ist hierbei auch, ein tieferes Bewusstsein für die begrifflichen Grundlagen unseres Wissens vom psychisch kranken Menschen zu entwickeln.

Oldenburg/Berlin/Günzburg

Matthias Bormuth, Andreas Heinz, Markus Jäger

 

Inhalt

 

 

  1. Vorwort zur Reihe
  2. Vorwort
  3. 1 Prolog
  4. 2 Zur Entwicklung psychiatrischen Handelns im 19. Jahrhundert
  5. 2.1 Entstehung der »Anstaltspsychiatrie«
  6. 2.1.1 Zwischenbilanz
  7. 2.2 Universitätspsychiatrie
  8. 2.2.1 Heidelberg
  9. 2.2.2 Berlin
  10. 2.3 Intendierter Nutzen und erlebter Schaden psychiatrischen Handelns – Beispiele
  11. 2.3.1 Psychiatrisches Handeln im kommunalen/staatlichen Rahmen
  12. 2.3.2 Arbeit als Sinngebung versus Ausbeutung
  13. 2.3.3 Psychiatrisch-empirische Erfahrung versus naturwissenschaftlich-forschendes Denken: Kranksein versus Krankheit
  14. 3 Zur Differenzierung psychiatrischen Handelns im 20. Jahrhundert
  15. 3.1 Die biologische Perspektive
  16. 3.1.1 Entwicklung biologischen Denkens in der Psychiatrie
  17. 3.1.1.1 Nutzen und Risiken biologisch-psychiatrischen Denkens
  18. 3.1.1.2 Neuere Entwicklungen biologisch-psychiatrischen Denkens
  19. 3.1.2 Biologisch-therapeutische Interventionen
  20. 3.1.2.1 Malariatherapie der progressiven Paralyse
  21. 3.1.2.2 »Schockbehandlungsverfahren«
  22. 3.1.2.3 Weitere Hirnstimulationsverfahren
  23. 3.1.2.4 Impfungen gegen Demenz
  24. 3.1.2.5 Psychopharmakotherapie
  25. 3.1.3 Biologisch-diagnostische Interventionen
  26. 3.1.3.1 Diagnostik mit technischen Verfahren
  27. 3.1.3.2 Zufallsbefunde
  28. 3.1.3.3 Biomarker
  29. 3.1.3.4 Paradigmenwechsel
  30. 3.2 Die psychische Perspektive
  31. 3.2.1 Psychopathologie
  32. 3.2.2 Psychiatrische Therapie-Prinzipien
  33. 3.2.3 Psychotherapeutisches Handeln
  34. 3.2.3.1 Aufklärung vor Beginn und Ende einer Psychotherapie
  35. 3.2.3.2 Unerwünschte Wirkungen von Psychotherapie
  36. 3.2.3.3 Ethische Implikationen von Psychotherapie
  37. 3.3 Die soziale Perspektive
  38. 3.3.1 Von der Anstaltspsychiatrie zur Gemeindepsychiatrie
  39. 3.3.2 Sozio-therapeutisches/rehabilitatives Handeln
  40. 3.3.2.1 Nachgehende Fürsorge
  41. 3.3.2.2 Angehörige
  42. 3.3.3 Risiken sozialpsychiatrischen Denkens und Handelns
  43. 3.3.3.1 Psychiatrie im Nationalsozialismus
  44. 3.3.3.2 »Grenzgebiete der Sozialpsychiatrie«: Verirrung eines engagierten Sozialpsychiaters
  45. 3.3.3.3 Schlussfolgerung
  46. 4 Nutzen und Risiken allgemeiner Interventionen im Kontext psychiatrischen Handelns
  47. 4.1 Aufklärung
  48. 4.2 Schweigepflicht und Datenschutz
  49. 4.3 Dokumentation
  50. 4.4 Forschung: Paradigma einer Nutzen-Risiko-Abwägung
  51. 4.5 Diagnose und Krankheitsbegriff in der Psychiatrie – Sicherheit und Bedeutung psychiatrischer Diagnosen und Grenzen des Begriffes der psychischen Krankheit
  52. 4.5.1 Diagnosen in der Psychiatrie
  53. 4.5.2 Der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie
  54. 4.5.3 Der spezielle Krankheitsbegriff in der Psychiatrie
  55. 4.5.4 Nutzen und Risiken psychiatrischer Diagnosen
  56. 4.5.5 Integration im bio-psycho-sozialen Modell
  57. 4.6 Das medizinische Krankheitsmodell in der Psychiatrie
  58. 4.7 Psychiatriehistoriker und Psychiatriegeschichte
  59. 5 Epilog – Zur Zukunft der Psychiatrie
  60. Literatur
  61. Sachregister
  62. Personenregister

Vorwort

 

 

Umgang mit Patienten hat mich gelehrt, durch komplementäres Verstehen Lösungen für Probleme zu entwickeln, die als antagonistische Dilemmata erlebt und beschrieben werden. Antagonismus bedeutet Gegensatz und Widerstreit, d. h. »einander entgegenwirken«. Unlösbar erscheinender Antagonismus von Prinzipien oder im Diskurs von Ideen entsteht durch ihre Verabsolutierung. Verabsolutierung von Ideen wird zur Ideologie; sie will herrschen, verknüpft Idee und Macht (die damit mögliche Polarisierung wird politisch für die Durchsetzung einer Idee benutzt, was in einer totalitär verformten Gesellschaft ein gefährlicher Schritt zur Diktatur ist). Rückführung auf die realen Ausgangspunkte einander widerstreitender Ideen (verbunden mit emotionaler Deeskalation) und Suche nach Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Blicken auf eine Realität, Anerkennung, dass die Realität verschiedene Facetten hat und verschiedene Blicke darauf möglich sind, vielleicht sogar den eigenen Blick durch Berücksichtigung des anderen, entgegenstehenden Blickes zu erweitern und zu komplettieren, ist Ziel des Buches.

»Goethe war ein Multiperspektivist in seinem naturwissenschaftlichen Denken. Er meinte, eine Perspektive genüge nicht und auch ein Versuch genüge nicht. In den Vorarbeiten zur Morphologie meinte er später: Keine von den Hypothesen – Präformation oder Epigenese – enthalte die ganze Wahrheit. Jede erschließe aber einen Aspekt des Hervorbringens. Er nennt die beiden Begriffe dann später ›roh‹ und ›grob‹ gegen die ›Zartheit des unergründlichen Gegenstandes‹.«1

Dank

Für ebenso geduldige wie freundliche, ebenso umfangreiche wie effiziente Beschaffung von Literatur danke ich Melanie Scholz und ihren Mitarbeitern in der Bibliothek für Geschichte der Medizin und Soziale Medizin der Charité, für Ermutigung den Herausgebern der Karl Jaspers Bibliothek Matthias Bormuth, Andreas Heinz, Markus Jäger, für die gelungene und fristgerechte Umsetzung meines Textes in das vorliegende Buch Ruprecht Poensgen und Dominik Rose vom Kohlhammer-Verlag sowie für Anregungen, Ergänzungen und konstruktive Kommentare zum Text Doris Bolk-Weischedel, Botho Brachmann, Gottfried Brezger, Arno Deister, Eric Engstrom, Asmus Finzen, Hanns Hippius, Sabine Müller, Thomas Müller (Leipzig), Helmut Remschmidt, Ulrich Rüger, Norman Sartorius, Henning Saß, Heinz-Peter Schmiedebach, Hans-Walter Schmuhl, Rolf-Dieter Stieglitz, Philip van der Eijk und darüber hinaus allen Kollegen und Patienten, die mich im Laufe meiner ärztlichen und wissenschaftlichen Tätigkeit zum Nachdenken angeregt haben.

Hanfried Helmchen, im März 2017

1     Pörksen U (2015), S. 49

 

1          Prolog

 

 

 

 

I

Psychiatrisches Handeln zielt auf Nutzen für den psychisch Kranken, enthält jedoch auch das Risiko unerwünschter Wirkungen. Diese Dualität ärztlichen Handelns entspricht der Doppelgesichtigkeit des in einander entgegengesetzte Richtungen schauenden altrömischen Gottes Janus.

Images

Abb. 1.1: Münze mit Januskopf2

Solche in die Janusgesichtigkeit der Moderne3 eingebettete Doppelgesichtigkeit der Psychiatrie kommt aber auch darin zum Ausdruck, dass Nutzen und Risiken vom Arzt oft anders beurteilt werden als sie der Kranke erlebt und einschätzt. Dies wird deutlich, wenn das Wohl des Kranken (salus aegroti) nicht ohne das Risiko einer möglichen Schädigung zu erreichen ist und damit das ethische Prinzip der Schadensvermeidung (nil nocere) in Frage steht. Es wird erst recht deutlich, wenn die Gesellschaft über ihre Institutionen, den Staat und die Verwaltung, den Umgang mit psychisch Kranken vorrangig unter dem Aspekt der Sicherung und der Finanzierung,4 der Psychiater aber primär im Hinblick auf die Behandlung des individuellen Kranken sieht.5 Daraus entstehen Spannungen. Wechselseitiges Verständnis für die Schwierigkeiten, Nutzen und Risiken psychiatrischen Handelns zutreffend einzuschätzen, soll dem entgegenwirken.

So wäre für einen als immanent unauflösbaren »Widerspruch der Psychiatrie« aufgefassten Antagonismus zwischen »therapeutischem Zweck« und »administrativ-politischen Funktionen sozialer Kontrolle«,6 zwischen »Freiheit der Person« und »öffentlicher Sicherheit«7 die Richtung einer Lösung aufzuzeigen, die in der reflektierten, verhandelten und balancierten Wechselwirkung zwischen der therapeutischen Indikation des Psychiaters und der Selbstbestimmbarkeit des psychisch Kranken bestehen könnte. Dabei soll eine Einschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit des Patienten als krankheitsbedingt ebenso reflektiert werden wie die »Dienstbarkeit (des Psychiaters) gegenüber der gesellschaftlichen Forderung nach […] Einsperrung«8 und damit der Verschleierung des oben genannten Widerspruchs entgegengewirkt werden. Der Widerspruch ist nicht auflösbar, aber erkennbar, und dieses Erkennen kann die Praxis verändern, so etwa im Umgang mit einem Patienten, der dem auf sein bestes Interesse und Wohl gerichteten Handeln des Psychiaters widerspricht.

II

Ein breites Verständnis psychiatrischen Handelns meint die Anwendung sowohl psychiatrischer Maßnahmen als auch spezifischer Verfahren der Diagnostik und Prognostik, der Prävention, Therapie und Rehabilitation bei Menschen mit psychischen Störungen.

Gemeint sind mit Maßnahmen solche der Fürsorge und Sicherung, Fürsorge für den durch krankheitsbedingte Ernährungsdefizite, Verwahrlosung, Obdachlosigkeit oder Mittelmissbrauch vital gefährdeten hilfsbedürftigen psychisch Kranken, Sicherung (auch durch Verwahrung oder mittels Zwang) zum Schutz vor selbst- oder fremdgefährdenden Handlungen.

Diagnostische Verfahren sollen 1. psychische Krankheit erkennen, sie also von Variationen, von der »Spielbreite« nicht kranken menschlichen Erlebens und Verhaltens abgrenzen; sie sollen weiterhin 2. psychische Störungen speziellen Krankheiten zuordnen, die durch bestimmte Ursachen, Erscheinungsbilder, Verlaufsformen und Ausgänge definiert sind; diagnostische Verfahren sollen schließlich 3. Bedingungen für Entstehung, Manifestation und Verlauf (Remission oder Chronifizierung) psychischer Krankheit feststellen.

Spezifische therapeutische Verfahren zielen 1. auf primäre oder sekundäre Vermeidung psychischer Krankheit (Prävention), 2. auf deren symptomatische oder kausale Beseitigung oder zumindest Abschwächung (Therapie i. e. S.) sowie 3. auf die (Rück-)gewinnung sozialer Kompetenz und Fähigkeit zu selbstbestimmtem Leben (Rehabilitation), insbesondere auch zu selbstbestimmtem Leben trotz Krankheit als »gelingendes bedingtes Gesundsein«9 wie dies etwa die Recovery-Bewegung anstrebt.10

Solange evidenz-basierte, d. h. hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit wissenschaftlich geprüfte Behandlungsverfahren noch nicht zur Verfügung standen, sondern Psychiater nur erfahrungsbegründete Behandlungen von psychisch Schwerkranken kannten, wurde jede erfolgversprechende kasuistische Erfahrung oder Idee aufgegriffen und angewandt, allenfalls nach der Methode Versuch und Irrtum geprüft.

So ist die Anwendung von mechanischem Zwang als Ausdruck sowohl therapeutischer Hilflosigkeit wie auch herrschender Überzeugungen zu verstehen. Gelegentlich wurden diese Überzeugungen mit theoretischen Annahmen begründet, die jedoch wieder verlassen wurden, wenn sie sich als unzutreffend erwiesen oder die durch sie begründeten Maßnahmen sich als erfolglos herausstellten, oder wenn diese wegen schwerwiegender Nebenwirkungen kritisiert wurden und außer Gebrauch kamen (image Kap. 3.2.2).

Vor dem Hintergrund weitgehender therapeutischer Ohnmacht wurden positive Wirkungen oft überschätzt und negative Effekte zunächst nicht wahrgenommen oder der Patient musste sie als notwendiges Übel in Kauf nehmen. Schwere Komplikationen führten dazu, dass Verfahren wieder aufgegeben wurden. Sie verschwanden aber vor allem, wenn sie durch Behandlungen ersetzt werden konnten, die wirksamer waren und/oder weniger unerwünschte Wirkungen, also ein günstigeres Nutzen-Risiko-Verhältnis hatten.

III

Das Verhältnis von Wirksamkeit zu Sicherheit, von Nutzen zu Risiken einer Intervention verschob sich mit wachsender Erfahrung. Dabei war der zeitliche Ablauf bedeutsam. Meist hatten nur Verfahren eine Chance, deren Wirksamkeit relativ schnell, also unmittelbar oder in Tagen, höchstens Wochen, erkennbar war, während unerwünschte Wirkungen oft erst nach breiterer Anwendung, also nach Monaten oder Jahren erkannt wurden. Dementsprechend verschlechterte sich das Nutzen-Risiko-Verhältnis sowohl individuell beim einzelnen Patienten als auch kollektiv bei der gesamten behandelten Patientengruppe mit längerer Anwendung einer Behandlung und verschob sich hin zu stärkerem Gewicht der Risiken (wie bei der modernen Psychopharmakotherapie). Das Nutzen-Risiko-Verhältnis konnte aber im Verlauf auch optimiert werden: so wurden – wenn ein Verfahren sich als einzig und eindeutig wirksam erwies – auch schwerwiegende Nebenwirkungen in Kauf genommen und es wurde versucht, sie durch Modifikation des Verfahrens abzumildern oder auszuschließen (so bei der Malariatherapie der progressiven Paralyse oder der antipsychotischen Elektrokrampftherapie). Dabei beeinflussten subjektive Faktoren die Nutzen-Risiko-Abwägung, hinsichtlich derer sich Psychiater untereinander und von ihren Patienten erheblich unterscheiden konnten, etwa durch die eigene Erfahrung mit Risiken und durch ein unterschiedliches Verständnis des Wahrscheinlichkeitscharakters dieser Abwägung.

IV

Diese subjektiven Faktoren werden von übergreifenden säkularen Veränderungen, vom soziokulturellen (heute zudem multikulturellen) Kontext, dem »Zeitgeist«, entscheidend beeinflusst. Deutlich wird dies, wenn man die letzten 200 Jahre in den Blick nimmt, in denen sich die Psychiatrie als medizinische Disziplin und Institution entwickelt und sich das Arzt-Patienten-Verhältnis11 grundlegend gewandelt hat: vom ehemaligen Irrenarzt, der im gestörten Erleben und vor allem im auffälligen und störenden Verhalten erfassbare krankheitsbedingte Normabweichungen in paternalistischer Weise zu korrigieren suchte bis zum heutigen Psychiater, der Wünsche, Werte und Interessen seines Patienten ernst nimmt und ihm partnerschaftlich hilft, seinen Weg aus der Störung heraus und dabei auch seinen Weg zu den von ihm selbst bestimmten Lebenszielen zu finden. Psychiater wissen, dass diese Zielbestimmung ihres Handelns in der Wirklichkeit nicht immer erreicht wird, noch viel weniger aber geschieht dies aus der Sicht mancher Patienten oder auch der Öffentlichkeit. Diese unterschiedlichen Sichtweisen auf ihre zugrundeliegenden Erfahrungsunterschiede zurückzuführen, sollte Aufgabe aller Beteiligten an einem konkreten Problem sein, um Differenzen in der Bewertung von Nutzen und Risiken einer psychiatrischen Intervention zwischen Patient und Psychiater mit der erforderlichen Geduld und Toleranz zu ertragen und wenn irgend möglich einvernehmlich zu verringern.

V

Diese nur angedeuteten Probleme psychiatrischer Nutzen-Risiko-Abwägungen sollen im Folgenden durch konkrete Beispiele zur Anschauung gebracht werden, und zwar sowohl aus der Perspektive der Psychiatrie, d. h. von Psychiatern, Pflegekräften und weiteren in der Psychiatrie tätigen Menschen aus verschiedenen Berufsgruppen wie aus der Perspektive der psychisch Kranken, die ihre Erlebnisse und Sicht auf die Psychiatrie als »Psychiatrie-Erfahrene«12 oder »Psychose-Experten durch Erfahrung« in Trialog-Psychose-Seminaren13 zur Sprache bringen, sowie auch aus der Perspektive ihrer sozialen Umwelt, so besonders der ihrer Angehörigen,14 15 und letztlich auch der durch öffentliche Meinung und Staat wirkenden Gesellschaft.

Dazu werden in klinisch-psychiatrischer Erfahrung der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gewachsene Erkenntnisse, Überzeugungen und Thesen zur Ambivalenz und Widersprüchlichkeit psychiatrischen Handelns mittels historischer, in erheblichem Umfang auf Sekundärquellen gestützter Beispiele zur Anschauung gebracht.16 Um unvermeidbare subjektive Verzerrungen der historischen Realität gering zu halten, werden sie soweit möglich anhand historischer Fakten aus Originalquellen kontrolliert:17

»Wir brauchen das Gedächtnis« (i.S. einer kulturwissenschaftlichen, d. h. kontextbezogenen Erinnerung) »um der Masse des historischen Wissens Leben einzuhauchen in Form von Bedeutung, Perspektive und Relevanz, und wir brauchen die Geschichte, um die Konstruktionen des Gedächtnisses kritisch zu überprüfen, die immer in bestimmten Machtkonstellationen entstehen und von den Bedürfnissen der Gegenwart diktiert sind.«18

VI

Um der Übersichtlichkeit willen werden die Probleme der Nutzen-Risiko-Bewertung entsprechend dem didaktischen bio-psycho-sozialen Modell19 in die drei wesentlichen Bedingungskomplexe psychischer Störungen gegliedert und chronologisch dargestellt – ohne damit nahelegen zu wollen, dass diese Bedingungsbereiche isoliert voneinander betrachtet werden könnten, da sie doch in intensiver Wechselwirkung miteinander stehen.20

Nutzen und Risiken psychiatrischer Interventionen werden vornehmlich mit Beispielen aus dem 20. Jahrhundert belegt und ihr Verhältnis zueinander diskutiert; zwar wurde auch davor eine Vielzahl psychiatrischer Maßnahmen und Heilverfahren angewandt, aber ihr Nutzen blieb oft fraglich und zeitgenössische explizite Nutzen-Risiko-Bewertungen wurden kaum bekannt. Um jedoch den tiefgreifenden Wandel psychiatrischer Konzepte und Einstellungen zu verdeutlichen, wird der frühe Umgang mit psychisch Kranken seit dem Mittelalter in einem ersten Kapitel (image Kap. 2) skizziert.

Zu bedenken ist dabei, dass es sich 1. um eine Auswahl historischer Ereignisse zum Zwecke der Illustration des Themas handelt, die 2. in der Sprache einer späteren Epoche beschrieben werden, deren Begriffsinhalte sich mit denen der historischen Akteure womöglich nicht decken21 und 3. werden ein- und dieselben Quellen gelegentlich auch von Historikern unterschiedlich interpretiert, vor allem, wenn diese aus verschiedenen Epochen darauf blicken.22

So wurde beispielsweise der Vorschlag Griesingers, »Stadtasyle« einzurichten, 1968 auf seine »sozialpsychiatrischen« Konsequenzen hin interpretiert23 und darin eine »zeitgeistige« Konkordanz der 1860er mit den 1960er Jahren gesehen.24»Sozialpsychiatrie« im heutigen Verständnis konnte jedoch gegen den Zeitgeist nicht realisiert werden;25 sie war deshalb ein zu Griesingers Zeit noch unbekannter Begriff, der erst 35 Jahre später erstmals auftauchte.26 Und Griesingers Stadtasyl war zwar modern gegen die soziale Isolierung der Kranken in den stadtfernen »Irrenanstalten« gerichtet und zielte darauf, die akut und leichter Kranken möglichst nahe an ihrem sozialen Umfeld zu beobachten (ein »wissenschaftliche(s) Observatorium«27) und zu behandeln. Primär jedoch wollte er sich seine durch eine restriktive Aufnahmeregelung der Charité-Direktion gefährdete28 eigene Patientenbasis (»Krankenmaterial«) für den Psychiatrie-Unterricht sichern und durch die Nähe zu den anderen Universitätskliniken die Integration der Psychiatrie in die Medizin fördern.29

Schließlich zielt diese Skizze nicht auf eine historisch umfassende Darstellung der vielfältigen Erscheinungsformen der Psychiatrie-Entwicklung und ihrer komplexen Bedingungen; vielmehr will sie anhand ausgewählter Beispiele Bewertungen von Nutzen und Risiken psychiatrischen Handelns verdeutlichen, insbesondere wie unterschiedlich oder gegensätzlich ein und derselbe Sachverhalt aus verschiedenen Perspektiven erlebt, beurteilt oder auch beschrieben werden kann. Dabei werden Randunschärfen von historischen Fakten und Begriffen deutlich, die als Ansatzpunkte für die Suche nach Gemeinsamkeiten in einander entgegengesetzten Positionen genutzt werden können.

VII

Kritische Beschreibungen historischer Verhältnisse mit dem Ziel, schlimme Zustände zu verbessern, sind nicht ohne Risiko.30 Der negative Eindruck, den kritische Darstellungen der Psychiatrie-Entwicklung hervorrufen, kann zur Verdammung der gesamten Institution missbraucht werden und nachhaltig wirksam bleiben. Solches Negativ-Bild kann psychisch Kranke von Hilfsmöglichkeiten, die die Psychiatrie heute zu bieten hat, fernhalten.

Am 17.3.1980 erschien der SPIEGEL mit der Titelgeschichte »Der sanfte Mord«. Auf 26 Seiten wurde beschrieben, dass »die wahndämpfenden ›Neuroleptika‹[…] schwere, oft tödliche Nebenwirkungen« auslösen. Es wurden antipsychiatrische Äußerungen wie dass »immer mehr Schizophrene durch die Drogen-Therapie ›allmählich umgebracht oder in den Selbstmord getrieben‹ werden – …ein heimlicher ›psychiatrischer Holocaust‹« zahlreich zitiert. Patienten sagten mit Verweis auf diesen Spiegel-Artikel, dass sie – da sie es ja nun schwarz auf weiß hätten, dass ihnen doch nicht zu helfen sei – alle Medikamente absetzen und ihrem Leben ein Ende machen würden.31 Tatsächlich belasten unerwünschte Wirkungen (»Nebenwirkungen«) vieler Psychopharmaka die Patienten, sodass ihre Behandlungstreue abnimmt und erkennbare Nebenwirkungen die Patienten auch stigmatisieren können. Wenn aber mit unzutreffenden Behauptungen reale Probleme demagogisch übertrieben werden, dann stigmatisieren sie auch die Institution und halten Patienten davon ab, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Belastung der Patienten durch Nebenwirkungen der Therapie sind Psychiatern nach vielfältigen und umfangreichen Untersuchungen heute sehr bewusst; Psychiater wissen, dass sie den Patienten nur in der Behandlung halten können, wenn sie das Verhältnis zum Patienten so offen gestalten und ihn so ernst nehmen, dass dieser seine Beschwerden zur Sprache bringt und sie darauf angemessen reagieren.

Übrigens warnten sogar führende Vertreter der die Euthanasie implizierenden nationalsozialistischen Psychiatriepolitik vor den negativen Folgen der nationalsozialistischen Propaganda,32 die durch ihre demagogisch-diskriminierende Darstellung von psychisch Kranken die Öffentlichkeit auf eine (stillschweigende) Akzeptanz der Ermordung der Kranken vorbereitete,33 aber dadurch auch den Nachwuchs von der Ausbildung in der Psychiatrie abhielt und ebenso Fürsorgeverwaltungen »Ausgaben für psychisch Kranke zunehmend als Verschwendung«34 ansehen ließ.

Hingegen kann die Information über die »brutale Wirklichkeit«35 psychiatrischer Krankenhäuser, wie sie durch die Enquète-Kommission des Deutschen Bundestages36 ab den 1970er Jahren in die Öffentlichkeit gebracht wurde, als Beispiel dafür angesehen werden, dass kritische Berichte dann erfolgreich sind, wenn sie tatsächliche Missstände realitätsnah und deshalb so überzeugend darstellen, dass die öffentliche Resonanz zu einem politischen Momentum wird, das letztlich die Bürger dafür sensibilisiert, als notwendig eingesehene Reformen in den Kommunen und als Steuerzahler mitzutragen. Nur so konnte die Psychiatrie-Enquête die bisher tiefgreifendste Reform der deutschen Psychiatrie bewirken.37

Aber viele neue Anstrengungen sind erforderlich, um auf dem Wege zu einer humanen, d. h. Person-orientierten partizipativen sowie therapeutisch wirksamen Psychiatrie weiter voran zu kommen.38 In diesem Sinne mögen auch die folgenden Ausführungen verstanden werden.

2     Janus symbolisiert die Dualität in den ewigen Gesetzen, wie etwa Schöpfung/Zerstörung, Leben/Tod, Licht/Dunkelheit, Anfang/Ende, Mann/Frau, Zukunft/Vergangenheit, Links/Rechts usw. Er ist die Erkenntnis, dass alles Göttliche immer einen Antagonisten in sich birgt (Wikipedia 2016g: Janus (Mythologie))

3     Engstrom EJ, Roelcke V (2003)S. 15; Horkheimer M, Adorno TW (1969/1988); Peukert D (1989)

4     Heubel F (2015)

5     Pollmächer T (2013)

6     Franco Basaglia hat dies so formuliert: »…so müssen wir uns mit beiden Gesichtern dieser Realität des Kranken auseinandersetzen: 1. mit der Tatsache, dass wir einen kranken Menschen vor uns haben, der psychopathologische Probleme aufwirft…. und 2. mit der Tatsache, dass wir einen Ausgeschlossenen, einen gesellschaftlich Geächteten vor uns haben.« (Basaglia F 1971, S. 151)

7     Castel R (1980), S. 84

8     ibid. S. 88

9     Hartmann F, Buchmüller HR (1996)

10   Slade M (2009); Szmukler G, Rose D (2014); Galderisi S, Heinz A, Kastrup M et al. (2015)

11   s. aber: »it is not obvious that … trust in the patient-physician-relationship – an issue that came to be seen as problematic in an era of large-scale medical research, national health systems, and managed care – was considered equally problematic in earlier eras« (Baker RB, McCullough LB (2008), S. 4 f.)

12   Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE)

13   Trialog-Psychoseseminar

14   Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApk)

15   Angermeyer MC, Finzen A (1984); Bindl W (2004)

16   Dabei stütze ich mich in erheblichem Umfang auf eigene Erfahrungen und Publikationen

17   Nippel W (2014)

18   Assmann A (2013)

19   Engel GL (1977)

20   Dagegen birgt jede institutionelle Verselbständigung dieser differenten Perspektiven der Psychiatrie, etwa als biologische oder psychotherapeutische oder soziale Psychiatrie, das Risiko, die Erforschung ihrer komplexen Wechselwirkungen und den Umgang mit ihnen in der Praxis zu behindern. (Sartorius N (1988))

21   Baker RB, McCullough LB (2008)

22   Nippel W (2014); Engstrom EJ, Kendler KS (2015); Schmuhl H-W (2016)

23   Schrenck M (1968b)

24   Schmiedebach H-P (2008), S. 180

25   Schrenck M (1968a)

26   Ilberg G (1904)

27   Sammet K (2000), S. 145

28   Engstrom EJ (2000), S. 167 f.

29   Bonhoeffer K (1940), S. 54; Sammet K (2000), S.257; Schmiedebach H-P (2008), S.189; Loos H (2014), S. 33

30   So war Laehr in seinem Streit (image Kap. 2.2, S.49 f.) mit Griesinger »deswegen so empört, weil er« die in den 1860er Jahren zunehmende öffentliche Kritik an den überfüllten Irrenanstalten »nun aus dem Munde eines psychiatrischen Universitätsprofessors erneut zu hören bekam, wo es doch dessen Aufgabe gewesen wäre, das Bestehende zu verteidigen« (Zeller G (1981), S. 125).

31   Helmchen H (2007), S. 112

32   Schneider C (1941), zit in Schmuhl H-W (2016), S. 366f.

33   Schmuhl H-W (1987)

34   Sandner P (2006), S. 122

35   SPIEGEL (1973) vom 9.10.1973 37:52

36   Deutscher Bundestag (1975) Bericht über die Lage der Psychiatrie der Bundesrepublik Deutschland: Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung). Dessen Erfolg wurde durch die am 18.01.1971 gegründete AKTION PSYCHISCH KRANKE (APK), Vereinigung zur Reform der Versorgung psychisch Kranker e.V., mitbestimmt, da in ihr übergreifend Abgeordnete aller Fraktionen des Deutschen Bundestages und engagierte Fachleute aus dem Bereich Psychiatrie zusammenarbeiteten, um »mit politischen Mitteln auf eine grundlegende Reform der Versorgung psychisch Kranker in der Bundesrepublik Deutschland hinzuwirken«.»Menschen mit psychischen Erkrankungen können umso weniger ihre Anliegen selber vertreten, je schwerer krank sie sind. Die APK versteht sich als Lobby für diese benachteiligte Zielgruppe. Der Verein ist überparteilich zusammengesetzt und arbeitet wie ein Scharnier zwischen Bundesparlament/ Bundesministerien und psychiatrischer Fachwelt.Als ein von Partikularinteressen unabhängiger Verein führt die APK unterschiedliche Organisationen und Interessenvertretungen (Verbände der Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen, Leistungsträger, Einrichtungsträgerverbände, berufsgruppenbezogene Fachverbände usw.) zu konkreten psychiatriepolitischen Fragestellungen zusammen.« (Aktion psychisch Kranke)

37   Häfner (1965); Radenbach & Wiesemann (2016)

38   v. Cranach M (2015)

 

2          Zur Entwicklung psychiatrischen Handelns im 19. Jahrhundert

 

 

Seelenstörungen waren Ärzten seit der Antike bekannt, Irrenpflege war seit dem Mittelalter Standespflicht islamischer Ärzte,39 und bereits vor tausend Jahren errichteten islamische Städte um das Mittelmeer – so u. a. Bagdad, Damaskus, Kairo, Granada – Hospitäler,40 in die auch Wahnsinnige aufgenommen wurden; ein 1409 in Valencia eingerichtetes Haus nur für Irre (»Casa de Orates«) wurde als ältestes Irrenhaus der Welt bezeichnet.41

2.1       Entstehung der »Anstaltspsychiatrie«42

Gleichwohl wurden in Europa vor allem zwei Traditionen eines eher außermedizinischen Umganges mit psychisch Kranken bekannt: Zum einen wurden in früheren Jahrhunderten durch psychische Krankheit nicht nur auffällige, sondern auch hilflose Menschen vorwiegend von caritativen Orden gepflegt.

Beispielsweise hat der 1396 gegründete Orden der Alexianer wohl schon früh in seinem Aachener Kloster Geisteskranke aufgenommen, und sich seit dem 18. Jahrhundert an mehreren Orten im Rheinland dezidiert der Pflege psychisch Kranker gewidmet.43 »Noch zu Ende des 18. Jahrhunderts lag die Pflege von Kranken und Hilflosen, Irren und Siechen fast ausschließlich in der Hand caritativer Vereinigungen.«44

Zum anderen wurden psychisch Kranke in ihren ländlichen Familien versorgt und – wenn möglich – auch für einfache landwirtschaftliche Tätigkeiten eingesetzt. Dies änderte sich, als mit Beginn der Industrialisierung seit dem 17. Jahrhundert die Bevölkerung rapide zunahm, Menschen vermehrt in die Städte zogen und damit die Zahl sozial randständiger Menschen erheblich wuchs.45 Der absolutistisch-bürokratische Staat reagierte vornehmlich in Frankreich auf diese Entwicklung,46 indem er Menschen, die sich nicht an die herrschenden sozialen Regeln hielten bzw. halten konnten (Vagabunden/Obdachlose, Prostituierte, Bettler, Diebe, psychisch Kranke), in sogenannten Arbeits-, Korrektions-, Zucht- und Tollhäusern oder Armen- und Siechenhäusern »wegschloss«, die – wie Foucault47 meinte – »Unvernunft ausgrenzte«, um die öffentliche Ordnung zu sichern.48

So veranlasste Ludwig XIV. 1656 mit seinem Erlass »renfermement des pauvres« (»Einschließung der Armen«) den Bau der Salpêtrière, einem riesigen Gebäude-Komplex auf dem Gelände einer ehemaligen Salpeter-basierten Munitionsfabrik mitten in Paris, um »Arme und Bettler, bald auch Geschlechtskranke, Prostituierte, gescheiterte Selbstmörder, Epileptiker, Demente und chronisch Kranke« aufzunehmen49 und somit von der Stadt fernzuhalten. Es war also ein »Bettlergefängnis«; ca. 10% der Insassen waren psychisch krank. In Kombination mit einem allgemeinen Krankenhaus (»Hôtel des Invalides«) galt es bereits gegen Ende des Jahrhunderts mit bis zu 800050 Insassen als das »größte Asyl Europas«.51

Das empirisch begründete Wissen antiker griechischer und persischer Ärzte war in der Scholastik des »dunklen« Mittelalters52 weitgehend in Vergessenheit geraten. Gelegentlich wurden Wahnsinnige als mit Gott in Verbindung stehende Heilige53 oder aber häufiger als von Dämonen besessene Hexen angesehen (und im ausgehenden Mittelalter von der Inquisition zu Tausenden hingerichtet). Vor dem Hintergrund der ab dem 18. Jahrhundert in den europäischen Ländern sich bahnbrechenden Aufklärung sowie der durch Selbstreflektion, Menschenbeobachtung und einen neuen wissenschaftlichen Denkstil über das Verhältnis von Seele, Körper und Gesellschaft charakterisierten Mentalität des sich konstituierenden Bürgertums54 wuchs das Interesse für psychisch abnorme Zustände: 1783 wurde das »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« als »erste psychologische Zeitschrift in Deutschland und Forum für Fachleute und Laien zur Erörterung psychischer Pathologie und sozialer Devianz begründet«.55 Irre wurden zunehmend als Kranke erkannt:56 1805 gründete Christian Reil das »Magazin für die psychische Heilkunde« als erste psychiatrische Zeitschrift in Deutschland.57 Die Kranken wurden allmählich von anderen sozial abweichenden Menschen getrennt, um sie angemessener versorgen zu können, aber auch, weil sich die übrigen Insassen der von staatlichen Armendirektionen verwalteten Arbeits-, Korrektions- und Zuchthäuser über die »Rasenden« beschwerten.58 Zwar wurden »Rasende« vereinzelt auch schon früher isoliert, aber die Trennung psychisch Kranker von den übrigen sozial Auffälligen vollzog sich im 18. Jahrhundert als genereller Prozess an zahlreichen Orten. Beispielhaft seien erwähnt:

In manchen Städten, z. B. in Braunschweig oder Frankfurt wurden »Tobsüchtige« in Narrenkäfigen, »Tollkoben«, in Lübeck ab 1479 im »Haus der armen Unsinnigen« eingeschlossen und verwahrt, im 18. Jahrhundert auch als Pfleglinge versorgt.59 Nach der Hausordnung des Zucht- und Tollhauses Celle von 1732 sollten Geisteskranke sanft und freundlich behandelt werden.60 1743 ließ der Würzburger Fürstbischof Friedrich Karl von Schönborn Blockhütten für Delirante und Rasende im Garten des Juliusspitals errichten.61 In Berlin wurden »Irre und wahnwitzige Personen« ab Anfang des 18. Jahrhunderts (1701) im Friedrich-Hospital aufgenommen und verpflegt; bereits 1718 wurde das erste selbständige Irrenhaus in der Krausenstraße/Stadtmitte eingerichtet (zunächst noch gemeinsam mit dem Arbeitshaus, das ab 1742 abgetrennt wurde); Instruktionen der Aufsicht führenden Armendirektion legten fest, dass ein Inspektor für Reinlichkeit, gesunde Kost, und Freundlichkeit der Wärter gegenüber den Kranken zu sorgen und gegebenenfalls auch den Arzt an einen regelmäßigen Besuch der Kranken zu erinnern hatte. Nach mehreren Erweiterungen und Verbesserungen brannte dieses Haus 1798 ab. Danach wurde 1799 eine Irrenabteilung in der Charité eröffnet.62

Damit wurde neben dem Sicherungsaspekt zunehmend auch Fürsorge für die sonst auf Almosen angewiesenen Armen, Irren und Hilfsbedürftigen als staatliche Aufgabe angesehen, gefordert und gesetzlich als staatliche Pflicht, etwa mit dem »Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten« von 1794 anerkannt.63 Nach der französischen Revolution säkularisierte Klöster (z. B. Eberbach 1811/1815, Siegburg 1823) oder kommunalisierte Schlösser (z. B. Sonnenstein 1811; Winnenden 1834) und ebenfalls leerstehende Leprosorien oder Pesthäuser wurden zu psychiatrischen Spitälern umfunktioniert; überdies wurden Anstalten speziell für psychisch Kranke (z. B. Schleswig 1820; Sachsenberg/Schwerin 1830) auch neu gebaut. Neben diesen öffentlich finanzierten Irrenhäusern wurden ebenfalls private Irrenhäuser eingerichtet; in England führte das Motiv der Fürsorge zu privat durch philantropische Mäzene finanzierten Institutionen, z. B. das »Retreat«; in Paris wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ungefähr 20 private Häuser eröffnet.64 Allmählich entwickelte sich auch die ärztliche Versorgung der Irren. Auswärtige Wundärzte besuchten die Irrenasyle zunächst nur gelegentlich oder nach Anforderung, bis auch akademische Ärzte mit Residenzpflicht in der Anstalt vertraglich gebunden oder schließlich angestellt wurden. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts hatten psychiatrische Anstalten in der Regel angestellte Ärzte. Man erkannte, dass kranke »Irre« sich im Zuchthaus nicht bessern können und einer freundlicheren und nach therapeutischen Prinzipien geordneten Atmosphäre zu ihrer Heilung bedürfen;65 so wurde auf die landschaftliche Umgebung bei Einrichtung einer Irrenanstalt geachtet; z. B. wurden die Heil- und Pflegeanstalten Illenau, Eberbach, Eichberg, Siegburg, Sachsenberg, Sonnenstein wegen ihrer Lage gerühmt.66 In der durch das »moral management« erzeugten Aufbruchsstimmung wurde auch der inneren Einrichtung der Anstalt vermehrte Aufmerksamkeit gewidmet; »die Anstalt als Heilmittel an sich«67 wurde mit differenzierten Anstaltsordnungen und Lebensbedingungen ausgestattet, sowohl mit Annehmlichkeiten wie Kegelbahn und Bibliothek für Patienten »vom Stande« als auch mit arbeitstherapeutischen Programmen für die armen Anstaltspfleglinge (häusliche Arbeiten für Frauen, gärtnerisch-landwirtschaftliche Außenarbeiten für Männer).68 Allerdings reichte die staatliche Fürsorge oft nicht zu solcher Ausstattung wie in einigen Modellanstalten aus, sondern unzureichende Finanzierung bei steigenden Patientenzahlen führte dazu, dass viele Anstalten ihren Charakter als »Aufbewahrungsanstalten« behielten.69

Somit war der um die Mitte des 19. Jahrhunderts differenziert als Heilmittel organisierten Anstalt eine über 100jährige Entwicklung aus schlimmsten Anfängen vorausgegangen, wie die beiden folgenden Bilder aus der Frühzeit der staatlichen Irrenhäuser im 18. Jahrhundert in England und Spanien erkennen lassen.

Images

Abb. 2.1: William Hogarth (1697-1764): Im Londoner Irrenhaus Bedlam (um 1735)

Images

Abb. 2.2: Goya, Francisco de (1746-1828) »Das Irrenhaus«, um 1812/19

Die Bilder zeigen sehr anschaulich das Durcheinander der verstörten Menschen. Chaotische Unruhe herrschte in diesen Häusern. Ungeheizte und ungelüftete, verdreckte und überfüllte Räume, unausgebildete und oft auch grobe Wärter weisen auf massive Unterfinanzierung infolge öffentlicher Gleichgültigkeit hin und trugen das ihre zu den chaotischen Verhältnissen bei.

Das älteste englische Irrenhaus, das bereits im 14. Jahrhundert in London als Bethlehem Royal Hospital gegründet wurde, im Jahre 1403 »sechs Männer beherbergte, die ihres Verstandes beraubt waren« 70 und im Volksmund synonym für Chaos verächtlich nur als »Bedlam« bekannt war, wechselte mehrfach seinen Standort.71 Der Grundriss eines geplanten Neubaus aus dem Jahre 1814 zeigt mit strahlenförmig von einem Zentralraum ausgehenden Zellentrakten eine Struktur, die identisch mit denen großer Gefängnisse des 19. Jahrhunderts ist72 und von im Zentrum positioniertem Personal kontrolliert werden kann, in Bedlam von fünf Wärtern für 120 Patienten. Gleichwohl war der Übergang von den chaotischen Großraumasylen zum Zellengefängnis mit Einzelzellen für jeden Gefangenen ein humaner Fortschritt. (Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. beschloss nach einer Besichtigung des 1842 in London eröffneten Pentonville Prison, das als modernstes seiner Zeit galt, das Einzelzellensystem für ganz Preußen).73

»Bedlam war eine bekannte Institution in London, als Ausflugsziel geschätzt. Das Promenieren vor den Käfigen der Gefangenen war ein beliebtes Vergnügen, wie auch das Auspeitschen weiblicher Gefangener viele Zuschauer anzog.«74 In Paris war sogar »für die öffentlich zur Schau gestellten Patientinnen… und ihre behandelnden Ärzte eigens ein Amphitheater auf dem Gelände der Salpêtrière gebaut worden.«75

Die Demonstration der asylierten »Irren« vor Publikum war im 17. und 18. Jahrhundert verbreitet, nicht nur um Mitleid zu erzeugen und zu Spenden für die Kranken (und zu Trinkgeldern für die Wärter) zu motivieren, sondern auch zur moralischen Erziehung,76 vor allem aber wohl zur Befriedigung von Sensationsgier.

1770 beendete Bedlam diese missbräuchliche und entwürdigende Zurschaustellung psychisch Kranker weitgehend. Damit jedoch schwanden Einnahmen, das Taschengeld für die Kranken sank auf zwischen 20 und 30 Pfund pro Jahr; vor allem aber ging auch ein Moment öffentlicher Kontrolle verloren, sodass in der folgenden Periode die schlimmsten Misshandlungen der Patienten durch die

Images

Abb. 2.3: Grundriss Bedlam 1814 (Jetter 1981)77

Wärter erfolgten. Somit stand einem intendierten Nutzen, der sich allerdings nur aus einer Minderung des Schadens der öffentlichen Demütigung der Kranken ergab, ein erheblicher Schaden durch Verlust von Einnahmen und öffentlicher Kontrolle des Personals gegenüber.78

Images

Abb. 2.4: Eastern State Penitentiary in Philadelphia (USA)1822 (Wikipedia engl)79 Vorbild für damals modernen Gefängnisbau

Wie in London mit dem Bedlam wurde mit gleicher Intention der Sicherung in Wien bereits 1784 ein gefängnisartiger »Narrenturm« als »im deutschen Sprachraum erstes Spezialgebäude«80 zur Unterbringung von »Geisteskranken« von Kaiser Joseph II. aus eigenen Mitteln errichtet, in dem sich friedliche Insassen zwischen ihren türlosen Zellen frei bewegen konnten, aber tobende noch bis 1840 durch Anketten81 oder mit Peitschenhieben diszipliniert wurden. Und auch hier wurden die Narren Besuchern gegen ein Entgelt vorgeführt. Aber die Errichtung dieses Irrenhauses zusammen mit und auf dem Gelände des Allgemeinen Krankenhauses gilt als Beginn der österreichischen »Irrenfürsorge« und als ein Schritt in Richtung der zunehmenden Humanisierung der Behandlung.82

Images

Abb. 2.5: Der »Narrenturm« in Wien von 1784
Ausstellung »Der Krieg gegen die Minderwertigen« (Gedenkstätte Steinhof, Wien) 83

Images

Abb. 2.6: Grundriss des »Narrenturm« aus der Bauzeit 1783 (Archiv der Universität Wien)84

»Der Wiener »Narrenturm« als Architektur gewordene Überwachungsphantasie ist gleichzeitig auch ein Manifest des beginnenden Ausschlusses der Geisteskranken aus der Gesellschaft, der Disziplinierung von Geisteskrankheit in »Irrenanstalten«. Die Geisteskranken traten mit dem »Narrenturm« aus der polymorphen Masse der »Armen« als eigene Kategorie hervor. Ein Reisender inspizierte 1789, wenige Jahre nach der Eröffnung, auch diese »Hauptsehenswürdigkeit« bei seinem Wienbesuch: ›Ein großer Theil der Unglücklichen, hier Eingesperrten, sind Soldaten. Viele sind nicht in die Behältnisse eingekerkert, sondern sitzen und laufen in den Gängen umher. Manche liegen an Ketten in ihren Kerkern, und sind an die Wände angeschlossen‹. Diese von zeitgenössischen Reisenden viel bestaunte Institution blieb bis 1869 in Betrieb und besaß im Inneren ›mehr den Charakter eines Gefängnisses, als einer Heilanstalt.‹«85 Dieser Narrenturm auf dem Krankenhausgelände markierte die Anerkennung der Irren als Kranke, war aber nach wenigen Jahren bereits wegen der neuen Umgangsformen des »moral management« veraltet; seine Schließung durch die niederösterreichische Landesvertretung 1866 wird als Beginn der modernen Versorgung psychisch Kranker in Österreich angesehen.86

Wenn auch zunächst die Sicherung der Gesellschaft gegen Normverletzungen (sowie von Familien, die durch krankheitsbedingte Verhaltensstörungen eines »irren« Angehörigen überlastet waren87) durch Asylierung der »Irren« im Vordergrund stand, so lassen Berichte doch erkennen, dass – wie bereits erwähnt – allmählich auch aufklärerische Motive der kommunalen oder staatlichen Fürsorge zur Asylierung für psychisch Kranke Bedeutung gewannen,88 so wenn etwa psychisch Kranke durch Aufnahme in eine psychiatrische Anstalt aus schlimmsten Umständen der privaten Vernachlässigung erlöst wurden.

Von der Regierung des Kantons Fribourg wurde 1875 eine Erfassung aller »Geisteskranken« des Kantons in Auftrag gegeben, um den Bedarf an psychiatrischer Versorgung im Hinblick auf den Bau einer psychiatrischen Anstalt in diesem ländlichen Kanton festzustellen, in dem es weder eine psychiatrische Einrichtung noch einen Psychiater gab. Die repräsentative Feldstudie ist für die damalige Zeit ungewöhnlich aussagekräftig, weil alle von kommunalen Behörden oder Gemeindemitgliedern der Untersuchung zugeführten 164 psychisch Kranken des Kantons von einem erfahrenen Psychiater untersucht und entsprechend dokumentiert wurden. Erfasst wurden nur schwerkranke, zur Hälfte psychotisch Kranke, sowie Kranke mit (mehrfach auch alkoholbedingter) Demenz und schwerer geistiger Behinderung (»Idiotie«). »Über die meisten Kranken sind Jahre und Jahrzehnte hinweggegangen, während denen sie halluzinierend, angstvoll oder depressiv untätig in ihrer Kammer sassen oder lagen.«89

Störendes Verhalten trug zur Vereinsamung der Kranken bei, da Umgebungspersonen Tätlichkeiten oder häufiger Bizarrerien wie formelhaftes Beten oder Knien, Nacktgehen und erotisches Entblössen oder Lärmen »eher aus dem Wege gehen, als dass sie aktiv einschreiten.«90

Zwangsmaßnahmen in 19% der Fälle bestanden in isolierenden Einschließungen in auch im Winter unbeheizten Kammern oder Ställen, teilweise »enge, dunkle, feuchte, unbelüftete, stinkende Verließe.«91 »Eine periodisch erregte (katatone) Kranke wurde während ihrer Krankheitsphasen jeweils in den Backofen gesperrt – wohl das grausigste und engste Gefängnis, das in dieser Studie angetroffen worden ist.«92 Acht Kranke wurden, in der Hälfte dauerhaft, mit Ketten oder Stricken angebunden, »ein katatoner Mann wurde in einem Verschlag von 3x1 m in einer Zwangsjacke und zusätzlichen Fesseln gefunden«.93 »Die Häufigkeit und Art von isolierenden und fixierenden Langzeitmaßnahmen beeindruckten schon damals den untersuchenden Psychiater. Aber er meinte: ›Die Zustände haben im Grunde nichts Erstaunliches an sich, wenn man an die jammervolle Situation der Familien denkt, die fernab von jeder Hilfe durch Wissenschaft, Kunst und Gebäulichkeiten von einem solchen Unglück betroffen sind.‹«94

Allerdings teilt der diese Untersuchung kritisch referierende moderne Psychiater auch nicht den Optimismus über die Wirksamkeit der Anstaltsbehandlung, der wohl »in der Begegnung mit dem Elend der psychisch Kranken außerhalb der Anstalt« gründet, und den er dem aus therapeutischer Ohnmacht resultierendem Wunschdenken zuschreibt.95

Der moderne Autor kommt zu dem Schluss, dass diese Studie die Hypothese widerlegt, »dass die untersuchte psychiatrisch unversorgte, agrarische und vorindustrielle Gesellschaft ihre schwer psychisch Kranken ohne psychiatrische Klinik besser versorgt habe, als wir es heute tun.«96 Jedoch erscheinen Zweifel am Nutzen der Überführung von Schwerkranken in eine Irrenanstalt berechtigt, wenn deren Überfüllung einen heilsamen Umgang mit den Kranken verhinderte, zumal es an – aus heutiger Sicht – wirksamen Behandlungen fehlte.

Benjamin Rush sah es in seinem Lehrbuch von 1812, einem grundlegenden Text der US-amerikanischen Psychiatrie, als die wichtigste therapeutische Maßnahme an, erregte »manisch« Kranke aus ihrer Umgebung zu entfernen: »Before we proceed to mention the remedies for mania, or the highest grade of general madness, it will be necessary to mention the means of establishing a complete government over patients afflicted with it, and thus, by securing their obedience, respect, and affections, to enable a physician to apply his remedies with ease, certainty and success. The first to be done, to accomplish these purposes, is to remove the patient from his family, and from the society of persons whom he has been accustomed to command, to a place where he will be prevented from injuring himself or others.«97 Aber dies musste in ein Verhalten des Arztes eingebettet sein, das Rush in einem ausführlichen Kodex beschrieb, u. a. auch »A physician should treat his deranged patiens with respect«.98

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung infolge der Industrialisierung nahm seit Ende des 17. Jahrhunderts die Bevölkerung und damit auch die Zahl psychisch Kranker massiv zu.99