Katrin Einhorn

Sand in Sicht

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Katrin Einhorn

Katrin Einhorn, 1979 geboren, studierte Germanistik und Französisch und arbeitet als Lehrerin. Die Schlafzeiten ihrer Kinder nutzt sie, um ihre charmanten und witzigen Bücher zu schreiben. Katrin Einhorn lebt mit ihrer Familie in Trier. ›Sand in Sicht‹ ist ihr dritter Roman.

Über das Buch

Lenny liebt Ordnung, Mathematik – und seine Freundin Zoe, der er nach exakt 661  Beziehungstagen einen Ring schenken will. Da kommt der Urlaub in Südfrankreich gerade recht. Statt emotionaler Höhenflüge erwartet ihn allerdings die Erkenntnis, dass sich Liebe nicht berechnen lässt: Das teure Schmuckstück landet im Pool und Zoe ist auch nach der Ring-Rettungsaktion von dem Geschenk komischerweise gar nicht begeistert. Und wer ist eigentlich dieser Dominik, der plötzlich unangemeldet in ihrem Zimmer auftaucht? Die Antwort auf diese Frage zwingt Lenny zu folgenschweren Entscheidungen …

Impressum

Originalausgabe 2017

© 2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,

München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen

Umschlaggestaltung: Isabella Grill/dtv

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook 978-3-423-43144-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21669-2

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website http://www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423431446

 

 

 

Für meine Eltern

 

 

 

6x − 4i > 2(3x − 6u)

 

Lenny beäugte den Papierhut von allen Seiten und wusste nicht weiter. Er könnte das Volumen dieses Gebildes berechnen – aber ein Schiff daraus falten? Ein Ding der Unmöglichkeit. Immerhin lächelte die Kellnerin. Dass ein Hotelgast den Urlaubstag mit einer Bastelarbeit einläutete, schien sie nicht zu wundern.

Lenny warf einen Blick durch das bodentiefe Fenster, das die Café-Bar von der Terrasse trennte. Seine Freundin Zoe lag noch am Pool, die Augen durch Muskelkraft und die Ohren durch Kopfhörer verschlossen. Seit zwei Tagen lief das schon so. Nicht die ganze Zeit natürlich, aber auffällig oft. Zoe konnte schon immer schlecht abschalten, und die letzten Wochen hatten ihr einiges abverlangt: tausend Klausuren, die Tante im Krankenhaus und eine der besten Freundinnen mit Liebeskummer.

»Krieg ich den Hut?«

Lenny rückte instinktiv zur Seite. Der Junge mit den blinkenden Sandalen war ihm schon mal irgendwo begegnet, aber mit Kindern ging es ihm wie mit Katzen. Er konnte sie – selbst wenn er sich Mühe gab – einfach nicht auseinanderhalten.

»Das wird ein Schiff«, sagte er. »Für meine Freundin.«

»Kann ich das haben?« Der Blinkende fuchtelte mit einer Spritzpistole in der Luft herum, hielt sie ihm aber immerhin nicht an die Schläfe. Lenny schüttelte den Kopf. »Wie gesagt: für meine Freundin.«

Der Junge starrte ihn an, als hätte er seinen Lieblingsteddy geschändet, und stürmte von dannen. Lenny faltete das Schiff wieder auseinander, nur um es drei missglückte Faltversuche später endgültig zusammenzuknüllen und die Café-Bar zu verlassen.

Um 9:55 Uhr war noch erfreulich wenig los am Pool, der in seiner Nierenform wunderbar zu den beiden bronchienhaft verästelten Pinien am Nordrand des Beckens passte. Vier klassische Urlaubstypen bevölkerten das Gelände: die Seniorin mit der Badehaube, die gestresste Mutter, das dazugehörige Quengelkind und der Poser, der seinen Bizeps einölte, als gäbe es kein Morgen. Lenny liebte es, seine Umwelt in Kategorien einzuteilen. Es gab ihm das gute Gefühl, den Plan in der Tasche und die Lage im Griff zu haben. Nur seine eigene Freundin würde er nie in eine Schublade stecken – es sei denn, es gäbe eine für goldblonde BWL-Studentinnen mit einer Schwäche für Katzen und Tiramisu.

Zoe wechselte mit einer geschmeidigen Rotationsbewegung von der Rücken- in die Bauchlage. Natürlich könnte er ihr sein Geschenk einfach in die Hand drücken – aber das wäre zu unspektakulär. Lenny wollte ein Zeichen setzen. »Weißt du noch, wie ich dir damals den Ring geschenkt habe?« Das würde er sie irgendwann in ferner Zukunft gerne fragen, wenn sie gemeinsam auf ihrem Gartensofa lümmeln und ihren Kindern beim Ballspielen zusehen würden. Es musste also ein echter Knaller sein, der tausendmal mehr Stil hatte als ein schnödes Papierschiff und der ihre Augen selbst Jahre später mit Rührungstränen füllen würde.

Lennys Blick fiel auf einen Strauch mit roten Blüten, der im Schatten der rechten Bronchialpinie seinen Platz hatte. Als angehender Mathematiker mit Physik im Nebenfach war er in Sachen Botanik nicht sonderlich versiert, tippte aber grob auf Hibiskus. Die Blütenform war perfekt: außen fünf drehsymmetrisch zueinander angeordnete Blätter und im Zentrum ein drei Zentimeter langer Nippel, auf den er den Ring spießen konnte. Lenny lächelte in sich hinein, während er unweit von Zoes Liegeplatz in den Pool glitt und die bestückte Blüte zu Wasser ließ.

»Schatz?«, raunte er. »Guck mal!«

Zoe brummte etwas Unverständliches. Ob er sie geweckt hatte? Lenny schwamm bis zum Beckenrand und tippte ihr mit minimalem Druck auf die Schulter. Sie schlug die Augen auf, einen Hauch von Missmut im Blick.

»Schau mal!« Er versetzte der Blüte mit dem Ring einen Stups, sodass sie genau auf ihre Nasenspitze zutrieb.

»Was ist das?« Der Hauch von Missmut schwang auch in ihrer Stimme mit. Lenny wollte ihr die Blüte gerade reichen, als auf einmal …

»Hey!« Von einer Millisekunde auf die andere stand Zoes Gesicht ganz im Zeichen der Aggro-Braue. So hatte Lenny ihre linke Augenbraue getauft, die sich steil wie ein Satteldach über ihrem Auge erhob, wenn ihr etwas gehörig gegen den Strich ging. Der Junge, der eben noch Blinksandalen getragen hatte, schwamm in einer Linkskurve zum Beckenrand zurück. Dass er mit seinem Bauchklatscher drei Liegen und auch Zoe überschwemmt hatte, schien ihn nicht zu kümmern. »Aufpassen, Gian-Luca!«, schimpfte eine Frau mit spargeldünnen Beinen, die ebenfalls in die Kategorie »gestresste Mutter« passte. Lenny schickte dem Störenfried einen extrabösen Blick hinterher – doch dann erstarrte er.

»Nein!« Mit einer blitzschnellen Bewegung drehte er die gekenterte Blüte um. »Er ist weg!« Fassungslos blickte er in das bewegte Wasser.

»Wer ist weg?«, fragte Zoe.

»Der Ring!«

»Welcher Ring?«

»Na, unser Ring! Den ich dir schenken wollte!«

»Wieso willst du mir einen Ring schenken?«

Lenny war viel zu aufgeregt, um sich zu fragen, warum Zoe so sachlich klang. Er holte tief Luft und tauchte zum Boden des Beckens hinab. Dass er die Augen im Wasser kaum länger als drei Sekunden offen halten konnte, erschwerte die Suche erheblich. »Ich geh mal kurz was trinken«, sagte Zoe nach seinem vierten Tauchgang. »Mach das«, keuchte Lenny, der vor lauter Adrenalin keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ansonsten hätte er sich vielleicht die Schwimmbrille der Badehauben-Frau geliehen oder einen Mitarbeiter des Hotels um Hilfe gebeten. Diese Idee kam ihm jedoch erst, als seine Hände längst verschrumpelt und die Augen verquollen waren. Völlig fertig klopfte Lenny um 10:32 Uhr an die Tür ihres gemeinsamen Zimmers.

»Na, fündig geworden?«, fragte Zoe.

»Es tut mir so leid.« Lenny schlüpfte aus seinen Badelatschen, richtete sie parallel zueinander aus und schloss seine Freundin in die Arme. »Er ist weg. Wie vom Erdboden verschluckt.«

»Ist nicht so schlimm. Danke trotzdem.« Sie klopfte ihm mit den Fingern auf die linke Schulter. »War lieb gemeint.«

Er seufzte. »Ich hab das ganze Becken abgesucht. Sogar mit Laubkescher! Keine Chance.«

Er ließ sich aufs Bett fallen, kreuzte die Arme vor der Brust und klemmte seine Finger in den Achselhöhlen ein. Wäre die Lage nicht so ernst, würde Zoe jetzt vermutlich grinsen und ihn darauf hinweisen, dass er mal wieder »die Brezel« machte. So nannte sie nämlich diese Armhaltung, die frontal betrachtet an die zwei Schleifen des besagten Gebäckstücks erinnerte. Seufzend schloss Lenny die Augen, nur um sie eine Sekunde später wieder aufzureißen. »Sag mal, hast du mir gerade auf den Rücken geklopft?«

»Wie bitte?«

»Du hast mir den Rücken getätschelt.«

»Keine Ahnung. Hab ich das?«

»Hast du!« Lenny lächelte matt. »Und damit ist der eindeutige Beweis dafür erbracht, dass Philipp seine blödsinnige Theorie in die Tonne treten kann.«

»Was denn für eine Theorie?« Zoe legte sich neben ihn und blickte aus dem Fenster, durch das man ein mikroskopisch kleines Stück des Sandstrands von Palavas-les-Flots erkennen konnte.

»Hat er dir nie vom Klopf-Code erzählt?« Lenny stürzte sich auf den Themenwechsel, entschlossen, sich von dem verlorenen Ring weder den Tag noch die Laune verderben zu lassen. »Angeblich ist das Rückenklopfen eine universelle Beziehungsbotschaft. Wo geklopft wird, läuft nix.« Er lüftete ihr Top und wollte ihren Bauchnabel küssen, um die Theorie im Dienste der Wissenschaft zu widerlegen, doch Zoe rollte sich zur Seite und verließ das Bett.

»So einen Unsinn hab ich ja noch nie gehört.« Sie steuerte das Bad an. »Ich mach mich fertig, dann können wir los.« Lenny knackte mit seinem rechten Daumen. Ein Tick, den er sich schon lange abgewöhnen wollte. »Zum Strand?«

»Nach Montpellier, wenn das für dich okay ist. Ich brauch ja noch das Geschenk für Cleo.« Zoe klang nicht gerade euphorisch, und auch Lenny verspürte wenig Lust dazu, die regionalen Spielwarengeschäfte nach einem Geschenk für das bald vierjährige Patenkind zu durchforsten. »Wir suchen auch nicht ewig«, versprach sie. »Wir kaufen einfach irgendwas Kleines, gehen essen und sehen uns die Stadt an.«

»Ein guter Plan.« Lenny hatte zwar mehr Lust auf Strand, würde sich Zoes Unternehmungslust jedoch nie in den Weg stellen. Seine Freundin saugte neue Eindrücke auf wie ein Schwamm, und er liebte ihre Begeisterung, wenn sie ein neues Buch, ein neues Hobby oder eine neue Lebensphilosophie für sich entdeckte. Außerdem tat es ihm immer noch leid, dass er sie wegen seiner Höhenangst nicht in das Drehrestaurant auf dem Leuchtturm von Palavas-les-Flots einladen konnte, da musste er ihr in Sachen Freizeitgestaltung schon entgegenkommen.

Während Zoe im Bad beschäftigt war, blieb er auf dem Bett liegen und ließ die beruhigende Leere des Hotelzimmers auf sich wirken. Lenny gehörte nicht zu den Menschen, die ihr Hab und Gut überall verstreuten, ganz im Gegenteil. Er liebte Ordnung und Struktur. Seine Kleidung, die hauptsächlich aus schwarzen und weißen T-Shirts bestand, hing nach Farben sortiert im Schrank, das Ladekabel seines Handys war sorgsam aufgewickelt, und die Ohrstöpsel auf der Nachttischschublade bewachten sein Portemonnaie wie zwei Zinnsoldaten. Lediglich Zoes zerknittertes Handtuch auf dem Boden beschädigte die Harmonie etwas – aber Lenny war kein Pedant und konnte mit so was inzwischen gut umgehen.

Nein, nichts und niemand würde ihm den Tag verderben: weder das plärrende Baby im Nebenzimmer noch der Staubsauger auf dem Flur. Schläfrig nahm er Zoes Handy zur Hand, startete die Musik-App und stutzte. »Baby, mach dir nie mehr Sorgen um Geld, gib mir nur deine Hand, ich kauf dir morgen die Welt.« Was war denn das? Er wusste ja, wie wandelbar Zoes Interessen waren, aber das hatte er nun wirklich nicht erwartet.

»Du hörst Cro?«, fragte er.

»Klar, warum nicht?«

»Das ist doch dieser Typ mit der Panda-Maske.«

»Die Texte haben Tiefgang.«

»Nicht dein Ernst.« Lenny wollte sich gerade kopfschüttelnd einen weiteren Song des Pandas zu Gemüte führen, als ihn ein Klopfen an der Tür ablenkte.

»Ja bitte?«

Die Tür ging auf und ein unbekannter Besucher, der sich nicht direkt in eine Kategorie einordnen ließ, blickte ihm entgegen. Mit seiner langen weißen Hose und dem hellblauen Hemd wirkte er nicht wie ein Urlauber, sondern eher wie ein Angestellter. Seine Oberarme waren kräftig wie die eines Möbelpackers, die Hände dagegen zart, als würde er in seiner Freizeit Blumenkränze flechten. Er lächelte unsicher, doch in seinem Blick lag ein forscher Zug, der Lenny irritierte. Hinter ihm schlingerten gerade zwei sonnenverkohlte Typen vorbei und grölten lauthals ein Lied, in dem »Schatzi« um ein Foto gebeten wurde.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Lenny, nachdem die beiden im Nachbarzimmer verschwunden waren. Der unbekannte Besucher räusperte sich, schien nach Worten zu suchen, wurde jedoch nicht fündig. Komischer Vogel. Ob er sich im Zimmer geirrt hatte?

»Wir haben nichts bestellt. Und wir brauchen auch nichts.« Lenny wollte gerade aufstehen und die Tür zuschieben, als sich der Besucher dann doch zu einem Redebeitrag entschloss.

»Entschuldigung«, begann er. »Ich wollte fragen, ob …«

»Wer ist denn da?«, rief Zoe in dem Moment, und plötzlich zuckte der unbekannte Besucher zusammen.

»Zoe, hier ist Dominik!«, rief er, und seine Stimme hallte unerwartet kräftig durch den Raum. »Brauchst du zufällig einen Arzt?«

 

Lenny kannte keinen Arzt namens Dominik, seine Freundin offenbar schon. Und so, wie die Sache aussah, überraschte auch sie der Besuch ungemein.

»Was machst du denn hier?« Sie zog einen Haargummi aus der Hosentasche und rollte ihren Pferdeschwanz zu einem Dutt auf. Eine beunruhigende Botschaft. Außerhalb einer Schwimmstätte machte sich Zoe diese Frisur nämlich nur dann, wenn ihr Nacken vor Hitze kochte oder die Lage ausgesprochen ernst war. Wenn sie für eine Prüfung lernte, von der Polizei angehalten wurde oder eine Himbeertorte für ihre Eltern backte. Sie lächelte, versteinerte, schüttelte den Kopf. Der Mann mit der weißen Hose räusperte sich.

»Entschuldige, dass ich hier einfach auftauche, aber ich …« Er stockte, sah zu Lenny, dann wieder zu Zoe. »Können wir vielleicht kurz allein reden?«

»Klar. Lass uns auf die Dachterrasse gehen.« Zoe schlüpfte in ihre Flipflops. Ihr Gesicht sah auf einmal so fleckfiebrig aus, dass Lenny plötzlich in Alarmbereitschaft war.

»Wieso allein?« Er zwang seine Gesichtszüge, nicht völlig zu entgleiten. »Wer ist das denn überhaupt? Was will der hier?«

»Dominik.« Der Herr Doktor hatte eine schweißnasse Hand. Lenny ließ seine Freundin nicht mehr aus den Augen.

»Und was müsst ihr besprechen?«, wollte er wissen.

»Erklär ich dir später.« Zoe steuerte den Aufzug an, ohne zurückzublicken. Lenny verstand die Welt nicht mehr. Was ging denn hier ab? Wer war dieser Typ und was wollte er von Zoe? War das ein Bekannter von der Uni? Ihr Zahnarzt? Ein Verwandter? Nur langsam beruhigte sich sein Puls. Um die Zeit zu überbrücken, räumte er das Zimmer auf, machte das Bett, brachte Zoes Handtuch ins Bad und wischte das Waschbecken aus. Als die beiden wiederkamen, fühlte er sich zwar etwas besser, doch die Anspannung war geblieben.

»Ich lass euch mal«, sagte der Mann mit der weißen Hose.

»Nein. Bleib bitte.« Zoe blickte ihn so eindringlich an, dass Lennys Puls schon wieder den Ruhemodus verließ, was sich noch verstärkte, als er sah, wie sie sich mit ihrer linken Hand am Türrahmen festkrallte. So fahl wie in diesem Moment hatte sie seit ihrer letzten Magen-Darm-Grippe nicht mehr ausgesehen. Was auch immer passiert sein mochte, es hatte sie ganz schön mitgenommen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Es tut mir so leid«, begann sie mit merkwürdig heiserer Stimme, »aber irgendwann müssen wir es dir ja sagen.«

»Was denn sagen?« Lenny verspürte auf einmal ein ungutes Kribbeln in der Magengrube. Zoe schwieg vier Sekunden lang, dann griff sie nach der Hand des Besuchers.

»Wir sind …« Sie holte tief Luft. »Dominik und ich, wir sind zusammen.«

»Wie? Zusammen?« Das Blut rauschte auf einmal gefährlich laut in Lennys Ohren, die ihm wohl gerade einen üblen Streich gespielt hatten. Sein Blick klebte an dem Händepaar.

»Tut mir leid«, sagte Zoe. »Wir wollten es dir schon längst sagen.« Ihre freie Hand zitterte nun ebenso wie ihre Stimme. »Aber irgendwie hat das vom Timing her nie so ganz gepasst.«

»Vom Timing her?« Lenny taumelte zwei Schritte zurück. Von Herzrasen über Mundtrockenheit bis hin zur Atemnot schien er gerade sämtliche Symptome einer Panikattacke in sich zu vereinen. Er presste seinen Rücken gegen die Wand, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Willst du mich verarschen?«

»Das war nicht … geplant. Ehrlich nicht.«

»Aber …«

»Es ist einfach passiert.«

»Einfach passiert. Aha.« Lenny fiel auf, dass ihm die Fähigkeit, vollständige Sätze zu bilden, zunehmend abhandenkam.

»Dominik ist toll. Er macht gerade seinen Facharzt. Chirurg wird er. Und du weißt ja sicher noch, wie oft ich im letzten Monat bei meiner Tante im Krankenhaus war …«

Lenny atmete tief durch. »Also noch mal zum Mitschreiben.« Er riss seinen Blick von dem Händepaar los und zwang sich, ihr direkt in die Augen zu sehen. »Du fährst mit mir nach Südfrankreich. 998Kilometer, zu zweit in einem Auto.« Seine Stimme wurde langsam, aber stetig lauter. »Du hängst mit mir am Strand rum, schläfst mit mir in einem Bett, machst einen auf heile Welt. Und das alles, während du eigentlich schon längst mit diesem Typen da rumvögelst?« Den letzten Satz hatte er so laut gebrüllt, dass der angehende Schnippler zusammenzuckte. Zoe bewegte sich zum Fenster hinüber. Ihr Körper schien auf einmal überschwere Gewichte an den Gliedern zu tragen.

»Was soll ich sagen? Ich hab mich halt verliebt«, flüsterte sie. »Und ich habe dagegen angekämpft, das musst du mir glauben!«

»Wie großmütig.« Lenny verschränkte seine Arme in Brezelhaltung. »Und wann genau wolltest du mir von deiner neuen großen Liebe erzählen? Bei eurer Hochzeit?«

»Ach, Lenny.« Zoe klang noch immer so unnatürlich heiser. »Ich weiß doch, dass du ewig für den Urlaub gespart hast. Und ich dachte, wir machen uns einfach eine schöne Zeit.« Sie drehte sich zu ihm um. »Ja, war eine Scheißidee. Das hab ich inzwischen auch gemerkt.«

»Wie lange läuft das schon mit euch?«

»Weiß ich jetzt gar nicht so genau.«

»Dann denk nach!«

»Nicht lange«, flüsterte Zoe. »Ein paar Wochen. Zwei, höchstens drei.«

Zwei Wochen? Vielleicht auch drei?! Lenny drehte sich um und hastete mit gefühlten 20 km/h den Flur entlang. Er wollte nur noch weg. Wohin auch immer, Hauptsache raus aus diesem Zimmer, diesem Hotel, weg von dem Ort, auf den er sich gefreut hatte wie ein kleines Kind. Wie blind war er bloß gewesen, wie naiv?! Wochenlang hatte Zoe Theater gespielt, und er hatte nicht den geringsten Verdacht geschöpft. Nächtelanges Lernen, Krankenhaus, die traurige Freundin – alles gelogen! Wenn er bloß daran dachte, wie sie mit diesem Schnippler … während er nach einem Ring …

Irgendwie gelangte Lenny in den Aufzug. Erst als sich die Türen ratternd schlossen, fiel ihm auf, dass er schon länger nicht mehr geatmet hatte. Zoes Worte geisterten unwirklich durch seinen Kopf. Von nun an brauchte er nie wieder über die Top  3 der schlimmsten Momente seines Lebens nachzudenken, die ihm schon so viel Kopfzerbrechen bereitet hatten.

Top  1: »Dominik und ich, wir sind zusammen.«

Top  2: »Ich hab mich halt verliebt.«

Top  3: »Dominik ist toll.«

Im Foyer war es so stickig, als wäre ewig nicht gelüftet worden.

»Monsieur Pekari? Monsieur Pekari!« Der Rezeptionist kam zwar seinem Akzent nach aus einem englischsprachigen Land, betonte Lennys Nachnamen aber wie die Franzosen nicht auf dem »a«, sondern auf dem »i«. Er winkte, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen, dabei hatte er ihn erst gestern Morgen nach dem Weg zum Hafen gefragt.

»Regardez, monsieur!« Er hielt einen kleinen Gegenstand wie eine Trophäe in die Höhe, und der Stolz in seiner Stimme war unüberhörbar. »C’est votre bague, non?«

»Mein was?« Lenny änderte nur widerwillig seine Route. Der Rezeptionist überreichte ihm den Ring mit der ernsten Miene eines Standesbeamten. Soweit Lenny verstand, hatte ihn ein Badegast im Ablauf des Pools gefunden. Beim Anblick des kleinen Schmuckstücks bildete sich in seiner Kehle ein kugelförmiger Kloß mit einem Radius von drei Zentimetern, der sich auch im dritten Anlauf nicht schlucken ließ. »Merci beaucoup«, quetschte er heraus. Der Mitarbeiter lächelte, schien gerührt von der emotionalen Reaktion. Lenny nahm den Ring an sich und änderte seine Marschroute. Natürlich konnte er das Geschenk einfach in den Müll werfen – aber das wäre zu einfach. Er wollte ein Zeichen setzen. Also zurück zum Aufzug, dritter Stock, Zimmer 308.

Zoe hatte ihren Dutt schon wieder aufgelöst und trug einen Pferdeschwanz. So schnell konnte es gehen. Der Schnippler stand an der Brüstung des Balkons und blickte in die Ferne. Die Rückenpartie seines Hemdes leuchtete in dunklem Schweißblau. Auf dem Bett: Lennys Reisetasche. Vollgepackt bis obenhin. Immerhin war Zoe so rücksichtsvoll gewesen, seine Sachen nicht hineinzustopfen, sondern sorgfältig zu stapeln. Und erst jetzt schlängelte sich eine Frage in sein Bewusstsein, die Lenny bis zu diesem Zeitpunkt völlig verdrängt hatte: Wo sollte er hin?

»Ich hab schon mal gepackt«, sagte Zoe leise.

»Sehr aufmerksam.« Es gelang ihm kaum, seine Finger am Zittern zu hindern. »Hier. Für dich.« Er drückte ihr den Ring in die Hand, packte seine Tasche und verließ das Zimmer.

»Nein, behalt ihn. Du hast ihn gekauft!«, rief sie ihm hinterher.

Lenny drehte sich nicht um. »Er gehört dir«, sagte er bloß – und mit diesen Worten stolperte er in den Aufzug.

 

Am Strand herrschte Hochbetrieb, doch Lenny nahm die brutzelnden, plaudernden oder schwimmenden Menschen wie durch einen Schleier wahr. Er hockte auf einer Mauer am Rand der Uferpromenade, starrte in die Kräuselwellen des Mittelmeers und versuchte seine Gedanken zu sortieren.

Zwei Jahre Beziehung. Nein, nicht ganz zwei Jahre. Ein Jahr und zehn Monate. 661 Tage, um genau zu sein. Oder sollte er die letzten drei Wochen streichen? Egal, Zahlen halfen ihm jetzt auch nicht weiter. Er verstand es einfach nicht. Wie hatte es nur so weit kommen können? Sie hatten doch tausend Pläne gehabt! Der Ausflug ins Outlet nach Maastricht, Silvester auf einer Skihütte, selbst das Thema »gemeinsame Wohnung« hatte schon im Raum gestanden! Und jetzt war sie weg. Mit einem Schnippler, der wie selbstverständlich seine Betthälfte, seinen Schrank und seine Zoe in Beschlag nahm. Die Frau, die Eine, die es war, die es hätte sein können. Mit der er beim Frühstück noch über den Namen ihrer zukünftigen Zweitkatze (Bo oder Fitti) gesprochen hatte. Die ihm zum Examen einen eigenen Rebstock auf dem Weingut ihrer Eltern schenken wollte!

Mit den letzten Resten seiner Willenskraft riss Lenny sich zusammen. Mathematiker weinten nicht. Und wenn, dann berechneten sie währenddessen das Volumen der geflossenen Tränen. Zitternd öffnete er seine Reisetasche. Er musste die Ordnung wiederherstellen, die äußere Ordnung zumindest.

Lenny besaß ein ganzes Arsenal an Kämmen. Die feingezahnten Werkzeuge verschafften ihm das gute Gefühl, seinen Kopf unter Kontrolle zu haben. Natürlich hatte er nur eine kleine Auswahl mit in den Urlaub genommen: einen aus Holz, einen aus Kunststoff und das Exemplar aus Horn – ein Geschenk von Zoe –, mit dem er nun seine dunkelblonden, vom Wind schon viel zu verstrubbelten Haare glättete, als hinge sein Leben davon ab. Nein, beschloss Lenny, während er seine Frisur richtete, er würde keine Sekunde länger hierbleiben, er musste nach Hause. In seine Wohnung mit den weißen Schränken, dem schwarzen Sofa und dem schwarz-weißen Teppich. Er wollte sich in seinem Bett vergraben und nichts mehr hören, nichts mehr sehen, einfach nur noch schlafen. Bis sein Kopf aufhörte zu hämmern. Bis sich seine Beine nicht mehr anfühlten wie zwei nasse Schwämme und sich kein glühendes Schwert mehr durch seine Organe wühlte. Also los, auf zur nächsten Bushaltestelle.

»Today: no busses.« Der Postbote wedelte mit einem Stapel Briefe, als hätte er einen Fächer in der Hand.

»No busses?« Erst jetzt fiel Lenny auf, dass er schon über eine halbe Stunde auf den Bus wartete, der ihn nach Montpellier bringen sollte. Und das, nachdem er ewig eine Haltestelle gesucht hatte!

»Strike.«

Ein Streik? Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Seufzend sah er sich nach einem Taxi um, das aber natürlich nicht gerade zufällig des Weges kam, dann schulterte er seine Reisetasche und schlappte los.

Lenny war noch nie getrampt. Er hatte keine Ahnung, wo man sich am besten hinstellte, also einfach Daumen raus und los.

Sechs Minuten später hielt auch schon ein klappriger Peugeot am Straßenrand. »Venez, monsieur!«, rief ihm die Fahrerin zu. Lenny wuchtete seine Tasche auf die Rückbank und stieg ein. Im Wagen roch es nach Myrte und Gallseife. Die Fahrerin trug ein weißes Spitzenkleid, war aber bestimmt schon Mitte sechzig und ihrer Gemütsruhe nach zu urteilen wohl kaum auf dem Weg zu ihrer eigenen Hochzeit.

»Montpellier?«, fragte Lenny beklommen.

»Oui, c’est ça.«

»Super.« Lenny drückte seine Freude über das gemeinsame Ziel möglichst Französisch aus, also mit einem »ü« und einem »är«, wurde aber sofort entlarvt.

»Vous êtes Allemand?«, fragte die Dame. Lenny, der in der Schule sieben Jahre Französisch gelernt hatte, konnte die Frage nach seiner Nationalität zwar bejahen, hatte aber keine Lust auf ein Gespräch und beschränkte sich auf ein hilfloses Schulterzucken. Das hinderte die Fahrerin jedoch nicht daran, in einen Redeschwall zu verfallen, in dem – so glaubte er zumindest – die Worte Oma, Ball und Feuer eine tragende Rolle spielten. Reizwortgeschichten waren schon in der Schule nicht sein Ding gewesen, und Lenny versuchte gar nicht erst, die Begriffe in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Zum Glück war das auch gar nicht nötig, da das Handy der Frau klingelte und seine Rolle als passiver Zuhörer übernahm.

Er lehnte seine Stirn gegen die Fensterscheibe und ließ die schilfige Teichlandschaft zu seiner Rechten an sich vorbeiziehen – und zwar genau so lange, bis die Fahrerin einen wüsten Fluch ausstieß, der von den Worten »putain« und »merde« dominiert wurde. Wie verrückt schüttelte sie ihr Handy. Das Display war schwarz.

Lenny zögerte. Ob er der Dame sein eigenes Gerät leihen sollte? Einerseits dümpelte sein Akku bei 12 Prozent herum, andererseits hatte er einen super Auslandstarif und die Frau mit dem Spitzenkleid chauffierte ihn immerhin gerade umsonst zu seinem Ziel. Da war es nur fair, sich erkenntlich zu zeigen. Er hielt sein Handy in die Höhe. »Vous voulez …?«

»Oh, oui, monsieur, c’est gentil!« Sie griff zu. »Juste pour une seconde.«

Die angekündigte Sekunde endete, als der Peugeot das Zentrum von Montpellier erreichte und das rechte Ohr der Dame hellrot leuchtete. Lenny ließ sich noch den Fußweg zum Bahnhof erklären, dann nahm er seine Tasche und murmelte ein Dankeschön. Der Ladestatus seines Handys war auf 8 Prozent gesunken.

Auf dem Platz vor dem Bahnhof war die Hölle los. Logisch, in der Hochsaison wurde viel gereist. Überall – selbst auf den Gleisen der Straßenbahn – wimmelte es von Menschen mit Koffern, Taschen … und Plakaten? Lenny versuchte die Aufschriften zu entschlüsseln, scheiterte aber an dem allgegenwärtigen »grève«. Er sah sich überall um, entdeckte noch mehr Urlauber, noch mehr Plakate, Warnwestenträger, sogar Fernsehreporter – und er begriff: Nicht nur die Busfahrer, auch die Bahnmitarbeiter streikten!

»Bitte nicht«, murmelte er, während er sich ganz rechts an der äußersten der acht Säulen vorbei zum Eingang des Bahnhofs drückte. Vielleicht hatte er Glück und sein Zug war nicht betroffen, sondern startete ganz nach Plan um 16:44 Uhr Richtung Paris …

Die Halle im Erdgeschoss platzte aus allen Nähten. An den Gleisen standen Hunderte von Menschen, ein Zug war nicht in Sicht. Lenny drückte sich durch die Menge der Wartenden nach rechts zur Rolltreppe. Der erste Stock des Bahnhofsgebäudes war lichtdurchflutet und erinnerte mit seinem nach oben hin spitz zulaufenden Dach an ein überdimensionales Himmelbett. Lenny kämpfte sich zu einem Info-Bildschirm durch. Die Ernüchterung kam schnell: »Annulé« stand hinter sämtlichen dort aufgelisteten Zugverbindungen. Auch hinter seiner. Und jetzt? Keine Busse, keine Züge, und Fliegen kam für Lenny per se nicht infrage. Er litt unter Flugangst – noch so eine Eigenschaft, die ihn von einem waschechten Mathematiker unterschied, denn er kannte natürlich die Statistiken und hatte spaßeshalber schon mal bis zur dritten Nachkommastelle genau ausgerechnet, wie gering die Wahrscheinlichkeit eines Absturzes bei den verschiedenen Fluggesellschaften war.

Lenny seufzte. So wie die Sache aussah, musste er wohl vorerst in Montpellier bleiben. Dreizehn Kilometer von Zoe entfernt. 998 Kilometer wären besser, aber eine Nacht würde er schon überstehen. Er stellte seine Reisetasche neben einem Fahrkartenautomaten ab, nahm seinen Hornkamm zur Hand und brachte seine Frisur in Ordnung. Jetzt fehlte nur noch eine Unterkunft. Als er auf dem Handy gerade eine Hotelsuchseite aufgerufen hatte, brachte ihn ein heftiger Stoß aus dem Gleichgewicht. »Ey!« Lenny drohte dem Drängler mit seinem Handy, doch dann spürte er plötzlich die Hand an seiner Hosentasche. Er wirbelte herum, sah den Schmächtling mit dem flachen Hinterkopf noch gerade so in der Menge verschwinden. Mit seinem Portemonnaie!

Lenny zögerte keine Sekunde, sondern stürmte hinterher, wie ein Rennpferd, das nach Minuten der Anspannung aus der Startbox galoppiert. »Stopp!«, brüllte er, während er sich an den Wartenden vorbeidrängelte, die ihm mit teils gleichgültigen, teils genervten Blicken auswichen. »Mein Geld! Er hat mein Geld!«

Niemand reagierte, niemand half, und dann der Schock: Der Schmächtling war weg! Hektisch wandte Lenny seinen Kopf nach allen Seiten, durchkämmte zum zweiten Mal die Wartenden, scannte den kompletten Vorplatz – doch zu spät. Während aus dem Befeuchtungssystem des Himmelbetts ein sanfter Sprühnebel herabschwebte, wischte Lenny sich den Schweiß von der Stirn. Ruhe bewahren, logisch denken. Als Erstes musste er seine Karten sperren lassen, dann die Polizei informieren. Die Nummer vom Sperrnotruf hatte er gespeichert, seine EC-Kartennummer kannte er auswendig, und keine Minute später waren die schlimmsten Katastrophen abgewendet. Die Adresse der nächstgelegenen Polizeistation würde er googeln, sobald er sein Handy aufgeladen hatte. Vielleicht gab es in einem Café eine freie Steckdose. Lenny ging zum Fahrkartenautomaten zurück, neben dem er sein Gepäck abgestellt hatte – doch da war keine Reisetasche.

»Nein«, flüsterte er, »bitte nicht.« Er umrundete den Automaten, drängte sich durch den ersten Stock, von rechts nach links, von hinten nach vorne, durchsuchte zur Sicherheit auch noch das Erdgeschoss, doch schließlich musste er es einsehen: Seine Reisetasche war weg. Er hatte an diesem Tag fast alles verloren.

 

Der Polizeibeamte folgte Lennys Ausführungen, als handle es sich um die zwanzigste Wiederholung einer romantischen Komödie, die ihn schon beim ersten Ansehen furchtbar gelangweilt hatte. Mit vollendeter Monotonie erfragte er seine Personalien und setzte eine Anzeige gegen Unbekannt auf, die allerdings – das ließ er gleich durchblicken – mit Sicherheit im Sande verlaufen würde. Lenny unterschrieb den Wisch mit dem Titel »Plainte contre X«, nahm eine Kopie an sich und verließ die kleine Polizeistation in der Allée Jules Milhau.

Da stand er nun. Mit nichts außer seinem Kamm und dem Handy, dessen Akkustand auf 6 Prozent gesunken war. Immerhin erreichte er nun endlich einen Studienkollegen, der allerdings keine Ahnung davon hatte, wie man zügig Geld vom In- ins Ausland transferierte. Ansonsten ging niemand ans Telefon. Weder seine Eltern noch sein bester Freund Philipp, der gerade zwei Freunde in Valencia besuchte. Ob er Zoe um Hilfe bitten sollte? Allein schon bei dem Gedanken begann das glühende Schwert wieder in seinen Eingeweiden zu rotieren. Nein. Der Schnippler schuldete ihm zwar streng genommen eine ganze Stange Geld für das Zimmer – aber so viel Stolz war ihm geblieben.

Das Kommissariat mit der Milchglasfassade grenzte zu seiner Linken an die Touristeninfo von Montpellier, und Lenny beschloss, dort sein Glück zu versuchen. Dieses Vorhaben war jedoch leichter geplant als umgesetzt. Er quetschte sich an einer Traube von Japanern vorbei, die mit ernsten Mienen die thematisch sortierten Prospekte studierten, und begab sich zu der geschwungenen Empfangstheke. Die einzige Mitarbeiterin wurde gerade von einer höchstens zwanzigjährigen Touristin in Beschlag genommen, die en détail über das komplette Freizeitangebot der Stadt informiert werden wollte. Während der menschgewordene Energieriegel jeden Vorschlag enthusiastisch aufnahm und kommentierte, begutachtete Lenny die braun-roten Kachelquadrate am Boden. Erst nachdem die rüstige Mitarbeiterin einen Berg von Infozetteln auf der Theke ausgebreitet hatte, kam er an die Reihe.

»Bonjour, monsieur.« Die Mittfünfzigerin zeigte viel Verständnis für Lennys Situation. »Im Moment es wird wirklich viel gestohlen«, seufzte sie mit bebenden Mundwinkeln und erläuterte ihm in beinahe akzentfreiem Deutsch, wie er mithilfe einer Blitzüberweisung auch ohne Konto schnell an Geld kommen könnte. Na, wenn das mal keine guten Neuigkeiten waren! »Was Sie allerdings brauchen, ist Ihr Personalausweis«, sagte die Mitarbeiterin, und der Hoffnungsschimmer schwand so schnell, wie er gekommen war.

»Der wurde mir auch geklaut«, stöhnte Lenny.

»Dann müssen Sie einen Ersatzpass bei der Deutschen Botschaft beantragen.« Die Mitarbeiterin sah auf die Uhr. »Allerdings ist die erst wieder am Montag geöffnet.«

»Aber es ist Freitag!«, rief Lenny. »Ich kann doch nicht zwei Nächte lang auf einer Parkbank schlafen!«

Die Mitarbeiterin bewegte ihre Mundwinkel einmal nach rechts und einmal nach links, wusste nun wohl selbst nicht weiter.

»Das ist ja echt Scheiße«, tönte es hinter ihm. Lenny drehte sich um und entdeckte den menschgewordenen Energieriegel, der gerade den Zettelberg in einer olivgrünen Umhängetasche verstaute.

»Ja, ist es«, brummte er.

»Kennst du keine Leute hier?«

»Nee.«

»Blöd.«

»Stimmt.« Nach diesem äußerst hilfreichen Dialog wandte sich Lenny schnell wieder der Mitarbeiterin zu, die jedoch von einem klingelnden Telefon abgelenkt wurde.

»Mach doch Couchsurfing«, schlug der Energieriegel vor. »Da kannst du umsonst bei Leuten wohnen.«

»Wie? Einfach so?«

»Du musst dich auf der Internetseite anmelden.«

»Und dann?«

»Dann guckst du, wer wo was frei hat.«

»Bei irgendwelchen Fremden?«

»Ist doch besser als auf ’ner Parkbank.«

Das Argument überzeugte. Lenny setzte sich in den winzigen Vorraum der Touristeninfo, nahm sein Handy zur Hand und googelte die gesuchte Internetadresse. Direkt auf der Startseite von www.couchsurfing.com war ein Anmeldeformular zu finden. Sein Account war in Sekunden erstellt, und schon ging es daran, die Profilseite zu füllen.

»Das Profil ist wichtig.« Der Energieriegel setzte sich ungefragt neben ihn. »Hast du ein gutes Foto?«

»Muss ich schauen.« Lenny klickte auf die Bildergalerie seines Handys. Kurz vor dem Urlaub hatte er die meisten Fotos auf sein Laptop gezogen, um mehr Speicherplatz zu haben. Was war noch im Angebot? Zoe auf dem Balkon, Zoe am Strand, Zoe beim Frühstück, Zoe mit einer leeren Austernschale in der Hand. Damit konnte er nicht viel anfangen, also: markieren, löschen. Und zwar schnell, damit das glühende Schwert bloß nichts davon mitbekam. Nur das allerletzte Foto behielt Lenny, das von Zoe mit der Austernschale. Warum, wusste er selbst nicht ganz genau.

»Nee, kein gutes Foto dabei«, sagte er.

»Dann mach ich eins. Komm!« Der Energieriegel verließ die Touristeninfo, die sich am Nordrand des Place de la Comédie befand. Sie peilte einen Springbrunnen an, der im Schatten einer Platane lautstark vor sich hin sprudelte.

»Bitte lächeln!«, rief sie, und Lenny nötigte seine Mundwinkel zu einer Aufwärtsbewegung, die seine Fotografin jedoch erst im fünften Anlauf überzeugte. Er fügte das Bild auf seiner Seite ein, bestätigte seine E-Mail-Adresse und machte sich an die Profildetails.

»Das geht so nicht.« Der Energieriegel schüttelte den Kopf. Lenny ließ sein Handy sinken.

»Was denn?«, fragte er.

»Interessen: Homologische Algebra?!«

»Ich studiere Mathe. Achtes Semester.«

»Kein Mensch will einen Nerd auf seiner Couch haben. Du musst irgendwas Normales schreiben. Und zwar auf Englisch, by the way.«

»Vielen Dank auch.« Lenny lag ein brummiger Kommentar auf den Lippen, doch er riss sich zusammen, denn immerhin hing seine Nachtruhe von dem Profil ab.

»Was ist denn normal, deiner Meinung nach?«

»Na, Musik hören, Zocken, irgendein Sport oder so …« Der Energieriegel klang wie eine besorgte Mutter. »Was machst du denn so den ganzen Tag?«

»Bis vor Kurzem hatte ich eine Freundin, da blieb nicht viel Zeit für Hobbys.« Er überlegte. »Früher hab ich gerne am Computer rumgefrickelt oder war halt mit Freunden was trinken. Oder im Kino.« Lenny fragte sich auf einmal selbst, was aus seiner Freizeit geworden war. In den letzten 661 Tagen hatte er vieles schleifen lassen – aber so war das eben, wenn man sich verliebte.

»Na, bitte: computer, friends, cinema. Das ist doch schon mal was.« Der Energieriegel nickte die Angaben ab und beaufsichtigte dann auch noch mit ernster Miene, wie er seine Sprachkenntnisse (fluent in German, learning English and French) eintrug. Als das Profil fertig angelegt war, bekam er noch eine Packung Butterkekse und einen guten Tipp mit auf den Weg: »Wenn du nichts findest, penn halt am Strand.« Ein Vorschlag, den Lenny ganz sicher nicht beherzigen würde, da er in einer solchen Schlafumgebung kein Auge zutun würde. »Danke für den Tipp«, sagte er trotzdem. Der Energieriegel klopfte ihm – wie bezeichnend – auf die Schultern und überließ ihn seinem Schicksal.

Sagenhafte 12976 Couch-Anbieter waren in der Nähe von Montpellier gelistet. Alle sollte er besser nicht anschreiben, einer war definitiv zu wenig. Lennys Akku drängte ihn zu einer Entscheidung, und so schickte er kurzerhand den ersten zehn Listenbewohnern eine Nachricht, in der er seine Not schilderte. Als er fertig war, dümpelte sein Akku bei gerade mal 3 Prozent vor sich hin. Angespannt riss er die Kekspackung auf und krümelte vier Gebäckscheiben mit einem geschätzten Volumen von jeweils drei Kubikzentimetern in sich hinein. Jetzt hieß es Abwarten.

 

Manon Blanchard schrieb als Erste. Laut Profil war sie 49 Jahre alt, arbeitete als Verkäuferin, liebte gutes Essen, sprach Deutsch und glänzte mit 34 positiven Bewertungen. Lenny fackelte nicht lange und schickte ihr seine Telefonnummer. Keine Minute später klingelte es auch schon. Volltreffer.

»Das ist schlimm, was Ihnen zugestoßen ist.« Madame Blanchard klang betroffen. »Mein Mann und ich, wir würden uns sehr freuen, Sie zu empfangen. Wir helfen gerne in die Not.«

»Super.« Lennys Akku piepste, woraufhin ihm zum zehnten Mal für heute der Schweiß ausbrach. »Wann können wir uns treffen?«

»Wenn Sie wollen, Sie können sofort kommen. Mein Mann und ich, wir sind zu Hause.«

»Und das ist wo?«

»Nummer eins, Rue du Clos René. Im Zentrum.«

»Alles klar. Bis gleich.« Lenny legte auf und eilte zum Stadtplan vor der Touristeninfo.

Die Rue du Clos René war eine kleine Straße unweit des Bahnhofs, in der zwei Friseure, ein Kosmetiksalon und ein Schmuckgeschäft angesiedelt waren. Bei der Suche nach der richtigen Hausnummer drosselte Lenny seine Schrittgeschwindigkeit erheblich. Seine Füße schmerzten, sein Magen knurrte, und er fühlte sich inzwischen, als hätte er drei Nächte hintereinander nicht geschlafen. Dass er sieben Stunden zuvor in einem kuschelweichen Doppelbett aufgewacht war und Zoe mit einem »Morgen, Schatz« begrüßt hatte, kam ihm unwirklich, fast schon grotesk vor. Müde drückte er die mittlere Klingel von Haus Nummer eins, öffnete die dunkelbraune schwere Eingangstür und schlurfte in den zweiten Stock hinauf.

Die Blanchards erwarteten ihn auf der Schwelle ihrer Wohnung. Die beiden Endfünfziger hatten wohl ein Faible für Oberteile mit hellblauen Streifen, denn sie trugen Partnerlook – mit dem Unterschied, dass sie Längs- und er Querstreifen gewählt hatte.

»Bienvenue!« Den Willkommensgruß flöteten sie zweistimmig und in einem merkwürdigen Singsang, als würden sie vor einem Kinderbett stehen und einem Dreijährigen Gute Nacht wünschen.