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Fritz H. Lotterfuchs

Philosophie des Aphorismus

Kurzer Rede langer Widersinn


für Elke


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

E i n l e i t u n g

 

Diese theoretische Arbeit geht aus von der These, dass Philosophie noch lange nicht ausgeschöpft hat, was sie von europäischer Moralistik profitieren könnte. S. Maimon sah als erster, daß Dialektik aus den Selbstwidersprüchen nicht der Vernunft, sondern der Einbildungskraft stammt, die die romantische Synthese von Kunst und Philosophie in ironische, von Hegel nicht mehr reintegrierbare Fragmente zerlegte. Hegel hatte die aphoristische Mehrdeutigkeit in der Vorrede zur „Phänomenologie“ als eitel subjektive „Konversation“ abgetan, weil er durch dialektische Systematisierung die frühromantischen Ideenfragmente von Fr. Schlegel und Novalis entschärfen und dann noch überbieten wollte, was der Neophänomenologe Hermann Schmitz in „Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel“ (Bonn 1992) als eines der wahren Hauptmotive von Hegels ganzem „objektiven Idealismus“ interpretierte.

 

Manfred Frank sah in den frühromantischen Aphoristikern „Auswege aus dem deutschen Idealismus“ (Frankfurt/M. 2007) und dessen subjektivistischen Bezugssystemen. Adornos „Negative Dialektik“ wollte Aphorismen gegen die Wissenssysteme so immunisieren wie alles Individuelle gegen die (potentiell totalitären) Allgemeinheiten. Die Philosophie habe nach und gegen Nietzsche durch „Verwandlung in Methode“ ihre moralistischen Traditionen „der intellektuellen Nichtachtung, der sentenziösen Willkür und am Ende der Vergessenheit“ überantwortet: „Verschwindet heute das Subjekt, so nehmen die Aphorismen es schwer, dass „das Verschwindende selbst als wesentlich zu betrachten“ sei.“ (Theodor Adorno : „Minima moralia“, Frankfurt/M. 1962, S. 9)

 

„Eindeutig praktischen Sinn haben die Maximen insbesondere in der Moralistik.“ (Rüdiger Bubner: „Handlung, Sprache und Vernunft“, Frankfurt/M. 1976, S. 197) „In den Maximen äußert sich die einfache praktische Vernunft.“ (S. 210) Für Bubner „muß alles Handeln, das Ziele verfolgt, maximenfähig sein.“ „Der Bereich möglicher Maximen und der Bereich dessen, was Handlung heißt, ist deckungsgleich.“ (a.a.O., S. 195) „Der kategorische Imperativ lässt sich nämlich nur aussprechen, wenn Maximen schon vorliegen“ (a.a.O., S. 188), die bei Kant dann nur noch auf reine, gesetzförmige Moralität geprüft werden.

 

Der Moralist „Gracian hat die Figur des descifrador, des Entzifferers, geschaffen, der die gesellschaftlichen Masken durchschaut, divinatorisch die eigentlichen Beweggründe des sozialen Lebens erkennt und sie in knappen Formeln benennt.“ (Heinz Schlaffer: „Aphorismus und Konversation“. In: „Merkur“, München 1998)

 

"Heraklit wird nie veralten."

 

Wilhelm Capelle nennt die "von unerhörtem Selbstbewußtsein getragene, in schneidenden Aphorismen gegossene Sprache" Heraklits. ("Die Vorsokratiker", Stuttgart 1968, S. 126). Harald Fricke bestreitet, daß die Vorsokratiker Aphoristiker gewesen seien : "Heraklit und mit ihm die anderen ... sogenannten Vorsokratiker... haben so wenig 'Fragmente' geschrieben, wie antike Bildhauer ihre Statuen ohne Kopf geformt haben : sie sind uns nur fragmentarisch überliefert." (Harald Fricke : "Der Aphorismus", Stuttgart 1984, S. 41) Dagegen aber spricht Platons Bericht über die Herakliteer : "Wenn du einen etwas fragst, so ziehen sie aus einem Köcher rätselhafte kleine Sprüche hervor und schießen diese ab; und willst du eine Erklärung, wie es gemeint gewesen, so wirst du von einem ähnlichen getroffen..." ("Theaitetos", 180 a). 

 

Heraklit von Ephesos hat die ersten Aphorismen geschrieben, aber "Aphorismoi" nannte zum erstenmal der Arzt Hippokrates seine "Gnome" (Erkenntnisvermögen). Die europäische Aphoristik mit ihren Heilregeln entstammt der griechischen Aufklärung und demokratischen Sophistik, die die Bürger verdarb, indem sie ihnen "Diskussionskompetenz" beibrachte. In den Meinungen dieser nomadischen Wanderlehrer steckten wirkliche Gedanken, welche umgekehrt die bloßen 'Doxai' in Platos Ideen aufdeckten. Daraufhin glaubte Aristokrat Plato, der keine Honorare nötig hatte, sie in den Dialogen "Gorgias" oder "Sophistes" allein dadurch widerlegt, daß er ihnen vorwarf, für ihre Weisheiten Geld zu nehmen. Er hielt sie für zweifelhafte Subjekte, weil sie subjektivistisch dachten und das menschliche Subjekt ernst nahmen, während er als Antidemokrat, der laut Russell eine totalitäre Republik entwarf, die objektive Wahrheit gepachtet zu haben meinte. Diese skeptischen Individualisten und Ur-Pädagogen lebten davon, zu skeptischen Individualisten auszubilden, d. h. zu mündigen Staatsbürgern, in Grammatik, Rhetorik und Dialektik, in Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Diese Relativisten machten nicht den Menschen zu Gott, sondern stellten seine Interessen erstmals in den Mittelpunkt des Interesses. Individuelle Interessen sahen sie durch die Idee „objektiver Wahrheit“ der Oberschicht gefährdet. Sitten und Gesetze seien nur willkürliche Satzungen und keine Naturgesetze. Einige dieser Sozialrevolutionäre waren sogar Frühsozialisten, Feministen und Theoretiker der Sklavenbefreiung. Ihre Domäne war wie bei den späteren französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts die "kritische Betrachtung aller menschlichen Einrichtungen in Staat und Gesellschaft, Religion und Moral, Recht und Sitte.” (W. Capelle, a.a.O., S. 320)

 

An seinem Vorgänger Xenophanes faszinierte Heraklit die anti-anthropomorphe Vorstellung eines absoluten Gottes, an seinem Vorgänger Anaximandros von Milet beeindruckte ihn das Weltgesetz einer ewigen Bewegung durch Gegensatzpaare hindurch und das unbegrenzte Apeiron, das er dann aphoristisch abgrenzte. Simplicius schrieb: "Anaximandros nimmt die Entstehung nicht infolge einer qualitativen Veränderung des Urelements an, sondern infolge einer Ausscheidung der Gegensätze auf Grund ewiger Bewegung." (Fr. 29) "Von den Philosophen, die eine unendliche Zahl von Welten angenommen haben, hat Anaximandros behauptet, daß sie gleich weit voneinander entfernt seien." (Fr. 35)

 

Gegen Mathematiker Pythagoras, "Anführer der Schwindler" und "Vieleslerner", sagte Heraklit: "Was man sehen, hören, erfahren kann, das ziehe ich vor." Sein entmythologisierter "Logos", der Homers Götter entthronte, war Einheit von Wort und Sinn, von Rätselsprüchen und Weltvernunft. Dieser erste Aphoristiker war nicht zufällig der erste Europäer, der den Menschen ausdrücklich zum Forschungsgegenstand machte und ihn anthropologisch im Horizont eines nicht-anthropomorphen Absoluten entdeckte. Als erster Abendländer verstand er den Menschen organisch von kosmischen Prinzipien her, den Logos nicht als Logistik und die Mantik nicht als mathematische Mystik. Logisch nannte Herakleitos, "der Dunkle" (Skoteinos), nur seine unlogischen Sprüche, und vernünftige Rede fand er nur in unverständlicher Gnomik. Heraklits Aphorismen sind fulminante Geistesblitze:

"Alle Dinge steuert der Blitz."

 

Empedokles, Plato und Demokritos gelten als die Denker, welche den Statiker Parmenides und den Dynamiker Heraklit versöhnen wollten. Empedokles von Agrigent sah das Entstehen und Vergehen der Dinge als liebende Vereinigung und hassende Trennung zwischen den Ur-Teilen Erde, Wasser, Luft und jenem Feuer, an dem Heraklit seine Aphorismen zünden ließ. Sein Spiel von gespanntem „Sphairos“ und entspannter „Akosmia“ war ein Ant- agonismus von polemischer Eris und platonischem Eros.

 

Vielleicht gab es keine Geburt der idealistischen Dialektik aus dem aphoristischen Geist Heraklits, aber Hegel sagte, daß es keinen Spruch des Heraklit gebe, den er nicht in seinem eigenen System gut 'aufgehoben' habe. "Wir steigen in denselben Fluß und doch nicht in denselben; wir sind es, und wir sind es nicht." (Fr. 49 a). Bei Hegel liest sich das 2400 Jahre später so : "Es bewegt sich etwas nur, nicht indem es in diesem Jetzt hier ist und in einem anderen Jetzt dort, sondern indem es in einem und demselben Jetzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und nicht ist." ("Wissenschaft der Logik, Band II", Frankfurt am Main 1981, S. 76) Erst die von ihm bekämpften Romantiker haben diese Fragmente Heraklits dann wieder aus Hegels System so befreit wie Platons Dialoge aus Hegels Dialektik. Guilia Cantarutti erklärt sich die Vorbehalte der deutschen Forschung gegen die Aphoristik daraus, daß diese Forschung noch im Bann der Ästhetik Hegels stehe, der den Aphorismus in der Vorrede zur "Phänomenologie" als bloße Konversation abgetan hatte. (siehe Guilia Cantarutti: "Neuere Studien zur Aphoristik und Esayistik", Frankfurt 1986)

 

Hegel hat Schlegel besiegt – bis heute.

Erst der genuine Aphoristiker Nietzsche hat Heraklit dann frühromantisch gerettet:

„Heraklit wird nie veralten.“