Wendt, Gunna Clara und Paula

PIPER

 

In memoriam Kilian Schirmer und Liesel Rausch

 

Wir danken dem Ehepaar Sieber-Rilke für die freundliche Unterstützung und die Erlaubnis, Privatfotos von Clara Rilke-Westhoff im Buch veröffentlichen zu dürfen.

 

Wenn man nicht schuld ist am eigenen Leben, dann ist einfach nichts dran, finde ich.

Connie Palmen, Die Freundschaft

But love’s the only engine of survival.

Leonard Cohen, The Future

PROLOG

Champagner in der Luft

Paris, 9 Rue Campagne Première, 8. Februar 1900, morgens um 8 Uhr

Paula liegt im Bett, räkelt sich wohlig in den Kissen und läßt den Blick durchs Zimmer schweifen. Es ist kärglich möbliert. Außer dem Bett, das gleich hinter der Tür versteckt ist, gibt es nur eine Sitzbank, einen Stuhl und einen Tisch. Den Tisch beherrscht eine dickbauchige Vase, die üppig gefüllt ist mit Mimosen und Narzissen. Paulas Augen bleiben an den Blumen hängen.

Ein freundlicher Morgen. Ein freundliches Zimmer. Sie beschließt, noch eine Weile liegen zu bleiben, dreht sich auf die Seite, kuschelt sich in ihre Decke, die Blumenpracht nicht aus den Augen lassend.

Da klopft es kräftig an die Tür, und gleich darauf ertönt von draußen eine fröhliche Melodie, auf der Panflöte gespielt, erst zart moduliert, dann laut und rhythmisch geblasen. Paula lauscht dem Lied und bleibt dabei im Bett liegen. Erst als die letzten Töne verklungen sind, wirft sie sich den Morgenmantel über, öffnet die Wohnungstür einen Spalt und schaut hinaus: »Clara! Das ist ja eine Überraschung. Wie gut Sie spielen können. Das hab ich gar nicht gewußt.« Die Freundin hat ihr Spiel beendet und steht nun in einem leuchtend weißen Kleid vor der Tür, die Arme weit ausgebreitet. In der linken Hand hält sie ein grünes Glas mit einer Hyazinthenzwiebel darin, in der rechten eine riesige Orange und einen Veilchenstrauß. »Kommen Sie herein, Clara, ich freu mich so sehr, daß Sie da sind.« Paula nimmt die Freundin an beiden Handgelenken und zieht sie in ihre Kammer. Mit den Worten »Ich wünsche Ihnen alles Gute zum Geburtstag« übergibt ihr Clara die Geschenke, verschwindet noch einmal aus dem Zimmer und kommt kurze Zeit später zurück mit einer Flasche Champagner, die sie triumphierend in die Höhe hält. Sogleich beginnt sie, den Draht zu entfernen und macht sich am Korken zu schaffen. Paula schaut ihr neugierig zu. Noch ist die Freundin eifrig bei der Sache, gewissenhaft und konzentriert, aber Paula spürt, daß sich allmählich Ungeduld breitmacht. Claras Blick verfinstert sich, ihre Bewegungen werden hektischer. Paula weiß, daß sie jetzt eingreifen muß, um die Flasche und vor allem den köstlichen Inhalt zu retten. Mit den Worten »Lassen Sie mich versuchen, Clara!« versucht sie, ihr die Flasche zu entwenden, aber Clara läßt nicht los. Nun halten beide die Flasche fest und zerren daran unter übermütigem Gelächter. Plötzlich ein höllischer Knall! Der Korken schnellt gegen die Zimmerdekke, der Champagner sprudelt heraus und benetzt die beiden Freundinnen. Paula ist glücklich: »Oh Clara, Sie und ich in Paris. Das ist ein Fest. Da ist Champagner in der Luft!«

Künstlerinnen

Jetzt bin ich ein richtiges Malweib geworden«, schreibt die 17jährige Clara Westhoff 1896 aus München nach Bremen an ihre Eltern. Sie ist ein Jahr zuvor in die weit entfernte Stadt gegangen, um Malerin zu werden. Seither berichtet sie in Briefen nach Hause von ihren Fortschritten, Erlebnissen und Wünschen. Niederlagen und Zweifel werden verschwiegen. Gleich nach ihrer Ankunft in München, im Oktober 1895, hat sie ihrem Vater mitgeteilt, sie benötige dringend ein Fahrrad und die dafür geeignete Kleidung: Pumphosen und eine Kappe. Der Vater erfüllt diesen Wunsch genauso, wie er ihr schon den anderen erfüllt hat: Er gestattete seiner Tochter, in die private Münchner Malschule Fehr/Schmid-Reutte einzutreten.

Friedrich Westhoff ist selbst künstlerisch ambitioniert. In seiner Freizeit malt er Aquarelle. Diese Liebe zur Malerei trägt wahrscheinlich zur Akzeptanz der Zukunftspläne Claras bei. Ansonsten ist es schwer vorstellbar, daß er seine noch nicht volljährige Tochter in eine 800 km weit entfernte Stadt hätte ziehen lassen, allein, ohne Sicherheit und nur mit einem Traum: Sie will Malerin werden. Sie will studieren. Da die staatlichen Kunstakademien bis auf wenige Ausnahmen den Frauen verschlossen sind, kommen nur die privaten in Frage. Die gibt es zwar auch in Claras Heimatstadt Bremen, aber Clara will nach München, weit weg von zu Hause. Es locken die Ferne und die Unabhängigkeit. München bedeutet für sie Süden, Wärme, Lebendigkeit, Genuß, Freiheit. Hier hat sie die Möglichkeit, ihr Talent zu entfalten. Hier wird sie den Tag selbst gestalten, von niemandem abhängig, ganz eigenverantwortlich sein. Ein mutiger Schritt für eine junge Frau im ausgehenden 19. Jahrhundert. Wie ist sie darauf gekommen? Zwar hat ihr der malende Vater wohl eine gewisse Anregung gegeben, aber für ihn ist immer klar gewesen, daß seine künstlerische Tätigkeit nur eine Freizeitbeschäftigung darstellt, keinen Brotberuf. Wer ist diese mutige junge Frau, dieses eigenwillige Mädchen, das sehr früh die eigenen Wünsche formuliert und durchsetzt?

Clara Westhoff wird am 21. November 1878, einem nebligen Herbsttag, in Bremen geboren. Der Vater, Friedrich Westhoff, ist Kaufmann. Claras Mutter Johanna, geb. Hartung, stammt aus dem Vogtland. Clara wächst zusammen mit ihren zwei Brüdern in einem Giebelhaus in der Wachtstraße in der Bremer Altstadt auf. Im Erdgeschoß befindet sich das väterliche Kontor, im Dachgeschoß das Lager für Kaffee, dazwischen die Wohnung der Familie Westhoff. Clara fühlt sich dort eingezwängt, dem Familienleben ausgeliefert. Aber zum Glück gibt es noch das Haus in Oberneuland, das Sommerquartier der Familie. Da ist es nicht so eng wie in Bremen. Schon als Kind kann man dort die eigenen Wege gehen, sich verausgaben im Spiel, im Laufen, und die eigene Kraft, den Körper spüren. Hohe Bäume stehen im Garten. Man kann auf ihre Wipfel klettern, in ihren Kronen Baumhäuser bauen und Geheimverstecke einrichten. Allein sein, wenn man will. In diesem Garten des Landhauses spielt sich der Teil von Claras Leben ab, der sie vielleicht am meisten geprägt hat: die Kindheit und vor allem das, was sie daran geliebt und woran sie sich immer erinnert hat. Die Wintermonate in der Stadt werden für Clara mehr und mehr zur Wartezeit, zur bloßen Überbrückungszeit, die man eben durchstehen muß, weil der Sommer mit dem eigentlichen Leben draußen in Oberneuland wiederkehren wird. Man braucht nur Geduld.

Im Alter von 13 Jahren hat Clara einen großen Wunsch: Sie will ein ganzes Jahr lang allein draußen auf dem Land bleiben. Es wird ihr erlaubt, und Clara fühlt sich erwachsen und privilegiert. Sie ist froh, die Enge der elterlichen Wohnung in Bremen nicht länger ertragen zu müssen, sondern hier draußen frei und unbeaufsichtigt leben zu dürfen. Neugierig beobachtet sie die Veränderungen in der Natur im Wechsel der Jahreszeiten. Das Sprießen, Wachsen, Gedeihen, ja, das Leben selbst stellt sich ihr als ein Wunder voller Energie dar, das sie mitreißt und ihr Herz schneller schlagen läßt.

Es ist ihr, als sei sie in diesem Sommer in Oberneuland in das Geheimnis des Lebens überhaupt eingeweiht worden. Schon damals hat sich in ihr eine Haltung herausgebildet, die man als aktives Beobachten bezeichnen kann, ein Beobachten, durch das man erkennt, ohne einer Sache ihr Geheimnis zu entreißen. Vielleicht ist dieser Blick, diese Wahrnehmung eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine Künstlerin. Ihre Neugier steigert sich zur Ungeduld, zur ungeduldigen Erwartung eines jeden Tages. Was würde er bringen? Attribute wie schön oder häßlich taugen nicht, um den Tag zu beschreiben. In den Augen einer Betrachterin wie Clara wird alles schön – die Nebeltage des Herbstes, die das Gold der Blätter nur verdecken, genauso wie die dunklen Wintertage, die durch Eis und Schnee beleuchtet werden. Es gibt nicht nur die Sonne und das Leben, sondern auch die Dunkelheit und das Vergehen. Es gibt den Schrecken und die Zerstörung, die man Kindern gern vorenthält. Clara fühlt sich nicht mehr als Kind.

Viele Jahre später wird sie in ungezählten Morgenstunden den anbrechenden Tag mit einem Bild begrüßen: Sie malt kleinformatige Tempera- und Aquarellbilder, die den Blick aus dem Fenster ihres Fischerhuder Ateliers zu den unterschiedlichsten Jahreszeiten wiedergeben. Man fühlt sich erinnert an Hokusais Ansichten des Fujiyama oder auch an Cézannes Studien des Montagne Sainte Victoire. Die spätere Porträtbildhauerin Clara Rilke-Westhoff hat die Liebe zur Natur nie wieder verloren. In ihrer Kindheit und Jugend ist ihr die Natur direkte Zufluchtsstätte gewesen. Das Familienleben zu Hause in Bremen ist nämlich alles andere als harmonisch. Alle haben unter den Wutausbrüchen und der Unbeherrschtheit des Vaters zu leiden. Die Mutter zieht sich zurück, versucht, Streitigkeiten zu vermeiden, den Vater zufriedenzustellen und erreicht mit ihrer unentschiedenen Haltung oft das Gegenteil. Clara ist nie unentschieden. Sie weiß, was sie will, und strahlt das auch aus. Sonst hätte der Vater ihr auch nicht erlaubt, allein in eine fremde Stadt zu gehen, um sich zur Malerin ausbilden zu lassen.

Im Herbst 1895, zu dem Zeitpunkt also, als Clara Westhoff in München eintrifft, legt Paula Becker gerade in Bremen ihr Lehrerinnenexamen ab. 1893 hatte sie mit der Ausbildung begonnen und ihrer Schwester Milly gestanden, daß sie sich dabei innerlich ausgetrocknet fühle. Nun ist sie erleichtert, daß ihr Kopf all das, was ihn nicht interessiert, vergessen und sich endlich den wichtigen Sachen zuwenden kann. Erwartet wird von ihr, daß sie sich eine Gouvernantenstelle sucht, eigenes Geld verdient, den Vater entlastet. Sie aber will malen und zeichnen. Ein kaum lösbarer Konflikt, der ihre Kompromißbereitschaft schon früh auf eine harte Probe stellt. Der Vater, Carl Woldemar Becker, Bau- und Betriebsinspektor der Berlin-Dresdener Eisenbahngesellschaft, steht kurz vor der Pensionierung und sorgt sich um die finanzielle Zukunft seiner Familie. Die Mutter Mathilde, geb. von Bültzingslöwen, unterstützt zeitlebens die künstlerischen Ambitionen ihrer Tochter. Sie liebt es, mit der phantasievollen Paula Pläne zu schmieden, und fühlt sich in künstlerischer Atmosphäre wohl. Im Unterschied zu Clara, die sich in ihrer Familie sehr allein fühlt und erst später eine engere Beziehung zu den Brüdern eingeht, hat Paula in ihrer Mutter stets eine Komplizin, die ihr mit weiblicher Diplomatie und Raffinesse hilft, den künstlerischen Weg einzuschlagen und weiterzugehen – auch gegen den Willen des Vaters.

Paula Becker wird am 8. Februar 1876 in Dresden geboren. Es ist ein stürmischer Tag mit Regen und Schneeschauern. Zu ihrem dreißigsten Geburtstag wird ihr die Mutter einen Brief schreiben und genau berichten, wie der Tag ihrer Niederkunft verlaufen ist:

»Dreißig Jahre ist es heute, daß Du das Licht der Welt erblicktest in unserer kleinen Wohnung in der Schäferstraße zu Dresden-Friedrichstadt. Draußen war ein Unwetter, die Elbe ging mit Eis und brachte Hochwasser vom Gebirge herunter, Regenstürze wechselten mit Schneestürmen, und Vater, der immer fürsorgliche, konnte sich um Dich und mich nicht kümmern, sondern mußte die Tage und Nächte draußen in angestrengtester Arbeit verbringen, denn die neuerbauten Dämme seiner Bahn begannen an der Elbe zu rutschen und Millionen standen auf dem Spiel außer seiner Ehre als Ingenieur. Wir beiden jungen Mädchen (ich war auch erst dreiundzwanzig, als ich mein drittes Kind bekam) blieben allein mit einer blödsinnig unpraktischen Wartefrau. Ich sehe das dicke Geschöpf noch wie heute. Ich hatte Dich an der Brust. Das Öllichtchen brannte fladdrig im Wasserglase. Die Altsche wollte sich Kaffee wärmen und hatte ihre Spritlampe überfüllt, die mächtig aufloderte. Immer pustend und dazwischen kläglich ›O Jemersch‹ kreischend bringt sie mir das lodernde Theebrett aufs Bett, und ich mußte es löschen. Von all der Verrücktheit, dem Sturmgebraus und Woldis verängstigten Augen aufgeregt, bekam ich Fieber und eine schlimme Brust, mußte geschnitten werden – kurz, es war das einzige Wochenbett, von dem ich mich erst nach einem halben Jahr erholte. Aber mein Kolibri gedieh rund und reizend trotz Sturm und Spiritus und stürzenden Dämmen und feiert heute seinen dreißigsten Geburtstag.«

Damals hat die Familie Becker in der ersten Etage eines Hauses in der Schäferstraße 42/Ecke Menageriestraße in Dresden-Friedrichstadt gewohnt. Noch im selben Jahr zieht sie in die nahegelegene Friedrichstraße in das Haus Nr. 46. Dort wächst Paula auf. Es ist ein Viertel, in dem sich immer mehr Industrieunternehmen angesiedelt haben, weshalb es gerade zum Fabrikbezirk erklärt worden ist. Die Umgebung ist also alles andere als idyllisch. Entschädigt wird die Familie durch einen großen Garten, der zum Haus gehört. Paula liebt diesen Garten mit seinen Blumen, dem alten Schuppen, den Büschen und Sträuchern, in denen man sich verstecken kann. Wie Clara in Oberneuland. Allerdings wächst sie in einer viel harmonischeren Atmosphäre auf. Zu ihren fünf Geschwistern hat sie eine vertrauensvolle Beziehung, besonders zu der älteren Schwester Milly, mit der sie später viele Worpswede-Erlebnisse teilen, und zu ihrer jüngeren Schwester Herma, die ihr in Paris zur Begleiterin wird.

Als die Kinder klein sind, unternimmt die Familie in der Freizeit oft Ausflüge, macht Picknick am Elbufer, fährt mit der Droschke zum »Weißen Hirsch« hoch über der Stadt oder verbringt einfach ein paar Stunden miteinander im Grünen. Auf einer dieser Landpartien passiert eine Katastrophe: Paula ist zehn Jahre alt und spielt mit ihren beiden Lieblingscousinen Maidli und Cora Parizot und einigen anderen Kindern in einer Sandkuhle. Plötzlich stürzt die Sandgrubenwand ein und begräbt die Kinder unter sich. Schrecken, Panik, Klaustrophobie, Lähmung. Nur zwei Kinder können sich retten: Paula und Maidli. Cora und drei andere ersticken. Erstmals wird Paula mit dem Tod konfrontiert, der von einer Sekunde auf die andere zupacken kann. Eben noch fröhlich miteinander gespielt, die Welt schien harmlos, ohne Bedrohung. Da werden aus Freudenrufen Angstschreie. Der Sandstrudel zieht hinab in die Tiefe, ein geliebter Mensch verschwindet für immer. Die zehnjährige Paula hat hautnah erfahren, wie fragil und wenig selbstverständlich das Leben ist, und daß mitten in ihm der Tod lauert. Damals hat wohl ihr Nachdenken über den Tod begonnen, das sie ihr Leben lang begleiten wird.

Zwei Jahre später, im Januar 1888, als Paula zwölf Jahre alt ist, wird Carl Woldemar Becker nach Bremen versetzt. Sein neuer Arbeitsplatz ist die »Preußische Eisenbahnverwaltung im Bremischen Staatsgebiet«. Die Familie zieht in eine Dienstwohnung in der Schwachhauser Chaussee 29, die klein und bescheiden ist, zu der aber glücklicherweise auch ein Garten gehört.

Der Neuanfang in der Hansestadt wird nicht einfach gewesen sein, denn es herrschen dort schwer überwindbare gesellschaftliche Barrieren. Die einzelnen Zirkel sind in sich abgeschlossen und bestrebt, Neueindringlinge auf Distanz zu halten. Für die Mutter, Mathilde Becker, ist das jedoch eine Herausforderung, der sie sich gern stellt. Sie ist kommunikativ und kontaktfreudig und schafft es, daß ihre Wohnung innerhalb kurzer Zeit sogar zu einem kulturellen Treffpunkt wird. Paula lernt also früh viele Menschen kennen – anders als Clara, deren Elternhaus nicht so offen und eher mit sich selbst beschäftigt ist.

Clara und Paula – zwei Frauen Ende des 19. Jahrhunderts, die Malerinnen werden wollen, obwohl die Situation von Künstlerinnen zu dieser Zeit alles andere als erstrebenswert ist. Frauen sind überwiegend nicht an staatlichen Kunstakademien zugelassen, die Öffnung dieser Hochschulen erfolgt erst 1914. Gesuche von Frauenvereinen werden abgelehnt. Die Begründung lautet, man wolle einen allzu großen Andrang von Frauen an den Akademien aus Mangel an anderen geeigneten Berufen für gebildete Frauen unterbinden. Man unterstellt von vornherein ein niedriges Niveau der Studentinnen und fürchtet bei Förderung eine unkontrollierbare Verbreitung des Dilettantismus. Man argumentiert mit einer erfahrungsgemäß geringen Veranlagung des weiblichen Geschlechts für die großen Aufgaben der hohen Kunst. Diese Alibis sind so wenig seriös und so sehr von männlichen Vorurteilen bestimmt, daß sie sich leicht widerlegen lassen müßten. Auffassung steht gegen Auffassung, Weltbild gegen Weltbild. Dazwischen scheint es keine Vermittlungsmöglichkeiten zu geben. Also schreiten die Frauen selbst zur Tat und gründen eigene Ausbildungsstätten: Damenakademien. Sie bieten die einzige Möglichkeit, sich zu qualifizieren, und finanzieren sich durch Mitgliedsbeiträge, Schulgelder, Spenden. Längst nicht so angesehen wie die staatlichen Kunstakademien, sind sie noch dazu viel teurer. Hohe Studiengebühren müssen aufgebracht werden. Das Ausbildungsangebot ist kleiner als an den staatlichen Akademien, und die Lehrer gelten als weniger kompetent. Allein: Diese Schulen ermöglichen ihren Absolventinnen einen Abschluß, der als Voraussetzung für ein Zeichenlehrerinnenexamen anerkannt wird.

Clara beklagt sich schon früh über die Diskriminierung, die sie als Frau erfährt, und versucht dagegen anzugehen. Als besonders ungerecht empfindet sie, daß man als Frau die hohen Studiengebühren zahlen muß, während von den Männern an den Akademien vergleichsweise geringe Aufwendungen verlangt werden. Am 8. November 1897 schreibt sie erbost aus München an ihre Eltern: »Aber man muß nur bedenken, wie billig die Herren studieren, dann kriegt man doch ’ne Wut.«

Ihre Wut formiert sich zum offiziellen Protest. Clara wendet sich an den bayerischen Minister für Cultus und Unterricht, Robert Ritter von Landmann, mit einem Gesuch um Zulassung, an den Anatomiekursen teilzunehmen, die für Studenten der Akademie und Gewerbeschule wöchentlich gehalten wurden.

Ihren Eltern berichtet sie am 11. November 1897:

»Da existiert eine sogenannte ›Anatomie‹, wo täglich Vorträge für Ärzte sind und wo sie ein Mal in der Woche für Künstler stattfinden. Und zwar nur für die Akademie und Kunstgewerbeschule und nur für Herren. Jetzt sag mir einer, warum nur für Herren? Das muß anders werden und soll mich nicht wundern, wenn wirs durchsetzten. Wenn der Staat sich verpflichtet fühlt, für die männlichen Künstler ganz ungeheure Unterstützung zu leisten, warum tut er es nicht für die weiblichen?«

Der Weg zum Minister ist lang, führt durch das Labyrinth der Bürokratie über die Zwischenstationen Akademielehrer, Akademiedirektor, Ministerialrat. Sie erzählt den Eltern ausführlich von ihren Erfahrungen:

»Der Herr Rat war ein kleines Ekel und unseren Plänen entschieden nicht geneigt. Er sprach von Konsequenzen, die daraus erwüchsen (natürlich Künstler und Beamte – das ist ein Unterschied), daß der Vortragende sich der Damen wegen einschränken müßte, ob sich das für Damen eignete (er meinte wohl, ob’s den Damen bei den Leichen nicht übel würde). Ich sagte, das wäre doch Sache der Damen, und er meinte, nein, sie hätten auch viel Verantwortung (Verantwortung für unsere Moral, scheint mir!).«

Der Ministerialrat läßt Clara, die eine couragierte und kräftige junge Frau ist, wissen, daß nach seiner Auffassung das zarte Geschlecht solchen Anforderungen sowohl physisch als auch psychisch nicht gewachsen sei. »Darauf sagte er, daß wir auch dann bald kommen könnten und an der Akademie teilnehmen wollten und sie kämen schließlich in die Lage, eine Damenakademie gründen zu müssen. Dann gründen Sie doch eine, sagte ich. – Ja, und warum nicht?« schildert sie in einem Brief vom November 1897.

In den Gesprächen mit den zuständigen Beamten ist Clara entschieden, selbstbewußt und manchmal frech. Schlagfertig. Aber ihr Gesuch bleibt trotzdem ohne Erfolg. Wegen Platzmangel – so lautet der damals übliche Vorwand – wird sie abgelehnt. Selbst voller Mut und Durchsetzungswillen, muß sie früh erfahren, daß das noch nicht reicht. Ihre Kommilitoninnen halten sich zurück. Clara ist enttäuscht und verärgert über ihre Geschlechtsgenossinnen, die sich nicht solidarisieren. Sie charakterisiert sie und ihre Absichten in einem Brief an die Eltern:

»Viele Damen wollen so für sich und ihre Familie etwas malen lernen. Dann zeichnen sie etwas, fangen dann etwas zu malen an, Aquarell und Öl vielleicht, können dann vielleicht ganz nette Landschaften malen und so für den Haushalt genug. Das kann man in zwei Jahren erreichen. Sie können dann aber nichts ordentlich.«

Bei Paula hört man diese Töne so gut wie überhaupt nicht. Immer ist sie auf sich selbst und das, was sie will, konzentriert, schaut wenig nach rechts und links. Allerdings ist sie eine eifrige Briefeschreiberin, die stark auf ihr Gegenüber eingeht. Vor allem der Briefwechsel mit dem Vater ist sehr intensiv und gehaltvoll. Hier werden persönliche und philosophische Fragen diskutiert, besonders Fragen der Kunst. Wenn das Thema Frauenemanzipation angeschnitten wird, äußert sich Paula indifferent. Sie mag es nicht, wie bestimmte Frauen über Männer sprechen, »wie von gierigen Kindern«. Und manchmal schimpft sie über die Weiber an ihrer Schule, übernimmt sogar männliche Positionen, wenn sie sich abfällig über die »Hosendamen« und ihre burschikosen Manieren lustig macht.

»Das Mittagessen an unserm Weibertisch wird mit großem Appetit eingenommen. Die Hosendamen, es hat sich noch eine zweite hinzugesellt, beweisen ihre Männlichkeit durch jungenshaften Heißhunger. Es macht mir großen Spaß, diese Individuen innerlich und äußerlich zu betrachten. Ich glaube, sie bilden sich wirklich ein, sie seien nicht eitel und gäben nichts auf Äußerlichkeit. Und doch sind sie auf ihre Hosen so stolz wie unsereins auf ein neues Kleid«, schreibt sie 1897 an die Eltern und läßt schon hier ihre Fähigkeit erkennen, Dünkel und Posen zu entlarven. Aber bei aller Kritikfreude nimmt sie auch Rücksicht auf den Vater und seine Prinzipien.

Den Baurat Becker muß es wohl große Überwindung gekostet haben, der Tochter die Hinwendung zur Kunst zu gestatten. Sie will unbedingt Malerin werden. Der Vater rät statt dessen zu einer Gouvernantenstelle, wenigstens als Interimslösung bis zur Heirat. Am Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung arbeiten zwar zunehmend Frauen aus der Arbeiterschicht am Fließband, aber für Frauen des Bürgertums ist es nicht üblich, einer Berufstätigkeit nachzugehen. Geduldet werden Erzieherinnen, Lehrerinnen, Gouvernanten sowie hauswirtschaftliche und pflegerische Berufe – eine Art Überbrückungstätigkeit bis zur Eheschließung. Die befürwortet auch Paulas Vater. Sie soll sich einmal selbst ernähren können, denn wer kann schon garantieren, daß seine eigenwillige und manchmal überkritische Tochter überhaupt jemals heiraten würde.

Seine Frau ist froh über Paulas Talent und ihre Pläne, dieses sichtbar zu machen. Selbst künstlerisch interessiert, ist sie glücklich, daß Paula die Kunst so ernst nimmt und nicht nur als Freizeitbeschäftigung auffaßt. Sie ermutigt ihre Tochter, hilft ihr dabei, Modelle zu finden, sorgt dafür, daß sie bei ihrem England-Aufenthalt 1892 Zeichenunterricht erhält. Paula besucht ihre in der Nähe von London lebende Tante Marie Hill. Die Eltern wollen, daß sie ihren Horizont erweitert, Hauswirtschaft, Sprachen, aber auch Klavier und Tennis lernt. Schnell erkennt sie, daß das nicht ihre Welt ist. Die 16Jährige gehorcht zwar und tut das, was man von ihr verlangt, in ihrer Freizeit zieht sie sich jedoch immer mehr zum Zeichnen zurück. Bald erhält sie private Zeichenstunden. Ihre Tante und ihr Onkel sind von ihrer Ernsthaftigkeit beeindruckt und ermöglichen ihr den Unterricht an der Londoner »School of Arts«. Zu Hause ist man gespannt auf Ergebnisse ihrer Studien. Aber Paula fühlt sich in England nicht wohl, und Weihnachten kehrt sie nach Bremen zurück. Zu ihrer Tante Marie, mit der sie im täglichen Zusammenleben nicht so gut zurechtgekommen ist, entwickelt sie in der Distanz eine verständnisvolle Beziehung. Gerade die Briefe an sie zeugen von Offenheit, während man in den Briefen an die Eltern oft spürt, daß sie sich zwingt, Heiteres mitzuteilen. Der Tante getraut sie sich, von ihren Sorgen und Zweifeln zu erzählen, den Eltern soll die glückliche, optimistische Tochter gezeigt, manchmal sogar vorgespielt werden.

1893 beginnt Paula eine Ausbildung am Lehrerinnenseminar. Der Vater hat sie dazu gedrängt. Während der zweijährigen Lehrzeit zeichnet sie, porträtiert oft ihre jüngere Schwester Herma, nimmt weiterhin Unterricht. Die Ausbildung zur Lehrerin betrachtet sie selbst immer nur als notwendiges Übel, als eine Hürde, die es zu überwinden gilt, um endlich das tun zu können, was sie will. Darin läßt sie sich nicht beeinflussen. So anpassungsfähig und kompromißbereit sie im Leben ist, so wenig läßt sie sich in der Kunst beirren, weder im Entschluß zur Kunst noch in Fragen ihrer Ausübung.

Im Frühjahr 1895 erregt die Ausstellung der »Künstlervereinigung Worpswede« in der Bremer Kunsthalle viel Aufsehen. Die Kritiken sind vernichtend, aber Paula ist begeistert. Schon damals hat sie ihre eigenen Kriterien entwickelt und sich damit unabhängig gemacht vom herrschenden Urteil und Konsens. Ihrem älteren Bruder Kurt schreibt sie am 27. April 1895 einen euphorischen Brief, in dem es über ein Bild von Fritz Mackensen heißt:

»Du hörtest gewiß auch von der Heidepredigt [gemeint ist das Bild »Gottesdienst im Moor«], die der eine von ihnen, Mackensen, in einem eigens dafür gebauten Glaswagen malte. Dies ist ein riesig interessantes Bild. Die Gemeinde sitzt im Freien vor ihrem Priester. Aber wie lebenswahr der Künstler die einzelnen lebensgroßen Gestalten getroffen hat. Die leben alle.«

Die Lebendigkeit, die Wahrheit der Darstellung, das ist es, was sie fasziniert und worin sie eine Geistes- und Wahlverwandtschaft spürt. Sie will das Leben, das Atmen, das Vibrieren der Dinge wiedergeben. Sie will eine Ausdrucksform dafür finden. Es muß für sie ein beglückendes Erlebnis gewesen sein, in der Ausstellung der Worpsweder Künstler auf die Realisierung ihrer eigenen Ziele zu stoßen. Trotz der überwiegend negativen Kritik bedeutet diese Exposition für die Worpsweder Maler so etwas wie einen Auftakt, der im Sommer desselben Jahres in der vielbeachteten Ausstellung im Münchner Glaspalast zum Sensationserfolg wird.

Zu diesem Zeitpunkt ist Clara schon in München, und auch sie schreibt Briefe nach Hause. Das, was heute der Wochenendanruf von weither oder die E-Mail von irgendeinem fernen Ort in der Welt ist, ist damals der Sonntagsbrief gewesen. Er wird nicht nur erwartet, sondern verlangt, damit die Familie informiert ist und sich keine unnötigen Sorgen zu machen braucht.

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Clara im Müchner Fasching, um 1897

»Oh, München! Diese göttliche Freiheit!«, schwärmt Clara. Sie schreibt nicht nur von ihren eigenen künstlerischen Fortschritten, sondern auch von den Begegnungen mit der Kunst anderer. Sie liebt es, in München die Kupferstichsammlung und die Alte Pinakothek zu besuchen. Dort haben sie besonders die Werke Hans Holbeins beeindruckt. Und natürlich hat sie neben den Münchner Secessionsausstellungen auch die Ausstellung im Münchner Glaspalast gesehen, die die Worpsweder Maler 1895 mit einem Schlag in die Öffentlichkeit gerückt hat.

Die Eltern werden durch die Berichte ihrer Töchter neugierig gemacht, vor allem auf die künstlerischen Produkte. Sie wollen etwas sehen. Paula hat eine gewisse Scheu, aus England Zeichnungen zu schicken. Sie fürchtet den familiären Spott und hält ihre Skizzen zurück. Clara vertröstet den Vater im Mai 1897 aus Haimhausen bei München, wo sie einige Monate bei dem Landschaftsmaler Bernhard Buttersack studiert hat. Als Begründung führt sie an, ihre Zeichnungen seien nicht geeignet zum Herzeigen, weil es sich um Experimente handle und noch nicht um endgültige Ergebnisse.

»Du schreibst, ich möchte Zeichnungen mitschicken, ich habe aber meine letzten alle in München gelassen. Ich hätte sie schon geschickt, aber sie sind nicht so vorteilhaft zum Zeigen und das kommt daher, weil sie anders gemacht sind, als meine früheren. Ich hätte eigentlich vorgehabt, sie Dir zu Deinem Geburtstag zu schicken, aber sie sehen wirklich nicht danach aus. Ihr wäret vielleicht enttäuscht. Wißt Ihr, ich bin doch noch nicht fertig im Studium, sondern in einer Art Übergangsstadium.«

Ein halbes Jahr später, zu Weihnachten, benutzt sie wieder das gleiche Argument:

»Hoffentlich erwartet auch Ihr nicht, daß ich Euch etwas arbeite. Handarbeiten tue ich ja nie, aber malen oder zeichnen kann ich Euch auch nichts. Es kränkt mich selbst tief, aber ich kann nichts dabei machen. Das, was ich arbeite, ist noch nicht zum Verschenken, ich kann doch nichts verschenken, was nicht gut ist und deshalb keine Existenzberechtigung hat.«

Beide Frauen reagieren mit einer Vertröstungsstrategie auf ein Vorurteil, das das Denken ihrer Umgebung beherrscht: Clara direkt und offensiv, Paula mit einer gewissen vorsichtigen Bestimmtheit. Das folgenschwere Vorurteil besteht darin, daß man – und dazu zählen auch die Väter von Clara und Paula – Frauen keine künstlerische Schöpferkraft zutraut. Schöpferische Fähigkeiten gehören angeblich nicht zur weiblichen Natur. Die Frau darf zwar Objekt der Kunst sein, besungen oder dargestellt werden. Als passives Modell oder Muse ist sie jederzeit akzeptiert, aber nicht als aktive Schöpferin.

Lange Zeit gibt es nur Ausnahme-Frauen, die einen Beruf ergreifen oder gar eine künstlerische Begabung zum Beruf machen, denn Berufstätigkeit ist für Frauen bis vor etwa hundert Jahren überhaupt nicht vorgesehen. Mit der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Entwicklung von der handwerklichen zur industriellen Produktion finden allerdings soziale Umwälzungen statt, die auch die Geschlechterrollen verändern. Zwischen dem Großbürgertum und dem Proletariat bildet sich ein neuer Mittelstand heraus. Aus dieser Schicht kommen die Frauen, die künstlerisch arbeiten und die Kunst zum Beruf machen wollen – im Gegensatz zu den Töchtern aus dem Großbürgertum, für die die Kunst ein Zeitvertreib ist und die damit zur Gleichsetzung Künstlerin = Dilettantin beigetragen haben.

Clara hat diese Frauen während ihrer Ausbildung in München zur Genüge kennengelernt. Damals ist der abwertende Begriff »Malweib« geprägt worden, den Clara jedoch positiv besetzt, wie man ihrem Brief an die Eltern entnehmen kann. Er ist für sie mit Selbstbewußtsein und Stolz verbunden. Sie identifiziert sich damit, bezeichnet sich gern als »Malweib« und fügt hinzu: als »regelrechtes emancipiertes Fin-de-Siècle-Weib«. Aus eigener Anschauung und Erfahrung weiß sie, daß Frauen in der Kunst besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt sind.

»Ich glaube, bei Künstlerinnen ist es schwer, daß sie es zu etwas bringen, viel schwerer als bei Männern. Daher hat es auch noch so wenig wirklich tüchtige Frauen gegeben. Also ich meine tüchtig in dem anderen Sinne, nicht als Frau tüchtig –, sondern als Künstler oder überhaupt als Mensch im Beruf. Unter welchen Bedingungen die Frauen nun eigentlich was leisten können, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß ich was leisten w i l l«, erklärt sie im Mai 1899 ihren Eltern.

Das weiß auch Paula, die der Zukunft optimistisch und mit ungeduldiger Erwartung entgegensieht:

»Nicht gerade, daß ich etwas Besonderes geleistet hätte, aber alles das, was ich vielleicht leisten könnte, das macht mich innerlich ganz verrückt. Der ›Kolben‹ geht mit rasender Geschwindigkeit im ›Zylinder‹ auf und ab«, schreibt sie im November 1897, und zwei Jahre später:

»Ich habe so den festen Willen und Wunsch, etwas aus mir zu machen, was das Sonnenlicht nicht zu scheuen braucht und selbst ein wenig strahlen soll.«

Bei der Verwirklichung dieses Plans scheuen Paula und Clara weder Mühen noch Unbequemlichkeiten. Zunächst ist es am wichtigsten, gute Lernmöglichkeiten zu finden.

Mit dem Unterricht in der Malschule Fehr/Schmid-Reutte in der Münchner Theresienstraße ist Clara zufrieden, denn das Niveau ist viel höher als bei den meisten anderen privaten Institutionen. Die Schule von Friedrich Fehr und Ludwig Schmid-Reutte ist in Fachkreisen sehr angesehen. Sie wird als »epochemachende Malschule« gerühmt. Friedrich Fehr gilt als guter Maler und begnadeter Lehrer, der sich im Unterricht stark engagiert und dabei seine eigene künstlerische Arbeit in den Hintergrund treten läßt. Er hat sich der Münchner Secession angeschlossen und zusammen mit anderen Malern, darunter Franz Stuck, gegen die Bevormundung Franz von Lenbachs gewandt. Seine Unterrichtsweise, die vor allem darin besteht, anzuregen und zu begeistern, gefällt Clara sehr. Fehrs Art, Korrektur und Kritik zu erteilen, motiviert sie.

»Je mehr ich studiere, je mehr ich lerne, je mehr ich sehe, desto mehr angefeuert werde ich, ich bin jetzt schon ganz anders als am Anfang, als überhaupt früher«, reflektiert sie gegenüber ihren Eltern am 30. November 1895.

Als Schülerin der Fehr-Zeichenklasse fühlt sie sich ausgezeichnet, erwählt, herausgehoben und läßt ihrem Überschwang freien Lauf. Als sie wählen darf zwischen Stilleben, Porträt oder Figur, entscheidet sie sich für das Porträtzeichnen. Erst später kommt das Aktzeichnen dazu. Wie Paula will sie nicht nur von ihren Lehrern an der Malschule lernen, sondern auch von den berühmten Malern der Vergangenheit und Gegenwart, deren Werke in den Kunsthallen und Museen zu sehen sind. Sie ist eine eifrige Besucherin der Ausstellungen in München, darunter auch jener der Worpsweder Maler im Glaspalast.

Im Frühjahr 1897 lernt Clara den jungen Bildhauer Ignazius Taschner kennen. Er studiert an der Münchner Kunstakademie. Sie hält ihn für ungewöhnlich talentiert und sitzt ihm einen Monat lang Modell für eine Büste und ist erstaunt, daß sich schon in einem ganz frühen Stadium eine Ähnlichkeit erkennen läßt. Die Büste wird im Sommer im Glaspalast ausgestellt. Claras Interesse an der Bildhauerei wächst.

Ende 1897 besucht sie Heinrich Vogeler in seinem Münchner Atelier. Sie will mehr über Worpswede wissen, seit sie die Bilder der Künstlerkolonie im Glaspalast gesehen hat. Vogeler gehört seit 1894 zur Künstlervereinigung Worpswede. Jetzt hält er sich für einige Zeit in München auf, um die künstlerische Gestaltung der dort neugegründeten Zeitschrift »Die Insel« zu übernehmen. Clara hat vor, nach Worpswede zu gehen, um dort zu leben und zu arbeiten. In Vogeler findet sie einen Fürsprecher, der diesen Plan unterstützt. Ostern 1898 verläßt sie München und wird Fritz Mackensens Schülerin. Er, der selbst ab und zu als Bildhauer arbeitet, erkennt ihre plastische Begabung und ermutigt sie, diese zu entwickeln. Begeistert schreibt sie am 21. November 1898 aus Worpswede an ihren Vater:

»Ich bin nämlich ganz mit mir ins Klare gekommen, daß ich Bildhauer werden will. Ich bin darüber sehr glücklich.«

Auffällig ist, daß Clara in der ersten Zeit immer die männliche Form wählt, wenn sie von ihrem Beruf spricht. Obwohl man in der Öffentlichkeit allmählich beginnt, das bildnerische Gestalten einer Frau mit Pinsel und Farbe, also eine Malerin, als mögliche Berufstätigkeit zu akzeptieren, erscheint die Vorstellung eines weiblichen Bildhauers, der mit allerlei Werkzeugen den Stein bearbeitet, geradezu absurd. Also ist kein Begriff, keine Bezeichnung dafür notwendig, geschweige denn üblich. Aber Clara läßt sich nicht von ihrem Weg abbringen. Ihre künstlerische Fluchtlinie führt sie nach drei Jahren Unterricht in München geradewegs nach Worpswede.

Paulas Weg ist nicht so gradlinig, sondern verläuft in Umwegen und führt sie an verschiedene Orte. Ihre Ausbildung zur Künstlerin wird vom Vater stets als Spielerei betrachtet. Eigentlich soll sie etwas Sinnvolles lernen, um sich später einmal selbst ernähren zu können.

Anforderungen solcher Art ist Clara anscheinend nie in dieser Nachdrücklichkeit ausgesetzt. Zwar mischt sich der Vater in ihren künstlerischen Werdegang ein, will etwas sehen, beurteilen, ja vielleicht sogar entscheiden, ob seine Tochter Talent hat, ob sie etwas gelernt hat, ob sie sich weiterentwickelt, also ob sich die Ausbildung wirklich lohnt – aber die Aufforderung, sich ihr Geld mit einem Brotberuf zu verdienen, schwingt nicht mit. Ihre Entscheidung zu einem künstlerischen Beruf wird durchaus ernstgenommen, auch von den Eltern. Aufgrund ihrer selbstbewußten und sicheren Ausstrahlung traut man ihr zu, daß sie weiß, was sie will und wie sie es umsetzen kann. Diese Einschätzung kommt in vielen Schilderungen zum Ausdruck, besonders im Gedicht »An Clara«, das Rudolf Alexander Schröder, der sie 1898 kennengelernt hatte und ein Freund fürs Leben wird, 1940 im Rückblick geschrieben hat:

»Ich denk, wie dich mein Aug zuerst erblickte

Beim lauten Fest im freudeleeren Saal,

Wie mich dein Blick im Innersten erquickte,

Des vollen Frühlings ungebrochner Strahl.

Ein Baum, so schienst du – Wunder zu gewahren! –,

Der blank in Blust und rot vor Kirschen stand,

Da Bienenflug den gleichen Zweig befahren,

auf dem der Vogel seine Nahrung fand.

Gewölbte Stirn, des Auges klarer Bogen,

Die Lippe fest und doch so zart geschweift,

Der kühne Wuchs, von Anmut überflogen,

Erst kaum erblüht und schon im Blühn gereift.

Dein Lockenhaar voll braunen Widerscheines,

Dein Ernst, der fügsam jedem Lächeln wich,

Aus schönem Haus geschwisterten Vereines

Die Schönste du, – die Liebste sicherlich!«

Das Bild eines Baums ist ungewöhnlich für eine junge Frau: ein Baum, kaum erblüht und schon gereift. Ungewöhnlich wie Claras Größe, ihre hoheitsvolle Haltung, ihr fester sicherer Blick. Da ist Paula ganz anders. Ihre Augen werden häufig als wach, aber unruhig tanzend beschrieben. Sie selbst empfindet sich als zitternd und sprunghaft. Sie ist kleiner als Clara und pflegt, so heißt es, zierliche Gesten.

Paula erweckt Beschützerinstinkte, allen voran die ihres Vaters und ihres Bruders Kurt, die ihren künstlerischen Plänen gegenüber skeptisch bleiben. Zwar hat sie in der Mutter eine Verbündete, der Vater ist jedoch nicht zu überzeugen. Momentan ist er besänftigt, weil sie die Ausbildung zur Lehrerin absolviert hat, aber ihr Zögern, sich um eine Gouvernantenstelle zu bemühen, irritiert ihn, vor allem weil ihm die ins Haus stehende Pensionierung angekündigt wird. Das Eisenbahnbetriebsamt in Bremen wird geschlossen und seine Position damit gestrichen. Da er sich mit 54 Jahren zu jung für den Ruhestand fühlt und die Familie ohne sein bisheriges Einkommen in Geldnöte geriete, will er versuchen, eine neue Stelle als Ingenieur zu finden. In Bremen scheint das momentan nicht möglich, deshalb entschließt er sich, die alten Kontakte in Dresden aufzufrischen. Er macht sich auf den Weg nach Sachsen, und seine Abwesenheit nutzen Paula und ihre Mutter, um Pläne für Paulas weitere künstlerische Zukunft zu schmieden. Paula reist nach Berlin, wohnt bei ihrer Tante und besucht einen sechswöchigen Kurs der »Zeichen- und Malschule des Vereins der Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen«. Dafür sind keine Voraussetzungen notwendig, sie muß keine Mappe vorlegen, keine Prüfung absolvieren. Allerdings ist die Studiengebühr sehr hoch. Paula geht viermal in der Woche nachmittags zum Zeichenunterricht bei Jacob Alberts. Aber sie lernt nicht nur in den Unterrichtsstunden, sondern den ganzen Tag über. Auf ihren Wegen durch die Stadt, zu Fuß in den Straßen, in der Straßenbahn, im Bus, überall schaut sie sich die Menschen genau an, liest in ihren Gesichtern und Gesten, prägt sich ein.

»Ich lebe jetzt ganz mit den Augen, sehe mir alles aufs Malerische an«, schreibt sie am 18. Mai 1896 in ihr Tagebuch.

Sie besucht die Berliner Nationalgalerie und bewundert dort die Gemälde Rembrandts, dem es gelingt, das Licht und seine Effekte auf der Leinwand einzufangen.

Mit ihrer eigenen Darstellungsweise geht sie hart ins Gericht:

»Ich zeichne noch jeden Schatten zu ausgeprägt, ich bringe noch zu viel Unwichtiges auf das Papier, statt das Wichtige mehr herauszubringen. Dann bekommt die Sache erst Leben und Blut. Meine Köpfe sind noch zu hölzern und unbeweglich«, teilt sie ihren Eltern mit.

Das Lebendigwerdenlassen eines Menschen im Bild, einer Landschaft, einer Stimmung, gehört schon früh zu Paulas Zielen, zu einem Zeitpunkt, als Clara ihre Kriterien noch nicht kennt und viel stärker am Suchen ist. Clara gibt sich dem Augenblick hin, dem alltäglichen und dem künstlerischen. Sie lernt auch permanent, sammelt Erkenntnisse, nimmt alles in sich auf. Paula filtert sehr früh und strukturiert ihre Erkenntnisse. Sie weiß, was sie lernen will. Clara weiß nur, daß sie lernen will. Paula findet in den Bildern anderer Maler Techniken und Fertigkeiten, die sie sich selbst aneignen will, aber sie weiß auch, welche Darstellungsweisen, die sie bei anderen schätzt, in ihrer eigenen Kunst keinen Platz haben. Paula ist sich frühzeitig ihrer selbst bewußt, vermag jedoch andere nicht unbedingt davon zu überzeugen.

Clara strahlt dagegen Festigkeit und Entschiedenheit, Härte und Konsequenz aus, auch als sie noch auf der Suche ist. Kritik nimmt sie stets ernst – anders als Paula. Über die ihres geschätzten Lehrers Fehr schreibt Clara im November 1895 an die Eltern:

»Es war heute Herr Fehr zur Korrektur da. Er stellt sich eine Weile zu jeder Dame hin, gibt Lehren, tadelt usw. Loben tut er nie! Ich habe in dieser kurzen Stunde, in dem Augenblick, wo er bei mir stand, mehr gelernt, als in den drei viertel Jahren bei Junghans überhaupt.«

Anders als ihr Bremer Zeichenlehrer Junghans mischt sich Fehr nicht nur mit erklärenden Worten in die Arbeit seiner Schülerinnen ein, sondern legt selbst Hand an. Clara ist beeindruckt:

»Er kam zu mir, sprach mit mir einen Moment, schob meine Staffelei etwas anders, wischte meinen Anfang wieder weg und zeigte mir, wie man’s machen muß.«

Sie hat jemanden gefunden, den sie als Respektsperson anerkennt, eine Orientierungsfigur, die weiß, wie man’s macht, und die ihr den künstlerischen Weg weist. Es wird davon in ihrem Leben noch einige geben: allen voran Rilke und Rodin. An ihnen richtet sie sich jedoch nicht nur in der Kunst, sondern auch im Leben aus. Sie ist dankbar für Hinweise und Hilfestellungen. Eine Haltung, die man der resoluten Frau gar nicht zugetraut hat. Die Welt um sie herum übersieht eine ganze Weile, daß hier eine junge Frau auf der Suche ist und nur vorgibt, gefunden zu haben. Das ist notwendig gewesen, um sich aus der häuslichen Enge und Bevormundung zu lösen. Ein hilfloses Mädchen hätten die Eltern nicht in die Welt ziehen lassen, aber einer selbstbewußten jungen Frau können sie den Aufbruch nicht verwehren.

Ganz anders Paula. Sie hat nicht gelernt, ihre innere Entschiedenheit durch eine äußere sichtbar zu machen. Sie wirkt zögernd und staunend. Sie ist eine präzise Beobachterin. Wenn die Zwanzigjährige von der Kritik ihres Lehrers Jacob Alberts berichtet, ist das sehr komisch. Ihre Selbstkritik an ihrer Person und an ihrer Zeichenkunst ist oftmals viel härter und präziser, sie ist für sich selbst der entscheidende Maßstab. Über die strenge Korrektur ihres Lehrers macht sie sich eher lustig. Im Gegensatz zu ihren Mitschülerinnen fürchtet sie den manchmal ziemlich groben Lehrer nicht. Während sie seine Fähigkeit, mit wenigen Daumenstrichen die Zeichnungen seiner Schülerinnen zu verbessern, bewundert, parodiert sie seine kritischen Ausrufe: »Dreck, Blödsinn! Nüscht! Nüscht! Noch einmal anfangen! Es ist sündhaft, wenn Sie die Kunst so ohne Andacht behandeln.« Aber sie muß auch zugeben, daß Rembrandt, den sie in dieser Zeit schätzen lernt, tatsächlich mit Andacht gearbeitet hat. Paula genießt diese Zeit in Berlin, in der sie ganz visuell lebt, und versucht die Tatsache zu verdrängen, daß ihre Tage an der Zeichen- und Malschule gezählt sind.