Für meinen Dad

Für Susanne

 

Und plötzlich sind alle Wunder aufgebraucht.

Prolog

Ich kann das.

Ich steige jetzt diese Treppe hoch, suche den richtigen Klingelknopf und drücke drauf. Wenn ich Glück habe, ist sie da, wenn nicht, komme ich später wieder. Auch wenn das dann sicher doppelt so schwer wird.

Vorsichtig setze ich einen Fuß auf die erste Stufe, hieve mich am weiß gestrichenen Geländer nach oben, verziehe das Gesicht. Los, weiter.

Lippkes, Felicitas Lippkes ist ihr Name.

Die Tür wird aufgerissen, obwohl ich noch nicht mal in der Nähe des Klingelknopfs bin, und ein Mann, groß wie ein Grizzly, taucht vor mir auf. Wow, hoffentlich ist der nicht mit ihr verwandt. Falls doch, wäre es nämlich besser, ich würde mich sofort wieder umdrehen und einfach wegrennen. Weit, weit weg.

Der Typ mustert mich fragend von oben bis unten, und während er das tut, schleicht sich ein mitleidiger Ausdruck auf sein Gesicht.

»Kann ich dir helfen?«, fragt er schließlich.

»Nein – oder ich … ich weiß nicht«, sage ich stockend. Sehr souverän. »Ich wollte zu Felicitas Lippkes.«

»Zu Fey?« Ein Stirnrunzeln. »Kennt ihr euch?«

»Ähm, nicht direkt …«

»Aha.« Er zieht die Augenbrauen zusammen, verschränkt die Arme vor der Brust und fügt dem Grizzly dadurch noch eine Spur Bergmassiv hinzu. »Tja, wir waren eben auf dem Sprung, also …«

Seine Stimme verebbt im Nirgendwo. Ihre Haare sind das Erste, was ich zu sehen bekomme. Lila. Die Farbe erinnert mich an etwas, oder besser gesagt, an jemanden, und als das Mädchen einen Schritt zur Seite macht, weiß ich auch, warum.

Heilige Scheiße.

»Paps, wir …« Felicitas Lippkes hebt den Blick und ihr Satz bricht abrupt ab. Meine Überraschung spiegelt sich auf ihrem Gesicht, doch direkt darunter verbirgt sich ein Lächeln. Sie bemüht sich, es zurückzuhalten, aber es klappt nicht.

Das Einzige, woran ich denken kann, ist: Ihre Haare sind jetzt lila.

»Lucas Svensson«, sagt sie und treibt mir damit einen Keil tief in die Brust. Sie hat sich meinen Namen gemerkt. »Was machst du denn hier?«

Mein Herzschlag pulsiert in jeder Faser meines Körpers, mir wird warm, kalt, meine Knie zittern. Unwillkürlich ziehen sich meine Mundwinkel nach oben, während mein Magen in die Gegenrichtung drängt. Ich lösche das Lächeln, reiße die Augen auf, denke, dass das nicht sein kann. Ich kann doch nicht … Wie soll ich denn …

Mir bleibt nichts anderes übrig.

Ich schlucke, schlucke noch mal, schüttele den Kopf, und endlich quälen sich die Worte aus meiner Kehle.

»Ich fürchte, ich muss dir was gestehen.«

Kapitel 1

»Also, wenn das mal nicht nach einem perfekten Abend riecht, Captain!«

Ben bleibt mitten in der Tür stehen, atmet tief durch und verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen. Dann breitet er die Arme aus. Er schließt die Augen, wackelt mit den Fingern. Als würde er versuchen, auf diese Weise herauszufinden, wer sich alles auf der Party tummelt. Elender Schauspieler. Er blockiert die Tür.

Ich dränge mich an ihm vorbei, zerre ein paar Sweatjacken von der Garderobe und lasse sie auf den Boden fallen, um Platz für meine Motorradjacke zu schaffen. Gerade als ich mich umdrehen will, taucht eine winzige Blondine unter meinem Arm hindurch und hebt die Klamotten wieder auf. Ich grinse, während sie mich von unten herauf anfunkelt und mir eine giftige Bemerkung um die Ohren knallt. Ich kann sie nicht verstehen, denn Ben brüllt im selben Augenblick »Keine Panik, Ladies and Gentlemen, alles in bester Ordnung! Die Wingmen sind gelandet!« durch den Flur. Hatte ich erwähnt, dass er ein elender Schauspieler ist? Aber das Publikum steht drauf. Einige von den ganz aufgeweckten Holzköpfen jubeln sogar.

Nur die winzige Blondine motzt weiter rum. Wahrscheinlich wohnt sie hier und fragt sich gerade, ob es eine gute Idee war, uns einzuladen. Damit sie nicht noch wütender wird, schlinge ich einen Arm um ihre dürren Schultern und ziehe sie eng an mich heran. Leichtes Spiel. Sobald du über einen Meter achtzig groß bist, ein bisschen Sport treibst und weißt, wie man Deo benutzt, hast du bei den meisten Mädels eigentlich schon gepunktet. Sofort wird die Kleine weich wie Butter und lässt sich gegen meine Brust sinken. Einmal durch ihre pingelig frisierten Haare gewuschelt, einen Kuss auf die Wange – und sie kichert. Na also, geht doch. Wie hat Ben so schön gesagt? Alles in bester Ordnung.

Bevor die kleine Blonde es sich anders überlegen und dadurch alles wieder versauen kann, packe ich Ben am Kragen und schiebe ihn ins Wohnzimmer. Der Raum quillt beinahe über, gefühlt hundert Leute halten sich dort auf. Die meisten von ihnen stehen in kleinen Gruppen zusammen, klammern sich an ihre Bierflaschen oder bunten Plastikbecher voll mit was weiß ich und nicken uns zu, als wir an ihnen vorbeigehen. Sogar die kleine Emo-Fraktion aus der Mittelstufe ist da. Sie drücken sich in einer Ecke zusammen und beäugen misstrauisch den Haufen johlender Jungs, die sich um einen gigantischen Couchtisch versammelt haben und irgendein Saufspiel veranstalten. Die ersten Opfer stapeln sich bereits auf der Ledercouch dahinter.

»Wer war die kleine Blonde?«, fragt Ben über seine Schulter hinweg, sobald wir den größten Pulk hinter uns gelassen haben. »Wohnt die hier?«

»Absolut keine Ahnung, Mann.« Ich zucke mit den Schultern. »Du hast doch vorgeschlagen, auf die Party zu gehen. Ich dachte, du weißt, wer hier wohnt.«

»Glaub mir, wenn ich wüsste, wem der Palast gehört, hätte ich schon vor Monaten in die Familie eingeheiratet!« Er lacht. »Colin hat mir die Adresse gegeben und gesagt, wir können kommen.«

Es ist laut hier und warm, und aus einer Handvoll Lautsprecher dröhnt Musik, die bösartig an meinem Trommelfell kratzt. Links von uns hockt ein Typ im Anzug – im Anzug! – an einem hohen Tisch und starrt angestrengt auf das Laptop-Display vor seinem Gesicht. Ich kenne ihn aus der Disco, ein Möchtegern-DJ, der von Dance über Indie Rock und Metal wahllos alles auflegt, was man haben will. Mister Whatever-you-want nennt er sich. Ekelhaft. Ich drücke Ben nach rechts, ins Esszimmer und danach weiter in den nächsten Raum. Wenn ich schlecht zusammengestellte Musik hören will, lasse ich meine Mum am Autoradio rumspielen.

»Da ist Colin«, ruft Ben nach hinten. Er geht rüber und begrüßt seinen Cousin, während ich mich umsehe. Das hier ist wohl die Bibliothek oder das Arbeitszimmer, denn außer drei Wänden voller Bücherregale, einem gewaltigen, antik aussehenden Schreibtisch und einem Ohrensessel ist der Raum leer. Na ja, abgesehen von der Gruppe Nerds, die vor einem der Regale kauern und wild diskutieren. Ich fahre mit den Fingern über die Buchrücken, bis ich bei Colin und Ben angekommen bin, dann ziehe ich wahllos eins der Bücher heraus. Kants Kritik der reinen Vernunft. Auf dem Schreibtisch neben mir steht ein Stiftehalter, der mich auffordernd anlacht. Ich fische einen Füller heraus, öffne das Buch und schreibe auf die erste Seite: »Vernünftig ist die kleine Schwester von tot.«

»Schreibst du deinen Namen rein?«, fragt Colin und grinst mich schräg an.

»Sehe ich so bescheuert aus?«, erwidere ich kopfschüttelnd. Dann schlage ich das Buch zu, stelle es zurück und greife nach dem nächsten.

Ben schaut mir über die Schulter, als ich »Lieber schizophren als ganz allein« in Orwells 1984 kritzele. Er lacht lauthals auf, nimmt mir den Stift aus der Hand und schreibt »Ich bin gut zu Vögeln« in die Fauna von Deutschland, während Colin plötzlich wie von der Tarantel gestochen aus dem Zimmer hetzt. Umso besser, der Kerl ist mir ohnehin suspekt.

Eine Weile vertreiben wir uns noch die Zeit mit blödsinnigen Schmierereien, ehe uns langweilig wird und wir den Rest des Hauses erkunden. Wir finden allein im Erdgeschoss zwei Badezimmer, ein Gästezimmer – das von mehr als einer Handvoll knutschender Pärchen belegt ist – und endlich auch die Küche. Selbst die platzt aus allen Nähten. Überall stehen Teller, Becher und Flaschen rum, Chips und angegessene Pizzastücke liegen auf den irre teuer aussehenden Granitfliesen. Gleichgültig steige ich darüber hinweg, um den Kühlschrank zu erreichen. Saft- und Wasserflaschen türmen sich in den Fächern. Cola, haben die denn hier keine Cola? Jemand reicht mir einen Becher mit zusammengepanschtem Zeugs, das aussieht, als würde es im Dunkeln leuchten. Ich schütte es ins Spülbecken und will gerade anfangen, die Schränke zu durchwühlen, als sich eine Hand auf meinen Unterarm legt. Blau lackierte Fingernägel.

»Ich hab schon gedacht, du kommst nicht mehr.«

Ah. Das ist Musik in meinen Ohren. Ich lasse den Schrankgriff los und drehe mich um. Suzie. Sie hat ihre schwarzen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr über die Schultern bis fast zur Brust reichen, und trägt etwas, was verdammt nach einer Schuluniform aussieht. Kurzer Rock, hellblaue Bluse, Strümpfe bis zu den Knien. Hinter ihr stöhnt Ben genervt auf. Ich ignoriere das und starre Suzie einfach nur an.

»Was ist das, eine Schuluniform?«, frage ich, als ich mich wieder halbwegs unter Kontrolle habe.

Suzie grinst anzüglich. Sie ist die unangefochtene Königin im Anzüglich-Grinsen. Ihre grellrot geschminkten Lippen ziehen sich dabei ganz langsam über die blendend weißen Zähne zurück, bis man sich auf nichts mehr konzentrieren kann als auf ihren Mund. Ihr Vater ist Zahnarzt.

»Ganz genau«, erwidert sie. »Und du bist der Erste, der sie anfassen darf, Captain.«

»Hey, Lucas!«, ruft mir jemand im Vorbeigehen zu.

»Hey«, murmele ich, ohne meinen Blick von Suzie zu nehmen. Ich habe Angst, dass sie verschwindet, wenn ich bloß blinzele. Seit Wochen schleichen wir nun schon auf Partys umeinander herum, ich werde den Teufel tun und sie so kurz vor dem Ziel aus den Augen lassen.

Ben verschränkt die Finger ineinander, als würde er beten, und sieht uns flehend an. »Leute, wir sind gerade erst angekommen«, nörgelt er. »Ich hab Hunger und Durst und die Musik ist scheiße. Könnt ihr nicht wenigstens noch zehn Minuten …«

Ich hebe abwehrend die Hand. »Weißt du, Ben, Essen und Trinken wird überbewertet. Aber mach du ruhig, ich hab nämlich das Gefühl, Suzie muss mir dringend was erzählen.«

»Und ob ich das muss.« Sie packt mich am Ellbogen und im nächsten Moment sind wir auf der Treppe nach oben. Leute kommen uns entgegen, begrüßen mich. Ich nicke, lächle, sage: »Hi. Wie geht’s?«, und höre die Antworten nicht. Könnte an Suzies Mund an meinem Ohr liegen oder daran, dass ihre Finger auf Wanderschaft gehen, noch bevor wir die letzte Stufe erreicht haben. Da hat es wohl jemand verflucht eilig.

Oben angekommen, drücke ich sie mit meinem ganzen Körper gegen die Wand und lasse meinen Blick über ihr Gesicht schweifen. Sie riecht nach Alkohol.

»Deine Augen sind ja grau«, sagt sie, als würde sie das überraschen. »Ich dachte immer, blau.«

»Falsch gedacht.« Ich knabbere an ihrem Ohrläppchen, streife mit meinen Lippen ihren Kiefer entlang hin zu ihrem Mund – und komme nie an. Kurz vorher krallt mir irgendeine Furie die Fingernägel in den Oberarm und zerrt mich zurück.

»Tut mir ja fast leid für euch, aber das muss warten.« Eine Freundin von Suzie, deren Namen ich immer wieder vergesse, schiebt sich zwischen uns. »Hi, Lucas.« Sie schenkt mir ein betont gelassenes Lächeln, tätschelt meine Wange und wendet sich dann Suzie zu. »Süße, Colin hat eben mit Bina Schluss gemacht. Sie droht damit, sich aus dem Fenster zu stürzen, falls du nicht in zehn Sekunden bei ihr bist und Händchen hältst.«

Colin. So nützlich wie Brechdurchfall, dieser Idiot.

Suzie beißt sich auf die Unterlippe und macht damit alles noch viel schlimmer, denn genau das hatte ich als Nächstes vor. In mir brodelt es, trotzdem weiche ich einen Schritt zurück.

»Schon okay«, sage ich, aber das ist verdammt noch mal nicht okay. Suzie heute hier zu treffen, war einer der Gründe, warum ich mich von Ben dazu habe überreden lassen, mitzukommen. Beim letzten Mal ist sie mit einem anderen Kerl abgehauen, ehe wir uns über den Weg gelaufen sind. »Mein Motorrad steht vor der Tür und der Lack ist echt megaempfindlich. Wäre also weniger gut, wenn sie springt.«

Suzie lacht und wirft mir einen Handkuss zu, ehe sie mit ihrer Freundin den Flur hinunter verschwindet. So viel dazu.

 

Ben steht noch immer unten in der Küche. Inzwischen unterhält er sich angeregt mit der winzigen Blondine, die mich vorhin an der Garderobe so angegiftet hat. Guter Fang, muss ich jetzt auf den zweiten Blick zugeben. Sie ist zwar mehr als einen Kopf kleiner als Ben mit seinen eins achtundachtzig, aber das scheint keinen von beiden sonderlich zu stören. Im Gegenteil, Ben beugt sich sogar bereitwillig zu ihr runter, als sie am Kragen seines Pullovers zieht. Sie flüstert ihm etwas ins Ohr und er lacht. Wenigstens einer von uns hat seinen Spaß.

Ich arbeite mich zum Kühlschrank vor, hole die letzte Flasche Wasser heraus und schaue mich um. Drei der Jungs hier im Raum gehen in meine Klasse, der Rest zumindest auf meine Schule. Die kleine Blonde also wahrscheinlich auch. Seltsam, dass sie mir bisher noch nie aufgefallen ist. Vielleicht einfach unter meinem Radar durchgeflogen, denke ich und muss über meinen eigenen Witz grinsen, während ich meinen Blick weiterwandern lasse. Ein Typ aus der Mittelstufe missversteht das blöderweise als Einladung, mich anzuquatschen, und die nächsten zehn Minuten verbringe ich damit, mir anzuhören, wie geil er mein Motorrad findet und dass er bald selbst den Führerschein machen will.

»Gute Idee, Tim«, sage ich, weil er beschlossen hat, sich dann die gleiche Maschine zu kaufen wie ich. Mit einem Nicken stoße ich mich von der Arbeitsfläche in meinem Rücken ab.

»Timo.«

»Ja. Timo. Honda ist immer eine gute Idee.« Ich sehe mich Hilfe suchend nach Ben um, der in genau diesem Augenblick meinen Blick einfängt und die Stirn krauszieht. »Vergiss nicht, mir dein Bike dann zu zeigen, okay? Vielleicht können wir mal eine Runde zusammen drehen.«

Timo nickt heftig, also klopfe ich ihm auf die Schulter und schiebe mich an ihm vorbei zu Ben hinüber. Obwohl die Blonde noch vor ihm steht und ihn mit einem Lächeln im Gesicht von unten herauf anhimmelt, gilt seine ganze Aufmerksamkeit jetzt mir. Er merkt, dass ich angepisst bin, immerhin kennt er mich seit dem Kindergarten. Und er weiß, dass ich niemals freiwillig die Finger von Suzie gelassen hätte. Aber hier stehe ich, in dieser vollgestopften Küche, mit einer Flasche Wasser in der Hand, und lasse mir von einem Kerl namens Timo Geschichten aus seinem Leben erzählen.

Ich hebe nur flüchtig die Augenbrauen, als ich an Ben vorbeilaufe, und er beugt sich sofort zu der Kleinen hinab, raunt ihr etwas zu. Kurz darauf folgt er mir in den Flur hinaus. Ich kämpfe mich zur Hintertür vor, um in den gigantischen Garten zu kommen.

»Was ist los?«, fragt Ben, kaum dass er die Tür hinter sich zugezogen hat. »Erzähl mir nicht, dass sie dich abserviert hat.«

»Hat sie nicht.« Ich verschränke die Arme vor der Brust und laufe den Kiesweg entlang, der vom Haus weg zu einem mit Platten ausgelegten Viereck führt. Es ist abartig kalt für die Jahreszeit.

»Colin hat seine Kleine abgeschossen und die dreht jetzt ein bisschen am Rad. Hat gedroht, aus dem Fenster zu springen.«

Ben zieht scharf die Luft ein. »Oh. Ganz beschissener Zeitpunkt.«

»Ja. Erinnere mich daran, dass ich ihm dafür danke.«

»Klar.« Mehr sagt er nicht, und ich weiß, dass er an das Mädchen denkt, das jetzt wahrscheinlich drinnen auf ihn wartet.

»Du kannst ruhig wieder reingehen und …« Ich stocke. »Wie heißt sie eigentlich? Die Blonde?«

»Sarah.«

»Geh rein zu Sarah. Sie steht auf dich.«

Er wirft einen Blick über die Schulter zurück zum Haus und fährt sich durch die fingerlangen, dunkelblonden Haare. Dann grinst er schräg. »Ich sage ihr nur kurz Bescheid, dass ich noch ein paar Minuten brauche, okay?«

»Nein, Mann. Ist schon in …«

»Willst du was trinken?«

Ich hebe die Wasserflasche und im nächsten Moment ist Ben bereits auf dem Weg zurück zum Haus. An den Anblick seines Hinterkopfes sollte ich mich gewöhnen, denn das ist bestimmt das Einzige, was ich für den Rest des Abends noch zu Gesicht bekommen werde. Der vordere Teil wird buchstäblich an Sarahs Lippen hängen.

Mit einem Seufzen laufe ich weiter. Bleibt nur zu hoffen, dass Suzie sich so schnell wie möglich von ihrer Freundin loseisen kann, damit ich auch noch was von dieser Party habe. Wär sonst wirklich schade um die Schuluniform.

Es ist stockdunkel im Garten. In den Boden rund um das Terrassenviereck sind zwar kleine Lampen eingelassen, deren Abdeckscheiben das vom Haus kommende Licht reflektieren, aber keine einzige davon brennt. Wundert mich nicht. Bei dieser Saukälte sitzt hier abends sicher noch niemand. Umso besser, dann kann ich mein Hirn ganz in Ruhe wieder auf eine erträgliche Betriebstemperatur bringen.

Groß, schlank und mit abstehenden, dunklen Haaren. Der Typ, der sich da am Rand der Terrasse herumdrückt, sieht gar nicht übel aus. Er hat mich noch nicht bemerkt, und ich nutze die Tatsache schamlos aus, um ihn zu beobachten. Sein knallblaues Shirt leuchtet im Dunkeln, als würde es angestrahlt werden, aber vielleicht liegt das auch daran, dass es die erste Farbe ist, die ich seit einer halben Stunde zu Gesicht bekomme. Die Finsternis hier draußen taucht nämlich alles in seltsam grauschwarze Schatten und dieses Nichtlicht und die Kälte drücken mir langsam aufs Gemüt. Sobald ich Jennifer finde – falls ich sie heute noch irgendwo in diesem riesigen Palast finde –, wird sie dafür büßen, das schwöre ich. Mit einem Kaffee als Entschuldigung kommt sie diesmal nicht davon.

Ich betrachte weiter meinen ungebetenen, leuchtend blauen Gast, während seine tastenden Schritte der heimtückischen Stufe immer näher kommen. Soll ich einfach zuschauen und abwarten, was passiert? Lust hätte ich ja schon, so wie er gerade über Sarah gesprochen hat.

»Vorsicht, Stufe«, sage ich trotzdem, kurz bevor sein nächster Schritt ins Leere geht.

Der Kerl kippt nach vorne, stolpert auf die tiefer liegende Terrasse hinunter und kann sich gerade noch abfangen, indem er heftig mit den Armen rudert. Das sieht zwar wenig elegant aus, aber immerhin fällt er nicht. Gute Reaktion.

»Glück gehabt«, murmele ich anerkennend. »Ich hab den Boden geküsst.«

Er richtet sich auf und starrt einen Moment in die Dunkelheit, ehe er seinen Kopf in meine Richtung dreht. Wahrscheinlich kann er mich nicht halb so gut erkennen wie ich ihn, weil seine Augen sich noch nicht an die Nacht gewöhnt haben. Außerdem heben sich meine schwarzen Klamotten weder sonderlich von der dichten Hecke in meinem Rücken ab, die das letzte bisschen Licht vom Haus abschirmt, noch vom dunklen Metall der Gartenbank, auf der ich sitze. Wenn ich vorhin nicht mit dem Knie dagegengestoßen wäre, hätte ich sie selbst völlig übersehen. Meine Haare dürften so ziemlich der einzige Hinweis darauf sein, wo ich sitze. Pink – eine Idee meiner Tante. Seit ich vierzehn bin, färbt sie mir die Haare, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie die Farbe aussuchen darf. Bisher hat sie nie danebengegriffen. Mein Glück.

Der Typ schweigt einen Augenblick, dann stammelt er: »Oh. Ähm …«, und räuspert sich verlegen.

Ich verkneife mir ein Grinsen und warte, bis er sich gefangen hat. Mir würde sicherlich auch nichts Besseres einfallen, wenn ich gerade fast mit dem Gesicht gebremst und dabei zu allem Überfluss noch Zuschauer gehabt hätte. Und ich würde lavarot glühen.

»Ist dir was passiert?«, will er schließlich wissen.

Es dauert einen Moment, bis ich verstehe, worauf er hinauswill, aber als der Groschen endlich fällt, kann ich nicht länger gegen das Grinsen ankämpfen. Süß, dass er danach fragt.

»Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Ich hab mich abgerollt wie diese Typen in den Bruce-Lee-Filmen, nachdem man ihnen die Beine weggetreten hat.« Von den Schürfwunden an meinen Handflächen muss er ja nichts wissen.

»Bruce Lee?«, wiederholt er und nickt beeindruckt. »Blöd, dass ich das verpasst habe. Sah bestimmt wahnsinnig professionell aus.«

»Eher wahnsinnig als professionell.«

Ich schaue zu, wie er die Hände in den Hosentaschen versteckt, dann steht er da und blickt stumm durch die Finsternis in meine Richtung. Sein Gesicht sieht so aus, als würde das Universum gerade nach einem möglichst lässigen Übergang vom Jungen zum Mann suchen. Und es macht seinen Job ziemlich gut, muss ich zugeben. Seine Haare sind an den Seiten ein wenig kürzer als oben, wo sie widerspenstig der Schwerkraft trotzen. Bestimmt hat er ewig und eine halbe Dose Haarspray gebraucht, um diesen perfekten Ich-hab-bis-vor-einer-Stunde-noch-geschlafen-Look hinzubekommen.

»Darf ich mich setzen?«, fragt er.

»Ich denke schon. Ist nicht meine Bank. Sie gehört den Eltern der Blonden

Er zögert kurz, als er das hört, doch dann gibt er sich einen Ruck und kommt rüber. Ich rutsche zur Seite, um ihm Platz zu machen. Sein neugieriger Blick kribbelt auf meinem Gesicht.

»Du weißt, dass die Party dort drinnen stattfindet?« Er deutet mit einer Hand zum Haus. In der anderen hält er eine Wasserflasche. Seine Finger sind lang und schmal, und um sein Handgelenk schlingt sich ein Lederarmband, das wohl schon sein Großvater getragen hat, so verschlissen sieht es aus. Ich mag seine Hände. »Da, wo all die anderen Leute rumstehen und sich wegen der schlechten Musik volllaufen lassen.«

»Jap.« Ich nicke langsam.

»Trotzdem sitzt du lieber hier draußen und frierst?«

»Wer sagt, dass ich friere?«

»Ich friere und das will schon was heißen. Abgesehen davon sind es … keine Ahnung, gerade mal fünf Grad, oder so.«

»Für solche Fälle wurden Kleidungsstücke mit langen Ärmeln erfunden«, erwidere ich mit einem Blick auf das kleine Krokodil auf seinem Poloshirt. »Pullover, Sweatshirts, Jacken. Kannst du gern mal googeln bei Gelegenheit. Gibt’s sicher auch von Lacoste.«

Er lacht, und ich kann die Überraschung, die in seiner Stimme mitschwingt, deutlich hören.

»Abgesehen davon würde ich sogar bei minus zehn Grad lieber hier draußen sitzen und mir sonst was abfrieren, als mir die Gehörgänge von diesem sogenannten DJ kaputt machen zu lassen.« Nur mit Mühe kann ich ein Würgen unterdrücken. Es gibt Typen, die am Mischpult wirklich was draufhaben, und Typen, die es sogar trotz mittelmäßigen Könnens zu einer Festanstellung in der Disco schaffen. Und dann gibt es Mister Whatever-you-want. »So viel Dummheit auf einem Punkt konzentriert … mich wundert es, dass sein Laptop noch funktioniert.«

»Manchmal ist die Technik eben stärker als das Gehirn, das sie bedient.« Typ Leuchtblau sieht aus, als würde ihm die Musik ebenso an die Substanz gehen wie mir, und tatsächlich, gleich darauf drückt er seine Schultern durch und seine Züge hellen sich auf. »Hey, ich geb dir zwanzig Euro, wenn du hingehst und dir wünschst, dass er aufhört. Nein, fünfzig.«

»Das hab ich schon versucht, leider ohne Erfolg.« Meine Mundwinkel zucken abfällig beim Gedanken an die Reaktion des DJs. »Entweder versteht der Gute unsere Sprache nicht oder sein Vokabular beschränkt sich auf ›Häh?!‹ und ›Süße, wünsch dir was!‹.«

Wieder dieses Lachen aus seinem Mund. Es hinterlässt flatternde Wärme in meiner Brust. Inzwischen ist es gar nicht mehr so schlimm, dass Jennifer sich verschanzt, um irgend so einem Kerl nicht zu begegnen, den sie mal abgeschossen hat.

»Du bist also auf einer Party und hockst lieber bei fünf Grad allein im Garten, als drinnen bei den anderen zu sein. Das kann eigentlich nur eins bedeuten.« Er macht eine künstlerische Pause, die ich damit verbringe, mein Lächeln wieder einzusammeln. »Stress mit deinem Lover.«

»Wow, gar nicht schlecht, Watson. Trotzdem knapp daneben.« Ich drehe den Kopf und schaue ihn an. Er hat helle Augen mit dichten, leicht geschwungenen Brauen, von denen eine abwartend nach oben gezogen ist. Seine Nase passt nahezu perfekt über die leicht geöffneten Lippen, als hätte jemand sie extra für sein Gesicht entworfen. Das Universum macht sogar einen verdammt guten Job. Eigentlich müsste ich Jen einen Kaffee ausgeben allein für diesen Anblick.

Ich kneife kurz die Lider zusammen. Das reicht jetzt … »Ehrlich gesagt, sitze ich bloß hier, weil meine Freundin sich in einem der zweihundert Gästezimmer versteckt hat, damit sie ihrem Ex aus dem Weg gehen kann. Allerdings ignoriert sie ihr Telefon, deshalb weiß ich nicht, in welchem Zimmer genau sie ist. Und meine Motivation, jede Tür einzeln zu öffnen, hat sich nach der dritten verabschiedet.«

»Verstehe.« Er nickt. »Außerdem würdest du bei zweihundert Zimmern über hundertachtzig knutschende Pärchen stolpern.«

»Oh ja. Ich kann mir nichts Aufregenderes vorstellen«, sage ich mit einem übertriebenen Seufzen.

»Verrucht.« Jetzt grinst er und seine Augen blitzen dabei auf wie kleine Leuchtfeuer. »Das gefällt mir.«

Bevor ich etwas darauf erwidern kann, wird die Haustür aufgerissen, und jemand kommt den Weg zur Terrasse entlang. Was wollen die nur alle bei dieser Kälte im Garten? Rauchen können sie doch auch drinnen. Ich reiße mich vom Anblick meines Banknachbarn los und beobachte, wie sich eine Gestalt aus der Dunkelheit schält.

»Captain?«, fragt der Kerl. Ich erkenne die Stimme, der war vorhin schon mit hier draußen.

»Cap? Du glaubst nicht, wer mir gerade über den Weg gelauuu…« Er stolpert über die Stufe, wedelt wie ein Irrer mit den Armen und fängt sich ähnlich unelegant wie sein Kumpel, der jetzt prustend neben mir sitzt. »Woah, Mann. Scheiße.«

Ich drehe langsam den Kopf zurück und betrachte den Jungen an meiner Seite. Captain. Interessante Wahl für einen Spitznamen. Er beißt in seine Faust, um sich das Lachen zu verkneifen. Als er meinen Blick bemerkt, sieht er mich an, hebt fragend die Brauen.

»Captain«, sagt das Mädchen und streicht sich eine pinke Strähne aus der Stirn. Ein neugieriges Lächeln liegt auf ihrem Gesicht und der kleine schwarze Ring an ihrer linken Augenbraue wackelt. »Hat das irgendeine Bedeutung?«

»Oh, das … ähm …« Na super. Lass dir irgendwas einfallen, Lucas. Was Gutes! »Nein.«

Ja. Genau an so was hatte ich gedacht. Idiot.

Ich mustere sie abwartend, betrachte ihr Gesicht, die kleine, spitze Nase. Währenddessen wirbelt Ben ein paarmal um die eigene Achse, bis er uns entdeckt.

»Hi!«, sagt er. »Sorry, ich dachte, du …«

»Wie heißt du?«, fragt das Mädchen weiter und kneift die Augen zusammen. Ihre Stimme ist so … Ich weiß nicht, sie gefällt mir. Und die Kleine hat Humor. Vielleicht gar nicht verkehrt, dass Suzie heute anderweitig beschäftigt ist.

»Lucas.«

»Lucas und wie noch?«

»Svensson.«

»Lucas Svensson. Der Captain.«

»The one and only«, platzt Ben erneut dazwischen. Ich hatte schon wieder vergessen, dass er da ist. »Sag bloß, du kennst das erste Gebot nicht?«, fragt er das Mädchen mit den pinkfarbenen Haaren, und mein Kopf zuckt alarmiert herum. Doch ehe ich etwas dagegen unternehmen kann, stemmt Ben die Hände in die Seiten und grölt: »Du sollst keinen anderen Captain haben neben ihm!«

»Ben«, knurre ich. Sonst macht es mir ja nicht unbedingt was aus, wenn er sich vor allem, was weiblich ist, irgendwie behaupten muss. So ist er eben. Das jetzt allerdings …

»Ja, mein Captain?« Er salutiert und kommt dann langsam auf uns zu. »Was kann ich für dich tun? Du weißt, ich stehe dir als Erster Offizier voll und ganz zur Seite.«

»Danke, gut zu wissen. Aber vielleicht unterstützt du mich einfach von drinnen. Da, wo all die anderen Leute sind.« Deutlicher kann ich ihm nicht sagen, dass er den Abflug machen soll. Sofort. Und tatsächlich, er hält inne. Sein Blick wandert von mir zu ihr, verharrt dort einen Moment und kehrt danach wieder zu mir zurück. Ich verenge die Augen zu winzigen Schlitzen. Keine Ahnung, ob er das erkennen kann.

»Tut mir leid, wenn ich euch störe«, sagt er.

Ich warte darauf, dass er sich in Luft auflöst, weggeht, verschwindet, doch das tut er nicht. Stattdessen steht er da und schaut uns an, immer im Wechsel.

»Du störst nicht«, erwidert das Mädchen neben mir schließlich, und mein Griff um die Wasserflasche wird fester. Läuft ja prächtig heute Abend, wirklich prächtig.

Ich lasse den Kopf sinken, murre: »Das sehe ich anders.« Aber Ben überhört es. Er tritt neben mich und klopft mir auf die Schulter.

»Ah, gut! Und ich dachte schon, ich muss schlechte Nachrichten überbringen.«

»Noch mehr schlechte Nachrichten?«, frage ich und versuche, mich irgendwie auf der Bank zu halten. Ich bin kurz davor, aufzustehen und Ben zurück ins Haus zu treten. Beste Freunde hin oder her.

»Ja. Ihr müsst das hier …«, er macht ein paar schnelle Kreise mit dem rechten Zeigefinger, »… leider verschieben. Wir gehen.«

»Ben«, sage ich drohend und richte mich kerzengerade auf. Das ist jetzt nicht sein Ernst. »Vergiss es, Mann. Du kannst von mir aus …«

Das Handy das Mädchens beginnt zu klingeln und ich fahre herum. Ich weiß nicht, ob sie vor meiner hektischen Bewegung erschrickt oder weil ihr Handy so plötzlich losgeht, aber sie zuckt zusammen und schaut mich mit ihren großen – riesengroßen – Augen an. Dann greift sie in ihre Jackentasche und holt das Telefon heraus. Nach einem Blick auf das Display springt sie auf, nimmt das Gespräch an.

»Jen, wo bist du?!«, ruft sie. Keine zwei Sekunden später ist sie bereits auf dem Weg zurück zum Haus. »Ich suche dich überall.«

Verfluchter Mist!

»Also, ich verstehe ja was anderes unter jemanden suchen«, brummt Ben, und mein Ellbogen zuckt reflexartig nach rechts, bohrt sich in seine Seite. Er stöhnt erschrocken auf.

»Aua!«, jammert er und krümmt sich theatralisch zusammen. »Das war unnötig. Musst du sie gleich mit unfairen Mitteln verteidigen?«

Ich sehe dem Mädchen nach, beobachte, wie sich das Licht in ihren knallpinken Haaren verfängt, als sie kurz den Kopf zu uns nach hinten dreht. Lächelt sie? Ich glaube schon. Neben der Tür bleibt sie stehen und hört zu, was Jen am anderen Ende ihr zu sagen hat.

»Los jetzt.« Ben zieht mich auf die Beine. »Wir sind hier fertig für heute.«

Meine Laune ist miserabel, als er mich hinter sich den Weg entlangzerrt, und er spürt es. Auf einmal hält er nämlich die Klappe, anstatt mich weiter vollzuquatschen.

Das Mädchen mit den pinken Haaren spricht jetzt in ihr Telefon. Ich bemühe mich zu verstehen, was sie sagt, doch bevor wir bei ihr ankommen, legt sie auf. Ich rechne fest damit, dass sie einfach ins Haus geht, und das war’s dann. Aber sie dreht sich um, wartet, bis wir neben ihr sind. Sie ist einen halben Kopf kleiner als ich.

»Lucas Svensson«, sagt sie. Ihre Augen leuchten.

Ich nicke und grinse sie an, obwohl ich mir total blöd dabei vorkomme. Sie kann das gern noch hundertmal wiederholen. Heute Abend oder morgen. Wann immer ihr danach ist.

»Den Namen werde ich mir merken, versprochen.« Damit dreht sie sich um, öffnet die Tür und verschwindet in der Menge.

Kapitel 2

Die Tür kracht ins Schloss und Ben legt mir mit einem bewundernden Pfiff den Arm um die Schultern.

»Nicht schlecht, Cap«, sagt er. »Auf einer Skala von 1 bis 10 ist die definitiv eine 8. Hast du ihre Beine gesehen? Die sind …«

»Nein, hab ich nicht!«, fahre ich ihn an und schüttele seinen Arm ab. »Weil mir nämlich irgend so ein Vollpfosten die Show vermasselt hat, bevor ich die Chance dazu hatte.«

Er reißt die Augen auf und deutet mit dem Daumen auf sich. »Sprichst du etwa von mir?«

»Warte, lass mich kurz nachdenken, wer da gerade eben … Ja, von dir!«

»Aber sie wäre doch sowieso gegangen!«

»Vielleicht ja nicht, wenn du deine ›schlechten Nachrichten‹ für dich behalten hättest. Sie wusste, dass du abhauen wolltest. Schon mal darüber nachgedacht, dass sie bloß deswegen ans Telefon ist, Blödmann?«

Er hebt die Hände, setzt zu einer Antwort an – und überlegt es sich anders. Mit einem Seufzen schlägt er seine Fäuste aufeinander. »Nein.«

»Natürlich nicht.« Ich schaue durch das Glas der Terrassentür nach drinnen, aber da sind nirgends pinkfarbene Haare zu sehen. »Im Moment bastele ich ernsthaft an einem Plan, deine gesamte Familie einbuchten zu lassen, Köster. Zuerst muss dein bekloppter Cousin ausgerechnet heute seine Freundin absägen und dann vergisst du dein Hirn da drinnen bei der kleinen Blonden und versaust mir die Sache mit … mit …«

Ich weiß ihren Namen nicht. Ich hab völlig vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen! Dieser Abend ist eine absolute Katastrophe.

»Mit?«, fragt Ben.

»Keine Ahnung, Mann!«

Einen Moment lang stehen wir bloß da, ich trotz der Kälte dampfend vor Wut und Ben mit einem verlegenen Ausdruck im Gesicht. Ich muss etwas tun, um mich abzuregen, also werfe ich die Wasserflasche über meine Schulter und höre zu, wie sie mit einem Klirren in mindestens achthundert Einzelteile zerschellt. Viel Spaß beim Aufsammeln.

Ben verzieht den Mund. Ich kann förmlich sehen, wie sich die Gedanken durch seinen Kopf quälen.

»Auf unserer Schule ist sie jedenfalls nicht«, sagt er schließlich. »Die wäre mir sicher schon mal aufgefallen.«

»Danke für diese überaus hilfreiche Information.«

»Ich sag ja, ich stehe dir jederzeit zur Seite.« Ein verhaltenes Grinsen erscheint auf seinem Gesicht, und ich kann nichts tun, es springt einfach auf mich über. Kurz kämpfe ich dagegen an, aber eine Sekunde später gebe ich nach. Ich muss so sehr lachen, dass ich einen Hustenanfall bekomme, und Ben klopft mir wie ein Stier auf den Rücken, bis es wieder geht.

»Lass uns abhauen«, sagt er.

»Wieso eigentlich?«, frage ich nach Luft schnappend. »Was ist mit Sarah?«

»Die versucht, den Badteppich von Binas Mageninhalt zu befreien. Und Suzie die Party von Bina. Glaub mir, wir sind durch für heute.«

»Ach, komm. Du schleppst mich her und willst nach einer Stunde schon wieder abhauen?« Und mir damit die Chance nehmen, das Mädchen mit den pinkfarbenen Haaren noch mal zu treffen?

»Allerdings. Genug kotzende und kreischende Ladys für einen Abend. Außerdem muss ich morgen früh raus.«

»Dafür bist du mir was schuldig, das ist dir bewusst, oder?«

»Ja, ja. Was auch immer.« Er dreht sich um, öffnet die Tür. Die Musik ist sogar noch schlechter geworden und mittlerweile stapeln sich die Leute schon hier im Gang wie Chips in der Dose.

»Fangen wir damit an, dass du meine Jacke mitbringst«, schlage ich vor und deute zur Seite. »Ich gehe nämlich außen rum.«

Ben kämpft sich mit einem Stöhnen durch die Menge, während ich nach einer anderen Möglichkeit suche, zu meinem Motorrad zu gelangen. Dabei werfe ich einen Blick durch jedes der riesigen Bodenfenster, an denen ich vorbeikomme. Ohne Erfolg, die pinken Haare bleiben verschwunden.

Rechts vom Haus führt eine Hecke bis nach vorne zur Straße, doch die schließt direkt an der Hauswand ab und ist so hoch, dass ich nicht drübersteigen kann. Blöde Snobs. Haben wohl Angst, dass ihnen jemand die Schöner-Wohnen-Möbel aus dem Garten schleppt. Auf der linken Seite haben sie wenigstens ein Gartentor angebracht. Das ist zwar abgeschlossen, aber meine Füße passen perfekt in die kleinen, runden Ornamente, mit denen das Tor verziert ist. Ich klettere an ihnen nach oben und lasse mich auf der anderen Seite wieder runter.

Colin steht ein paar Meter weiter auf der Straße und raucht. Ich will nicht mit ihm sprechen, also nicke ich ihm bloß im Vorbeigehen zu, während ich zu meiner Maschine laufe. Keine fünf Sekunden später reißt Ben bereits die Haustür auf. Er joggt über den Rasen zu mir herüber und wirft mir meine Jacke zu.

»Wen hast du vorhin eigentlich getroffen, dass du mir so dringend davon erzählen musstest?«, frage ich.

»Hm?« Er zieht die Stirn kraus.

»Du bist in den Garten gestürmt und hast gesagt, du wärst irgendwem über den Weg gelaufen …«

»Ach so, ja. Erinnerst du dich an die zwei Mädels von der Abifeier letztes Jahr?«

»Dunkel«, erwidere ich. An dem Abend hatte ich mehr als nur einen im Tee. Ben und ich haben die Feier nämlich genutzt, um uns noch mal richtig auszutoben, bevor er mit seinen Eltern für drei Wochen nach Kreta fliegen sollte. Es war das letzte Mal, dass die Familie Köster irgendwo zusammen hingefahren ist. Einen Monat später hat Bens Mutter die Scheidung eingereicht.

»Die Zwillinge. Hanna und Emily.« Ben steigt auf seine Honda und greift nach dem Helm, der am Lenker hängt. Wir fahren die gleiche Maschine, nur ist seine zwei Jahre älter als meine und blau statt schwarz.

»Richtig …«, sage ich. »So langsam dämmert es.«

»Gut! Du bist nämlich mit einer von ihnen im Bett gelandet, wie ich vorhin erfahren durfte.«

»Oh, ja. Daran erinnere ich mich tatsächlich.« Ich verzerre das Gesicht beim Gedanken daran. »War keiner meiner Glanzmomente, fürchte ich.«

Ben schüttelt lachend den Kopf. »Ich will es gar nicht genau wissen«, sagt er. »Aber so schlimm kann es nicht gewesen sein.«

»Nein?« Ich setze meinen Helm auf und öffne das Visier. Trotzdem muss ich lauter sprechen, damit Ben mich noch verstehen kann. »Und wie kommst du darauf?«

Er kramt einen Zettel aus der Hosentasche, wedelt triumphierend damit herum. »Ich hab ihre Nummern. Wir sollen anrufen, wenn wir mal wieder unterwegs sind.«

Einen Augenblick lang muss ich an das Mädchen mit den pinken Haaren denken und daran, dass ich von ihr nicht mal den Namen weiß. Und Ben ist schuld. Dann zwinge ich ein Lächeln auf meine Lippen. »Sehr gut. Können wir ja mal im Auge behalten.«

»Sollten wir. Allerdings hat Emily gemeint, wenn du das nächste Mal ohne ein Wort abhaust, reißt sie dir die Kronjuwelen ab.«

Als er meinen Blick bemerkt, verzieht Ben den Mund zu einem breiten Grinsen. Dann setzt er den Helm auf und startet seine Maschine.