Die Hand des Toten

Inhaltsverzeichnis
1. Am Morgen der Hinrichtung
2. Die Hinrichtung
3. Der dunkle Punkt
4. Auf Leben und Tod
5. Die Toten stehen auf

1. Kapitel
Am Morgen der Hinrichtung

Inhaltsverzeichnis

Die Uhr im Verwaltungsgebäude des Staatsgefängnisses in Neuyork schlug mit langsamen Schlagen die achte Morgenstunde. Draußen vor den hohen Fenstern lag ein dicker, bräunlicher Frühjahrsnebel. Es war ein unfreundlicher, naßkalter Aprilmorgen, und die sechs Herren, die soeben mit einem Auto eingetroffen waren und die Vorhalle betreten hatten, hüllten sich fester in ihre Mäntel.

Einer der Herren, der bekannte vielfache Millionär John Colling, gleichzeitig Senator des Staatsparlaments, sagte leise zu dem Oberrichter Macdal, mit dem er etwas abseits stand:

„Wissen Sie, Macdal, ich bringe wirklich ein großes Opfer, wenn ich der Hinrichtung meines früheren Privatsekretärs heute beiwohne. Pratt war mir stets sehr sympathisch als Mensch, und ich hätte es ihm nie zugetraut, daß er meinen Hausmeister Murphy nur deshalb ermorden würde, um seine kleinen Diebereien zu verheimlichen.“

John Colling starrte mit gerunzelter Stirn zu Boden, während er diese Sätze in seiner bedächtigen Art flüsternd sprach. Er war ein stattlicher Mann, dieser Colling, und sein bartloses, echt amerikanisches Gesicht mit dem stark vorgebauten Kinn und den dünnen Lippen verriet brutale Energie und überlegene Klugheit.

Oberrichter Macdal nickte zerstreut und meinte:

„Wer doch jetzt so in der Seele dieses sonderbaren Menschen lesen könnte, der nun nach einer Stunde die Schwelle des Jenseits überschritten haben wird! Weiß Gott, Colling, manchmal möchte ich mein Amt von mir werfen! Ich werde eben den Gedanken nicht los, daß Pratt unschuldig ist. Wenn er doch nur ein Geständnis abgelegt hätte! Aber noch gestern abend, als ich ihm mitteilte, daß er heute früh neun Uhr den elektrischen Hinrichtungsstuhl besteigen müsse, beteuerte er in seiner wortkargen Art seine Unschuld. Vielleicht vermag ihn sein Bruder James Pratt, dem ich die Erlaubnis erteilt habe, den Delinquenten heute früh zu besuchen, zu einem Geständnis zu bewegen.“

„Dann ist James Pratt wohl erst gestern von England eingetroffen?“ fragte Colling und schob den Zylinder mehr aus der Stirn.

„Nicht aus England – aus Südafrika, aus den Diamantminen, wo ihn die Nachricht von seines Bruders Verurteilung so spät erreichte. Er langte nachts mit dem Dampfer Aquitania hier im Hafen an und kam sofort zu mir. Ich konnte ihm die Erlaubnis, seinen Bruder noch zu sprechen, nicht verweigern.“

Colling blickte den Oberrichter zerstreut an.

„Das stimmt, Macdal, – das konnten Sie nicht. Dem armen Kerl, dem Nic, wird das Sterben nun vielleicht weniger schwer werden, nachdem er von seinem einzigen näheren Verwandten Abschied genommen hat.“

„Oh – Sie unterschätzen Nic Pratt!“ sagte der Oberrichter lebhafter. „Ein Mann von Nic Pratts Eigenart verlacht den Tod. Es ist wirklich jammerschade um diesen Menschen! Ein so intelligenter Kopf, ein so vielseitiger, praktischer Mann! Und – so jung! Erst achtundzwanzig Jahre!“

Der Gruppe der Herren näherte sich jetzt der Gefängnisdirektor. Mr. Tompkins, begrüßte Macdal und Colling und bat, sie möchten sich doch in das Vorzimmer des Hinrichtungsraumes begeben.

Während die Herren über den Hof dem Hauptgebäude zuschritten, fragte der Oberrichter den Direktor, ob James Pratt noch in der Zelle des Verurteilten weile.

Tompkins bejahte und fügte hinzu: „Ich brachte Mr. James Pratt persönlich zu dem Delinquenten. Er bat mich, den Wärter hinauszuschicken, da er mit seinem Bruder noch Familienangelegenheiten zu besprechen hätte. Der Wärter beobachtet die beiden durch das Guckloch der Zellentür.“

„Es ist gut,“ meinte Macdal nur. –

Inzwischen saßen in der kleinen Zelle neben dem Hinrichtungsraume, in der die zum Tode Verurteilten stets für die letzte Nacht untergebracht wurden, die beiden Brüder Pratt in leisem, hastigem Gespräch.

Nic Pratt, der angebliche Mörder des Hausmeisters Murphy, war ein schlanker, bartloser Mann mit blassem, düsterem Gesicht. Er trug die gestreifte Anstaltskleidung.

Sein Bruder James hätte ihm völlig ähnlich gesehen, wenn der Ingenieur Pratt ebenfalls bartlos gewesen wäre. Schon in der Jugend hatten die Brüder leicht miteinander verwechselt werden können, und diese Ähnlichkeit war mit den Jahren immer größer geworden.

Wie innig das Verhältnis zwischen ihnen war, ging schon daraus hervor, daß James auch nicht einen Augenblick an Nics Schuldlosigkeit gezweifelt und dann auch die weite Reise von Südafrika nicht gescheut hatte, um das Schicksal des Bruders womöglich noch zu ändern.

Als James gestern in Neuyork eingetroffen war, hatte er sich zunächst zu Frau Allison, der Besitzerin eines kleinen Papierladens, begeben, bei der Nic seit fünf Jahren gewohnt hatte.

Die brave Frau Allison liebte Nic wie ihren eigenen Sohn. Vor Gericht hatte sie ihm das allerbeste Zeugnis ausgestellt und immer wieder beteuert, Nic sei in der Nacht vom 17. zum 18. Februar, als Murphy ermordet wurde, bestimmt zu Hause gewesen. Man hatte ihr jedoch vorgehalten, daß sie dies gar nicht wissen könnte, da sie ja selbst geschlafen hätte. Ihr Einwand, sie habe einen sehr leisen Schlaf und würde gehört haben, wenn Nic sich nachts aus der Wohnung entfernt hätte, vermochte die anderen gegen Nic sprechenden Beweise nicht zu entkräften.

James hatte bei Frau Allison einen Brief Nics vorgefunden, eine Art Abschiedsbrief, den Nic aus dem Gefängnis mit Erlaubnis des Direktors geschrieben hatte.

Um diesen drehte sich jetzt die leise Unterhaltung zwischen den Brüdern.

„Ich habe natürlich sofort gemerkt,“ erklärte James, „daß Dein Brief einen doppelten Wortlaut hatte, lieber Nic. Und als ich dann jedes sechste Wort gelesen und festgestellt hatte, daß es nur die eine Möglichkeit gäbe, Dich zu retten, habe ich auch genau nach Deinen Anweisungen gehandelt. Mein blonder Spitzbart ist falsch, mein blonder Scheitel eine Perücke, und hier unter dem langen Gummimantel trage ich genau dieselbe Anstaltskleidung wie Du. Nur ein paar dunkle Beinkleider habe ich übergestreift. Ich bin also in allem bereit.“

Nic Pratt schaute nach der Tür flüchtig hin.

„Ich danke Dir, James,“ meinte er herzlich. „Ich weiß, daß ich den Mörder Murphys ermitteln werde, wenn ich nur erst frei bin. Du kennst ja meine Vorliebe für seltsame Vorgänge und deren Enträtselung. Dir kann nichts geschehen, wenn Du mir zur Flucht verhilfst. Du wirst lediglich so lange eingesperrt bleiben, bis der wahre Mörder von mir entdeckt ist. Alles kommt nun darauf an, daß wir den Wärter, der uns durch das Guckloch beobachtet, für ein paar Minuten entfernen. Auch dies wird hoffentlich gelingen. Geh’ jetzt zur Tür und sage dem Wärter, er solle rasch Papier, Tinte und Feder holen. Es sei Dir geglückt, mich zu einem Geständnis zu bewegen; er solle nur recht schnell das Schreibmaterial herbeischaffen, bevor ich wieder vielleicht meine Absicht geändert hätte. Außerdem dürfe er keinen der anderen Beamten herbeirufen, sondern solle erst kurz vor der Hinrichtung dem Oberrichter das Schriftstück aushändigen. Ich hoffe, der Beamte wird keinerlei Argwohn schöpfen. Er kennt mich ja als einen harmlosen, stets gehorsamen Gefangenen.“

James Pratt erhob sich sofort, ging zur Tür, rief den Wärter an und flüsterte ihm alles das zu, was Nic in jeder Einzelheit schlau berechnet hatte.

Der Wärter stutzte. „Wie – Nic Pratt also wirklich schuldig?!“ meinte er ungläubig. „Oh – das hätte ich nicht gedacht! – Gut – ich hole alles Nötige. In zwei Minuten bin ich wieder da –“

Er eilte den Flur entlang in das nächste Bürozimmer, griff hastig nach einem Bogen Papier, einem Tintenfaß und Federhalter und betrat nun damit die Mörderzelle, schloß hinter sich ab und sagte zu dem Delinquenten:

„So, Pratt, hier haben Sie Schreibmaterial –“

Nic Pratt stand am Fenster mit dem Rücken nach der Zelle hin und lachte nur ironisch auf.

„Ach – er hat sich’s wieder anders überlegt,“ sagte da der Ingenieur Pratt mit gedämpfter Stimme zu dem enttäuschten Wärter. „Er wollte, daß ich ihm mein Taschenmesser gab. Er hatte nur die Absicht, Selbstmord zu begehen. Bitte – lassen Sie mich hinaus! Nic und ich scheiden wie Fremde! Ich hielt ihn für schuldlos! Er ist es nicht – er ist Murphys Mörder!“

Der Wärter war so sprachlos, daß er gar nicht recht zur Besinnung kam, läutete nach einem Kollegen und befahl diesem, den Ingenieur auf die Straße zu geleiten.

Als James Pratt und der Gefängniswärter die Treppe hinabstiegen, kamen ihnen die sechs Herren und Direktor Tompkins entgegen.

Hier im Halbdunkel des Treppenhauses zog der Ingenieur jetzt ein Taschentuch und drückte es gegen die Augen.

Tompkins erkannte ihn, blieb stehen.

„Ah, Master Pratt, der Besuch ist schon beendet?“ fragte er.

Pratt schlug das Herz vor Erregung so laut und schnell, daß ihm das Blut in den Ohren summte.

Er erwiderte nichts, schluchzte nur leise auf, machte eine trostlose Handbewegung, zog den Hut und schritt weiter.

„Das war James Pratt,“ sagte der Oberrichter zu Senator Colling. „Der arme Mensch schien furchtbar erschüttert zu sein. Kein Wunder! So ein Abschied auf Nimmerwiedersehen muß jedem an die Nerven gehen!“

James Pratt gelangte wohlbehalten auf die Straße, stieg in das nächste Auto und fuhr dem Innern der Stadt zu.

2. Kapitel
Die Hinrichtung

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Oberrichter Macdal sah nach der Uhr.

„Tompkins, es ist Zeit,“ sagte er und holte tief Atem.

Der Gefängnisdirektor ließ nun den Delinquenten vorführen.

Zwischen zwei Aufsehern, hinterher der Gefängnisgeistliche, – so betrat Nic Pratt straff und aufrecht das Vorzimmer des Hinrichtungsraumes.

Die sechs Zeugen, darunter Senator Colling, betrachteten den schlanken Mann nicht ohne Mitgefühl.

Die üblichen Formalitäten begannen. Macdal las das Todesurteil vor und fragte dann den Delinquenten, ob er noch etwas zu erklären hätte.

„Noch nicht,“ sagte Nic Pratt ganz leise. „Erst wenn man mich auf den Stuhl geschnallt hat, werde ich etwas zu Protokoll geben. Besorgen Sie also einen Protokollführer, Master Macdal.“

„Ah – ein Geständnis?!“ rief der Oberrichter. „Weshalb nicht hier – weshalb nicht sofort?“

„Ich habe meine Gründe. Ich will Zeit gewinnen,“ flüsterte Nic Pratt dumpf. „Jede Sekunde ist kostbar. Man muß sein Leben verlängern, wenn man es kann. Und wenn ich erst in letzter Sekunde reden will, müssen Sie mich anhören!“

„Das ist richtig,“ meinte Macdal. „Diese letzte Sekunde ist sofort da! Man bringe den Delinquenten auf den Stuhl!“

Die Tür zum Hinrichtungsraum flog auf.

Festen Schrittes betrat Nic Pratt das kahle Zimmer mit den beiden dicht verhängten Fenstern.

Nur in der Mitte stand ein großer Sessel mit Arm- und Rücklehnen, mit Riemen und einer Fußbank, auf die oben eine Kupferplatte geschraubt war.

Einer der Aufseher streifte dem Delinquenten die Schuhe und Strümpfe ab. Denn mit nackten Sohlen muß der Todeskandidat die kupferne Platte berühren, damit der elektrische Strom ungehindert den Körper durchdringe.

Nic Pratt setzte sich auf den Stuhl.

Im Nu hatte man ihm Arme, Beine und Kopf festgeschnallt, hatte auf den kahlgeschorenen Scheitel die kupferne Haube gedrückt, von der die Drähte ins Nebenzimmer liefen, wo sich der Kontakt auf einem Tische befand. Ein Druck auf diesen Kontakt, und der Strom von 800 Volt Stärke durchfloß den Körper des Verurteilten, der durch den elektrischen Schlag blitzartig getötet wurde.

Der Protokollführer und der Oberrichter traten jetzt an den Stuhl heran.

Die Zeugen und die Aufseher starrten mit bleichen Gesichtern auf Nic Pratt, über dem eine einzige elektrische Lampe brannte und sein schmales Antlitz hell bestrahlte.

Seltsam: der Delinquent lächelte plötzlich!

„Er – er hat den Verstand verloren!“ rief der Oberrichter entsetzt.

„Durchaus nicht,“ sagte Pratt gelassen. „Ich habe guten Grund zum Lächeln. Master Macdal, ich will nun also mein Geständnis zu Protokoll geben. Hören Sie gut hin –“

Eine kleine Pause.

Dann:

„Ich – bin gar nicht Nic Pratt, sondern der Ingenieur James Pratt!“

Tiefe Stille.

Nun Macdals Ruf:

„Ja – er hat den Verstand verloren!“

„Keineswegs!“ erklärte James Pratt. „Die Sache ist sehr einfach. Nic und ich hatten alles vorbereitet. Mein Bart, mein Scheitel waren falsch. Unter dem Gummimantel trug ich Sträflingskleidung. Wir entfernten den Wärter, tauschten schnell Bart, Perücke, Mantel, Beinkleider aus, und Nic verließ als James die Zelle. Daß ich wirklich James Pratt bin, können Sie leicht feststellen. Ich habe hinter dem linken Ohr ein Muttermal, das Nic fehlt.“

Macdal rang nach Luft, stammelte:

„Ja – jetzt sehe ich’s. Sie sind nicht Nic Pratt! Die Ähnlichkeit ist groß. Aber Ihr Gesicht ist voller als das Ihres Bruders!“

Dann hatte er sich schon gefaßt, fügte streng hinzu:

„Master James Pratt, im Namen des Gesetzes: ich verhafte Sie wegen Gefangenenbefreiung.“