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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Die Sichtverhältnisse in jener ereignisreichen Märznacht waren wechselhaft. Mal tauchte der Mond die kabbelige Wasserfläche der Ostsee in milchiges Licht, mal verschwand er hinter Wolkenfetzen, die wie schwarze Leichentücher an ihm vorüberzogen.

Die große Galeasse, die sich wie ein Ungetüm aus grauer Vorzeit aus den Dunstschwaden schälte, schoß mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit durch das Wasser. Das Stundenglas war erst einmal abgelaufen, seit das einstige Flaggschiff einer stolzen Russen-Armada den Schauplatz der blutigen Kämpfe an der Nordbucht der Insel Kotka verlassen hatte.

Jetzt befand es sich auf Fluchtkurs nach Osten, vorangetrieben von den Riemenschlägen der Rudermannschaft und dem Wind, der die beiden Lateinersegel füllte.

Der Gefechtslärm hatte bereits merklich nachgelassen. Das Krachen der Schüsse vermischte sich immer seltener mit dem Heulen des Windes und dem Rauschen der See. Dafür trat das rhythmische Trommeln stärker hervor, durch das den Ruderknechten der Takt vorgegeben wurde. Es überlagerte in dumpfer Monotonie das eiskalte Wasser des Finnischen Meerbusens.

Obwohl schon in wenigen Wochen der Frühling heraufziehen würde, erinnerte jetzt, in der zweiten Märzhälfte des Jahres 1593, noch nichts an ihn. Die kalten Stürme, die alle paar Tage über die südöstlichen Küstengebiete Finnlands hinwegfegten, hatten noch nichts von ihrer wilden Zügellosigkeit verloren.

Auch in dieser Nacht war die Luft von beißender Kälte erfüllt, wie fast immer zu dieser Jahreszeit.

Die Schiffslaternen hatte man wohlweislich nicht angezündet, dafür aber erhellte der Mond zeitweise die gespenstische Szene, die sich an Bord der russischen Galeasse abspielte.

Das harte, kantige Gesicht Semion Marineskos wirkte kalt und erbarmungslos. Die wuchtige Gestalt des Generalkapitäns, der bei dem Versuch, die Insel Kotka zu besetzen, auch noch den Rest seiner Flotte verloren hatte, stand reglos wie ein steinernes Denkmal auf den Planken. Der warme Mantel aus Pelzen, den er über seiner Uniform trug, verlieh ihm das Aussehen eines nordischen Bären. Der stechende Blick seiner grauen Augen war auf den bärtigen Mann gerichtet, den man mit gefesselten Händen zur Gräting führte.

Für einen Moment begegneten sich die Blicke der beiden Männer, doch sie drückten nur gnadenlose Härte auf der einen und Haß, Hilflosigkeit und Verzweiflung auf der anderen Seite aus.

Je näher der Gefesselte der Gräting kam, desto langsamer und schleppender wurden seine Schritte – bis ihm einer der Soldaten brutal den Kolben seiner Muskete zwischen die Schulterblätter stieß. Der Mann taumelte mit schmerzverzerrtem Gesicht weiter. Der harte Stoß hatte ihn daran erinnert, daß niemand der Wut und der Rachsucht des allmächtigen Generalkapitäns entgehen konnte.

„Hängt den Feigling an die Rah!“ Die Stimme Marineskos klang rauh und unerbittlich. „Feigheit vor dem Feind muß bestraft werden“, fuhr er fort. „Dieser Mann hat sich geweigert, meine Befehle auszuführen, weil er Angst vor den Schweden und diesen verdammten Engländern hatte. Deshalb wird er die Strafe in Kauf nehmen, die Feiglingen und Verrätern gebührt!“

Die Gesichter der beiden Männer, die links und rechts des Generalkapitäns standen, wirkten starr und ausdruckslos wie Masken. Bei dem hageren Mann mit den dunklen Augen und dem spitzen Kinn handelte es sich um Oberst Gregori Kozlow, seines Zeichens Adjutant des Verbandsführers und Kommandant der Seesoldaten, der andere war Nikolai Deschnew, der Kapitän des Flaggschiffs.

Eigentlich wäre es die Aufgabe des braunhaarigen, etwas fülligen Deschnew gewesen, für die Verurteilung und Bestrafung seines zweiten Rudergängers zu sorgen, denn er war für die Seemanschaft, die Manöver und Artillerie zuständig. Aber um solche Zuständigkeiten scherte sich Semion Marinesko einen Dreck, wenn es darum ging, seine ohnmächtige Wut über die erlittenen Niederlagen abzureagieren. Und niemand hätte gewagt, ihm zu widersprechen.

Die Wangenmuskeln des Generalkapitäns zuckten. Seine Lippen preßten sich zu schmalen Strichen zusammen.

Der bärtige Rudergänger stand nun auf der Gräting, seine dunklen Augen flackerten. Man sah ihm an, daß er dem Verbandsführer am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre, wenn er eine Möglichkeit dazu gehabt hätte. Aber Marinesko ließ ihm keine Chance, nicht einmal die einer Verhandlung vor dem Bordgericht.

„Auf was wartet ihr noch?“ fragte er mit schneidender Stimme. „Der Kerl hat kein Recht, den nächsten Tag zu erleben! Das Urteil wird sofort vollstreckt!“ Er warf den beiden Seesoldaten, die den Delinquenten zur Gräting geführt hatten, zornige Blicke zu.

Die beiden zuckten wie unter Peitschenhieben zusammen und beeilten sich, den Befehl des Generalkapitäns, in dessen Händen das Oberkommando lag, auszuführen. Rasch ergriff einer von ihnen das herbeigebrachte Tau und legte dem Gefesselten die Schlinge um den Hals. Der andere enterte zum Mast auf und zog das Tauende über die schräggestellte Rah – die „Rute“, an der das dreieckige Segel gefahren wurde. Sein Kamerad fing es unten auf.

Alle Vorbereitungen für die Hinrichtung waren getroffen. Die beiden Soldaten warteten in hündischer Ergebenheit auf das Zeichen Marineskos.

Sie brauchten nicht lange zu warten.

Nachdem sich der Generalkapitän vergewissert hatte, daß jeder Mann an Bord, der nicht unbedingt als Rudergast oder zum Trimmen der Segel benötigt wurde, der schaurigen Szene beiwohnte, vollführte er eine entsprechende Handbewegung.

Die Soldaten walteten ihres Amtes.

Der Todeskampf des Rudergängers dauerte nicht lange, sein lebloser Körper schwang über der Gräting hin und her wie eine Glocke im Kirchturmgebälk.

Über das Deck der Galeasse hatte sich eine eigentümliche Stille ausgebreitet, die nur von den monotonen Trommelschlägen unterbrochen wurde. Wohin man sah, erblickte man verschlossene, unbewegliche Gesichter, denn jeder wußte, daß er der Nächste sein konnte, falls er den Zorn Marineskos in irgendeiner Weise erregte. Dazu genügte oftmals nur eine belanglose Kleinigkeit.

„Prägt euch das Bild des Feiglings gut ein!“ Marineskos Stimme dröhnte über das Deck. „Und nun schert euch weg! Es gibt genug zu tun an Bord!“

Zu Deschnew und Kozlow gewandt, sagte er: „Der Kerl bleibt noch bis zum Ablauf eines Stundenglases hängen, damit niemand vergißt, was von ihm erwartet wird.“

Für Semion Marinesko war die Angelegenheit erledigt. Mit wuchtigen Schritten verholte er sich in Begleitung Kozlows und Deschnews nach achtern, um mit einem Spektiv die Kimm abzutasten.

„Wir werden diesen Kurs nicht fortsetzen“, sagte er nach einer Weile des Schweigens und nahm das Fernrohr von den Augen. „Schließlich laufen wir nicht wie räudige Hunde davon.“

Die beiden Männer horchten auf.

„Was haben Sie vor, Generalkapitän?“ fragte Kozlow. „Unser Rückzug war taktisch gesehen die einzig richtige Entscheidung.“ Der hagere Mann konnte seine Verwunderung nur schwer verbergen.

Über Marineskos Gesicht huschte ein schwaches Grinsen.

„Natürlich war diese Entscheidung richtig. Wären wir nicht aus taktischen Gründen nach Osten abgelaufen, um der Galeone dieser Engländer zu entgehen, dann wären wir nicht besser als der da.“ Er deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die schlaffe Gestalt, die sich im Rhythmus der Schiffsbewegungen über der Gräting hin und her bewegte. „Oder haben Sie etwa auch die Hosen voll, mein lieber Kozlow?“

Der hagere Oberst lachte gequält. Gleichzeitig fühlte er, wie ihm trotz der nordischen Kälte heiß wurde.

„Sie haben immer einen treffenden Scherz auf Lager, Generalkapitän“, stieß er eilig hervor. „Sie kennen meine Einstellung sehr genau und wissen, daß ich noch keinen Feind gescheut habe. Selbstverständlich bin ich jederzeit bereit, mich Ihren Entscheidungen unterzuordnen. Nur bin ich natürlich sehr daran interessiert, welche Pläne Sie verfolgen.“

„Das klingt schon besser“, sagte Marinesko. Er war ein schlauer Fuchs und dabei der Typ eines „Eisenfressers“. Er wußte, wie er seine Leute anzupacken hatte. „Selbstverständlich war unser Rückzug von Anfang an kein endgültiger Rückzug“, fuhr er fort. „Wir mußten diesen dreimal verfluchten Engländern, denen wir die Niederlage bei Kotka zu verdanken haben, lediglich ausweichen, um unsere zukünftige Strategie festzulegen. Und genau das habe ich getan, meine Herren! Unser Schiff ist voll gefechtsklar, durch die Aufnahme von Schiffbrüchigen haben wir auch genügend Leute an Bord. Demnach sind wir durchaus in der Lage, kräftige Hiebe auszuteilen.“

„Das sind wir“, pflichtete ihm der etwas verschlagen wirkende Deschnew bei, obwohl er eher vom Gegenteil überzeugt war. Aber diese Meinung durfte er keinesfalls durchblicken lassen. „Ich bin gespannt auf Ihre Weisungen, Generalkapitän“, fügte er kriecherisch hinzu.

Vor seinem inneren Auge zogen jedoch Bilder von den heftigen Gefechten vorüber, die die Schweden ihrem Verband von ursprünglich mehr als dreißig Galeeren und Galeassen geliefert hatten. Und dann waren noch diese Engländer aufgetaucht, die unter dem Kommando von Philip Hasard Killigrew standen. Diese Teufel waren es gewesen, die den Kampfhandlungen die entscheidende Wende gegeben hatten.

Er, Nikolai Deschnew, hatte längst eingesehen, daß es ein schwerwiegender Fehler gewesen war, die Engländer, die mit ihrer großen Galeone nichtsahnend in das Kommandounternehmen hineingeplatzt waren, „internieren“ zu wollen. Die Burschen waren schlau genug gewesen, die wahren Absichten der russischen Kriegsflotte zu durchschauen.

Ja, sie hatten sehr schnell begriffen, daß man sie und ihr gutarmiertes Schiff kriegerischen Zwecken hatte zuführen wollen. Deshalb hatten sie sich auch auf die Seite der Schweden geschlagen und diesen bei der Rückeroberung von Kotka geholfen. Im Grunde wären diese Engländer sicherlich unparteiisch gewesen, aber indem man sie in die Sache hineinzog, verbrannte man sich sozusagen ordentlich die Finger an ihnen.

Nikolai Deschnew hütete sich, etwas von diesen Überlegungen verlauten zu lassen. Er war vielmehr darauf gespannt, was sich Semion Marinesko ausgedacht hatte. Rechnete er sich wirklich noch Chancen aus, den Schweden oder gar den Engländern eine vernichtende Schlappe bereiten zu können? Und das nur mit einer einzigen Galeasse? Deschnew fröstelte und sah den rachsüchtigen Generalkapitän fragend an.

Dieser räusperte sich nachhaltig und verschränkte die Arme über der Brust.

„Die Schweden haben die Nordbucht von Kotka von Süden her angegriffen“, sagte er. „Und das läßt darauf schließen, daß sie irgendwo an der Südküste der Insel gelandet sind. Demnach müssen sich ihre Galeeren logischerweise noch dort befinden, höchstwahrscheinlich sogar unter sehr schwacher Bewachung. Wenn wir sie aufspüren und dabei den Überraschungseffekt für uns nutzen, können wir die Schiffe mit unseren Kanonen in Stücke schießen, ohne uns dabei einer besonderen Gefahr auszusetzen. Für die Schweden jedoch wäre die Vernichtung ihrer Galeeren eine empfindliche Schlappe.“

„Das ist ein ausgezeichneter Plan“, sagte Gregori Kozlow und rieb sich nachdenklich das Kinn.

„Ja, wirklich hervorragend“, erklärte Nikolai Deschnew. „Nur …“

„Nur?“ fragte Marinesko und zog die dichten Augenbrauen zusammen.

„Nun – äh – ich überlege gerade“, sagte Deschnew, „was aus unseren drei Posten geworden ist, die wir an der Südwestküste zurückgelassen hatten, damit sie feindliche Annäherungen von Osten, Süden oder Westen melden. Wenn wir tatsächlich schwedische Schiffe dort vorfinden, dann müssen unsere Posten entweder überrumpelt worden sein, oder aber die Kerle haben geschlafen. Ich kann mich jedenfalls nicht entsinnen, daß sie uns die Ankunft der Schweden gemeldet haben.“

„So ist es, mein lieber Deschnew“, sagte Marinesko. „Wie dem auch sei – wir können die Ereignisse jetzt nicht mehr ändern. Aber wenn unsere Posten tatsächlich geschlafen haben, dann Gnade ihnen Gott!“

Augenblicke später ließ Semion Marinesko den Kurs ändern. Die Galeasse lief daraufhin an der Ostküste von Kotka südwärts.

Durch ständige Anweisungen an Nikolai Deschnew, den Kapitän der Galeasse, sorgte der Generalkapitän dafür, daß die Segel ständig nachgetrimmt und die Ruderknechte mit harten Zurufen zu höchster Eile angetrieben wurden, obwohl es sich bei ihnen nicht um Sklaven, sondern um reguläre Besatzungsmitglieder handelte. Teilweise wurden sie durch ausgeruhtere Kräfte ersetzt.

Wegen ihres geringen Tiefgangs gelangte die Galeasse rascher voran als größere Schiffe. Außerdem konnten ihr die tückischen Schärengewässer nicht so leicht zum Verhängnis werden. Diese Vorteile hatten die Schweden, Finnen und Russen dazu veranlaßt, die Tradition der berühmten „Langschiffe“ der Wikinger in Form von Galeeren und Galeassen fortzusetzen, insbesondere bei der Kriegführung.

Der Wind blies immer eisiger, und manch einer der Männer an Bord schlug die hohlen Hände vors Gesicht, um etwas Wärme hineinzuhauchen. Nur den Ruderknechten setzte die nordische Kälte weniger zu, dafür sorgte der Schlagmann, der eine immer schärfer werdende „Gangart“ vorgab.

Die Wolkenbänke schienen sich aufzulösen, der Mond wurde nur noch selten von ihnen verdeckt. Sein trübes Licht verlieh der Wasserfläche einen silbrigen Schimmer und ließ auch die Konturen der Galeasse deutlicher hervortreten.

An der Rah baumelte noch immer der Körper des hingerichteten Rudergängers und zog zahlreiche verstohlene Blicke auf sich. Ja, die Soldaten und die Männer der Crew wußten nur zu gut, daß ihr Verbandsführer nicht lange fakkelte. Wenn er gereizt war, fand er immer einen Sündenbock, an dem er sich austoben konnte.

Doch jetzt, als Semion Marinesko von seinem neuen Plan gefesselt wurde, schien er das Interesse an dem grausigen Schauspiel, das er der Besatzung zum Zwecke der Abschreckung geboten hatte, verloren zu haben.

Beinahe behutsam legte er Nikolai Deschnew die rechte Hand auf die Schulter.

„Lassen Sie den Leichnam abnehmen und über Bord werfen“, sagte er kurz. „Wir haben uns nun auf andere Dinge zu konzentrieren.“

Der Galeassen-Kapitän gab diesen Befehl aufatmend weiter. Er war zwar alles andere als zart besaitet, aber der Anblick der Leiche, die sich – bedingt durch die Dünung – gleich dem Schiffskörper ständig bewegte, ging auch ihm an die Nieren.

Außerdem war sich Deschnew darüber im klaren, daß es nicht rechtens gewesen war, den Mann ohne Verhandlung hinzurichten. Doch weder er noch Gregori Kozlow hatten sich getraut, dem zornigen Generalkapitän Einhalt zu gebieten. Nun gut, der Mann hatte während seines Einsatzes als Gefechtsrudergänger einen Befehl Marineskos nicht befolgt. Aber seiner Behauptung nach hatte er es nur deshalb nicht getan, damit die Galeasse nicht auf eine Klippe auflief. Mit ziemlicher Sicherheit hätten sich unter den Soldaten oder den Ruderknechten einige Zeugen gefunden, die seine Aussage hätten bestätigen können. Aber Marinesko hatte niemandem eine Gelegenheit dazu gegeben.

Ein Soldat kappte das Tau, an dem der angebliche Befehlsverweigerer hing. Die schlaffe Gestalt fiel schwer auf die Gräting. Augenblicke später klatschte der Leichnam ins Wasser der Steuerbordseite.

Semion Marinesko hatte die Szene keines Blickes gewürdigt. Er stand nach wie vor am Heck der Galeasse und starrte mit grimmigem Gesicht durch das Spektiv.

„Wir sind nicht mehr weit von Kotka entfernt“, sagte er. Dann bedachte er Kozlow und Deschnew mit weiteren Befehlen: „Achten Sie darauf, daß niemand ein Licht anzündet! Ein einziger Fehler in dieser Richtung kann das ganze Unternehmen gefährden. Und sagen Sie dem Schlagmann, daß er mit der verdammten Trommelei aufhören soll, sonst hören uns die Schweden bereits, bevor wir überhaupt da sind.“

Kozlow schob das spitze Kinn vor und lachte meckernd.

„Vielleicht denken sie, der Gehörnte wolle ihnen zum Tanz aufspielen, wenn sie die Trommelschläge hören.“