Kira Gembri

Wovon du
träumst

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Für E.
Weil du mir erlaubt hast, dieses Buch zu schreiben.

 

 

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1. Auflage 2017
© 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von
Motiven von shutterstock.com
Dieses Buch wurde von der Literaturagentur erzähl:perspektive
(www.erzaehlperspektive.de) vermittelt.
ISBN 978-3-401-80692-1

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Emilia

Das Klavier scheint misstrauisch auf mich zu lauern. Mit gebleckten Zähnen sieht es mir aus der Mitte des Raumes entgegen, als wäre es ein Ungeheuer, das den Durchgang zu einer anderen Welt bewacht – einer Welt, in die ich nicht gehöre.

Merkwürdig, dass man ein und dasselbe Instrument so unterschiedlich wahrnehmen kann. Natürlich hatte meine Oma keinen riesigen schwarzen Konzertflügel wie diesen, aber ihr Klavier hätte mir trotzdem groß vorkommen müssen. Schließlich war es anfangs noch notwendig, dass ich den Hocker ein Stück nach oben kurble, um die Tasten gut zu erreichen. Trotzdem erinnere ich mich an kein einschüchterndes Gefühl, sondern nur an die warme Vibration von Nanas Stimme neben mir und an die seidig glatten Flächen unter meinen Fingerspitzen.

»Du hast gesagt, dass du keine totale Anfängerin bist, richtig?«, fragt Adrian, während ich auf ihn und den Flügel zugehe. Sein perfekter Seitenscheitel bildet einen interessanten Kontrast zu seinen markanten Gesichtszügen, den großzügig geschwungenen Lippen und dem kantigen Kinn. Hätte er seiner Annonce in dem Klassik-Forum ein Foto hinzugefügt, wäre sein Privatunterricht sicher im Handumdrehen ausgebucht gewesen. Insgeheim frage ich mich, ob er eigentlich dazu berechtigt ist, diesen Raum für einen Ferienjob zu nutzen … aber vermutlich wird die Musikuniversität in den Sommermonaten nahezu ausgestorben sein, sodass es niemanden stört.

»Meine Großmutter hat mich unterrichtet, als ich noch ein Kind war«, antworte ich und hoffe, dass meine Stimme nicht zu piepsig klingt. Der Anblick des glänzenden schwarzen Instruments, die Erinnerung an Nana und der verrückte Plan, den ich gerade verfolge – das alles schnürt mir die Kehle zusammen. »Ist aber schon ein paar Jahre her«, versuche ich es etwas lauter. »Als ich aufhören musste, waren wir gerade bei der Mondscheinsonate. Dem Lieblingsstück meiner Großmutter.«

Vorsichtig stelle ich die Noten aufs Pult und lasse Adrian dabei nicht aus den Augen. Seine Stirn hat sich in Falten gelegt. Wahrscheinlich ist es eine Art Frevel zu sagen: »Ich will Klavierspielen lernen, weil meine Oma dieses eine Stück so gerne mochte.« Warum nicht gleich: »Edward Cullen und Mr Grey haben dieses Instrument so sexy gemacht« oder: »Hey, Klavier reimt sich immerhin auf Bier!«? Bestimmt lebt dieser Student für die Musik, und wenn er den eigentlichen Grund erfahren würde – also den tieferen Sinn hinter diesem ganzen Plan –, dann würde er rücklings vom samtbezogenen Polster kippen. Die Sache mit Nana klingt da schon harmloser, und es ist zumindest ein Teil der Wahrheit.

»Na schön, dann wollen wir doch mal sehen, wie viel davon bei dir hängen geblieben ist«, meint er nach einer kurzen Pause und lächelt mir flüchtig zu. Mit einer eckigen Bewegung schiebe ich mich neben ihn auf die Klavierbank. Meine blonden Locken rutschen nach vorne, und es fällt mir schwer, Adrian jetzt noch aus den Augenwinkeln zu beobachten. Seine Lippen bewegen sich ganz leicht, wahrscheinlich zählt er einen Takt vor. Erwartet er, dass ich jetzt einfach loslege, also ohne Aufwärmübung ins kalte Wasser springe?

Zaghaft strecke ich die Hände aus – und zu meiner Überraschung ist das Gefühl ganz genau wie früher. Die glatten Flächen, der leichte Druck, mit dem die Tasten nachgeben. Auf einmal sind es keine schwarzen und weißen Zähne mehr, sondern lauter kleine Schlüssel zur Vergangenheit. Ich erinnere mich an das Grollen der tiefen Töne und an das leichtere Schwingen der Melodie in der rechten Hand. Mein Herzschlag beschleunigt sich, und ich halte instinktiv den Atem an. Wäre der Flügel tatsächlich ein Wächter, hätte er das Tor jetzt wohl einen Spaltbreit geöffnet …

Weit komme ich allerdings nicht, ehe meine Finger zu stolpern beginnen. Verschwommen nehme ich eine Bewegung wahr, und ich drehe mich hastig zur Seite. Adrian zeigt mir mit einem Winken, dass ich jetzt aufhören kann.

Krachend fällt das Tor wieder ins Schloss.

»Danke, das genügt für den ersten Eindruck«, sagt Adrian, den Kopf nachdenklich schief gelegt. »Weißt du, Beethovens Sonate Nr. 14 ist ganz schön anspruchsvoll und eigentlich nichts für Anfänger. Die Triolen der linken Hand dürfen die Melodie niemals übertönen. Da muss man wirklich genau hinhören.«

»Genau hinhören«, wiederhole ich stumpf nickend, ehe ich mich bremsen kann. »Aber … du würdest das doch mit mir üben, oder? Einmal die Woche, bis zum Ende der Sommerferien?«

»Wenn dir dieses Stück so wichtig ist, dann versuchen wir es eben. Ich kann dir nur keinen regelmäßigen Termin anbieten, weil ich in nächster Zeit viel um die Ohren habe. Am besten, du gibst mir deine Nummer, und wir machen das immer spontan aus.«

Er zieht sein Smartphone aus der Hosentasche, und plötzlich trommelt mein Herz regelrecht gegen meine Rippen. Ich muss mich sehr konzentrieren, um die Zahlen richtig auszusprechen. Diesmal klingt es definitiv piepsig, als ich nachhake: »Du schickst mir dann also eine Nachricht bei WhatsApp, ja? Und ich schreibe dir zurück, ob ich an diesem Termin Zeit habe?«

Quälend langsam speichert Adrian meine Nummer und legt das Smartphone auf dem Flügel ab. Dann schüttelt er den Kopf. »Anrufen ist praktischer.«

»Aber das geht nicht!«, platzt es aus mir hervor. Zu laut, das erkenne ich an seinem Gesichtsausdruck. Mühsam schlucke ich und versuche, meinen Brustkorb zu entspannen. »Weil ich dich nicht hören würde«, schiebe ich hinterher, aber damit kann ich Adrians verwirrte Miene auch nicht vertreiben.

»Dann stell dein Handy eben nicht lautlos«, antwortet er, und seine Augenbrauen ziehen sich zusammen.

»Nein – ich meine, dass ich nicht mit dir telefonieren kann.«

»Und wieso nicht, wenn ich fragen darf?!«

Das Tor zur anderen Welt hat sich nicht bloß geschlossen, es ist jetzt völlig verschwunden. Stattdessen sehe ich nur noch eine unüberwindliche Mauer vor mir. Sag es so klar wie möglich, kommandiert ein Paar Hände in meinem Kopf. Sag es so, dass er es versteht.

»Tut mir leid«, beginne ich trotzdem mit einer Entschuldigung, und meine Gedankenhände flattern empört, »aber Telefonieren geht für mich einfach nicht. Ich bin so gut wie taub.«

Nick

Manchmal sind die Geräusche in den öffentlichen Verkehrsmitteln Wiens schwer zu ertragen.

Auf der Fahrt zum Studentenwohnheim hockt neben mir ein Typ, der jeden Bissen von seinem Döner mit einem nicht jugendfreien Stöhnen begleitet. Schräg vor mir lässt sich ein Nachwuchs-Marilyn-Manson die Trommelfelle von satanischen Bässen aus seinem iPod zerschreddern, und irgendwo telefoniert eine Frau in den schrillsten Tönen mit ihrer Freundin: »Aber so einen Blödsinn macht der kein zweites Mal! In Zukunft, das sag ich dir, da wird er auf mich hören! Und soll ich dir sagen, wieso? Willst du wissen, wieso …?!«

»Weilst a Stimm’ wie a Fabriksirene hast, du Schreckschraub’n?«, schlägt ein alter Mann im Wiener Dialekt vor.

Der Döner-Typ prustet los, wobei ihm ein Stück Tomate aus dem Mund fällt.

Mini-Manson dreht mit empörtem Blick seine Höllenmusik lauter.

Ich rutsche etwas tiefer in meinen Sitz und gebe mein Bestes, mich in Gedanken auf eine einsame Insel zu beamen. Außerdem balanciere ich den Geigenkoffer so auf meinen Knien, dass er mir als Sichtschutz gegen die Freakshow um mich herum dient. Dabei weiß ich ganz genau, dass die Leute im Bus keine Schuld an meiner miesen Laune haben. Nicht mal die schrille Braut, die jetzt in ihr Handy kreischt, was für ein »G’sindel« heute wieder unterwegs ist. In Wirklichkeit bin ich einfach noch vom harten Drill der letzten Stunden auf 180 und das Adrenalin zischt ungenutzt durch meinen Körper. Das wird nicht gerade besser, als mich kurz vor meiner Zielstation eine SMS von Dad erreicht: WIE IST ES HEUTE GELAUFEN? JETZT DAUERT ES JA WIRKLICH NICHT MEHR LANGE. MELDE DICH MAL, DEINE MUTTER MACHT SICH SORGEN.

Mein Vater ist echt der Beethoven der Kurznachrichten. Mit nur drei Sätzen schafft er eine perfekte Komposition aus Anteilnahme, Druck und Vorwurf. Als ob mir nicht selber klar wäre, dass die Zeit verflucht knapp wird. Und was die Sorgen betrifft – erzähl das mal dem Zucken an meinem rechten Auge oder dem ständigen Gezappel meiner linken Hand. Meine Finger formen ununterbrochen Doppelgriffe auf einem imaginären Geigenhals, und ich schaffe es einfach nicht, sie zu stoppen. Vermutlich wirke ich sogar in diesem Bus wie der seltsamste Kauz von allen.

An der nächsten Haltestelle schiebe ich mich ins Freie, schwinge mir den Geigenkoffer auf den Rücken und lege den restlichen Weg bis zum Wohnheim fast im Sprint zurück, um mich wenigstens ein bisschen abzureagieren. Im Eingangsbereich werde ich von ein paar Leuten gebremst, die alle in irgendeiner Form Alkohol mit sich herumzuschleppen scheinen: entweder in bunten Pappbechern oder – nach ihrem Getorkel und Gelächter zu schließen – bereits in ihrem Blut. Einer von ihnen drückt mir einen Flyer in die Hand und grölt: »Eskalation im Partykeller, bitte weitersagen! Auch Neulinge wie du sind herzlich willkommen!«

Einen Moment lang starre ich auf das zerknitterte Stück Papier zwischen meinen Fingern und denke daran, dass ich noch vor wenigen Wochen keine Sekunde gezögert hätte. Ich wäre wahrscheinlich unter den Ersten gewesen, die bei dieser Party aufkreuzen, und unter den Letzten, die wieder gehen. Aber so etwas kann ich mir jetzt nicht mehr erlauben. Jedenfalls nicht, wenn ich den Karren, der sich mein Leben schimpft, noch irgendwie aus dem Dreck ziehen will.

»Ja, mal sehen«, sage ich ausweichend zum selbst ernannten Party-Promoter und setze mich wieder in Bewegung. Ich behalte den Flyer in der geballten Faust, bis ich mein Zimmer im ersten Stock erreicht habe. Dort lege ich ihn zusammen mit meiner Geige auf dem Bett ab und lasse mich daneben fallen. Während ich ein paarmal tief durchatme, bilde ich mir ein, die Bässe aus dem unteren Stockwerk bis hierher hören zu können. Ansonsten ist es auf dieser Etage erstaunlich still. Eigentlich wäre das die perfekte Gelegenheit, um in Ruhe ein paar Fingerübungen zu machen, vielleicht noch mal die verflucht schwierige Pizzicato-Stelle zu probieren … doch allein beim Gedanken daran, jetzt weiterzuarbeiten, bekomme ich Kopfschmerzen. Irgendwie fühle ich mich nach dem Training erschöpft und aufgedreht zugleich und kann ganz einfach nicht mehr.

Morgen, sagt eine reichlich unvernünftige Stimme tief in mir drin. Morgen wirst du alles wieder aufholen, aber das Einzige, was du heute Abend wirklich brauchst, sind ein paar Becher voll Billigbier.

Zwischen dieser Erkenntnis und meiner Ankunft im Partykeller liegen nur wenige Minuten. Obwohl ich im Bus wegen all der nervigen Geräusche am liebsten meinen Schädel gegen die Wand geschmettert hätte, scheint mich der Lärm nun magisch anzuziehen. Vielleicht ist das hier ja tatsächlich das beste Rezept gegen mein aktuelles Tief: so lauter Drum and Bass, dass ich meine eigenen Gedanken nicht mehr hören kann, und schon gar nicht die Erinnerung an Volkovs Stimme: »Schneller! Präziser! Was ist denn los mit dir – Gelenke verrostet, Blei in den Knochen?«

Nach den ersten paar Bechern lässt das Zucken meines Auges endlich nach. Ich entferne mich einige Schritte vom Tresen und checke die Lage. Soweit man das im flackernden blauen Licht erkennen kann, platzt der Raum vor lauter trinkenden, rauchenden und wild gestikulierenden Studenten aus allen Nähten. Am stärksten ist das Gedränge auf der Tanzfläche. Ein Mädchen in Hotpants, das sich gerade von dort in Richtung Bar durchkämpft, fängt meinen Blick auf und lächelt mir zu. Ein paar dunkelbraune Strähnen kleben verschwitzt an ihrem Hals, wahrscheinlich hat sie sich schon eine ganze Weile zu den wummernden Bässen verausgabt.

»Toller Sound, oder?«, ruft sie mir strahlend entgegen.

Ich grinse zurück – in Wirklichkeit finde ich den Sound hier zum Kotzen, aber wenn sie auf so einen Krach steht, kann ich mich gefahrlos mit ihr unterhalten. Schließlich muss ich dann nicht befürchten, dass sie mich erkennt und ein Thema mit etwas mehr Substanz zur Sprache bringt. Meine Vergangenheit, zum Beispiel. Das, was vor zwei Jahren durch die Klatschpresse ging. Oder vielleicht den Wettbewerb …

Aber nachdem ich sie auf ein Bier eingeladen habe und ihre Hand längst an meiner Hüfte liegt, kommt es dann doch, so unvermeidlich wie das Amen im Gebet: »Sag mal, kenn ich dich nicht irgendwoher?«, fragt sie und schaut mit großen Augen zu mir hoch. »Ich glaube, ich hab dich schon mal gesehen.«

»Muss ein Fehler in der Matrix sein«, gebe ich zurück.

»Nein, im Ernst, du kommst mir wahnsinnig bekannt vor«, beharrt sie, und ihre Finger spielen mit dem Saum meines Shirts. »Vielleicht aus einem Video. Bist du … ein YouTuber oder so?«

Nur mit Mühe kann ich mich davon abhalten, eine Grimasse zu schneiden. »Hey, weißt du, was«, sage ich, während ich nach ihrer Taille fasse und sie an mich heranziehe. »Lass uns das lieber nicht machen.«

»Was, miteinander reden?«, fragt sie in einem neckenden Tonfall. Sie ist mir jetzt so nahe, dass ich ihr Parfum riechen kann – Pseudo-Erdbeeren oder Kirschen oder sonst irgendetwas übertrieben Süßes. »Also, eigentlich finde ich, das macht Spaß.«

»Aber ich wüsste da noch etwas viel Spaßigeres, als zu reden.«

Lachend wirft sie den Kopf nach hinten, und im selben Moment fällt mein Blick auf ein Mädchen mit wirren blonden Locken, das einige Schritte entfernt am Tresen steht. Bei dem Lärm, der auch abseits der Tanzfläche herrscht, kann sie meine letzte Bemerkung unmöglich gehört haben. Trotzdem verdreht sie die Augen, aber das ist mir so was von egal. Eine zweite Hand wandert an meine Hüfte, schiebt sich unter mein T-Shirt, streicht über meine Haut. Miss Hotpants geht auf Tuchfühlung, und der Lockenkopf wendet sich ab.

Schon klar: Ich benehme mich gerade wie ein oberflächlicher, biergetränkter, von miesem D ’n’ B betäubter Idiot. Aber damit bin ich bloß einer unter vielen – und das ist ein verdammt gutes Gefühl.

Emilia

Den ganzen Tag lang werde ich Adrians Worte nicht mehr los.

Wieder und wieder sehe ich die Bewegungen seiner Lippen vor mir, sozusagen kein Ohr-, sondern ein Augenwurm: »Ich finde es ja bewundernswert, wie du mit deiner Behinderung umgehst, aber … tut mir leid, das hat einfach keinen Zweck.«

Als es draußen finster wird, bin ich drauf und dran, mich für den restlichen Abend einfach nur zu verkriechen. Dabei habe ich den Party-Flyer schon vor Tagen an die Korktafel über meinem Schreibtisch gepinnt – direkt neben meine ganz spezielle To-do-Liste. Das Zimmer des Studentenwohnheims ist so klein, dass ich auch von meinem Bett aus beides genau sehen kann. Allerdings sind es nicht die bunten Lettern auf dem Flyer, sondern meine eigenen, sorgfältig geschriebenen Buchstaben, an denen mein Blick haften bleibt.

Ich bin sicher, die meisten neuen Bewohner dieses Heims müssen in den Sommerferien jede Menge erledigen, und viele von ihnen haben diese guten Vorsätze bestimmt auch notiert. Allerdings stehen auf ihren Listen wohl eher solche Punkte wie: Skripte kaufen, ein U-Bahn-Semesterticket besorgen, einen Uni-Sportkurs aussuchen und so weiter. Was ich mir für die nächsten freien Monate vorgenommen habe, hängt überhaupt nicht mit den beiden Studienrichtungen zusammen, auf die meine Wahl nach längerem Überlegen gefallen ist. Klar, Germanistik und Bildungswissenschaften interessieren mich – wobei ich mich jetzt schon frage, ob ich die Lippen der Professoren werde lesen können. Aber zum Studieren bin ich eigentlich nicht nach Wien gekommen. Oder jedenfalls nicht nur.

Abrupt stemme ich mich vom Bett hoch und gehe zu meiner Anlage hinüber, die auf der Kommode neben dem Schreibtisch steht. Mein Zeigefinger ertastet den richtigen Knopf, ohne dass ich den Blick von meiner Liste abwenden muss. Dann lege ich die flache Hand auf eine der Lautsprecherboxen und lasse die Mondscheinsonate auf meiner Haut zittern, während ich jeden der sieben Punkte einen Moment lang fixiere:

1. Klavierunterricht nehmen.

2. Ein Konzert besuchen.

3. In die Disco gehen.

4. Schreien, so laut ich kann.

5. Mich nachts im Bett unterhalten, bis ich einschlafe.

6. Herausfinden, wie der Regen klingt.

7. Mit einem Hörenden richtig befreundet sein.

Wie üblich hilft mir das Vibrieren der Lautsprechermembran dabei, mindestens fünf Jahre in die Vergangenheit zurückzureisen – in die Zeit, als Nana noch in meinem Leben war und das Tor zur anderen Welt ein klein wenig offen stand. Aber diesmal hält der Effekt nicht besonders lange an. Widerwillig ziehe ich die Hand zurück, schalte die Anlage aus und greife nach einem wasserfesten Marker. Zentimeter für Zentimeter verschwindet »Klavierunterricht nehmen« unter einer dicken schwarzen Linie.

Durchgestrichen statt abgehakt.

Ich werfe den Marker zurück auf den Schreibtisch und nehme einen tiefen Atemzug. Wenn dieser Tag kein totaler Reinfall werden soll, darf ich mich jetzt nicht auf dem Bett zusammenrollen und in eines meiner Bücher vertiefen, wie so oft seit meiner Ankunft in Wien. Wozu habe ich diese Liste überhaupt geschrieben, wenn ich die Sommerferien dann doch nur wie eine Einsiedlerin verbringe? Möglicherweise zählt eine Fete im Keller nicht direkt als Disco, aber es schadet ja nicht, klein anzufangen. Sozusagen ein vorsichtiges Klopfen ans Tor, statt wie heute Nachmittag mit vollem Karacho dagegenzurennen.

Bevor mich die Entschlossenheit wieder verlassen kann, streife ich meine Ballerinas über und schlüpfe aus der Zwei-Zimmer-WG hinaus auf den Flur. Vor der Treppe zum Keller stehen ein paar Jungen und Mädchen herum und rauchen, obwohl das hier strengstens verboten ist. Möglicherweise sind das gar keine regulären Heimbewohner, sondern Urlauber, die während der Sommerferien freistehende Zimmer gemietet haben. Das würde erklären, warum sie keine Angst vor dem Zorn des Heimleiters haben – aber vielleicht genießt Herr Maulbeer auch unter den Studenten keine besondere Autorität. Bei genauerer Überlegung bezweifle ich nämlich, dass er diese Party abgesegnet hat; schließlich habe ich nirgendwo einen offiziellen Aushang gesehen.

Zögernd nähere ich mich dem Grüppchen, nicht sicher, ob ich mich einfach daran vorbeischieben soll. Was, wenn noch niemand im Keller ist und ich mich vor mehreren Zeugen lächerlich mache, indem ich an der verschlossenen Tür rüttle?

»Hey, entschuldige bitte – hat die Party schon angefangen?«, wende ich mich kurz entschlossen an ein brünettes Mädchen auf der obersten Treppenstufe. Ich glaube, dass ich die Frage richtig ausgesprochen habe, aber irgendetwas muss trotzdem schiefgelaufen sein. Jeder Gehörlose kennt Situationen wie diese zur Genüge: Eigentlich ist man sich keines Fehlers bewusst, aber der Gesichtsausdruck der anderen Leute macht einem deutlich, dass etwas nicht stimmt. Meine um vier Jahre älteren Brüder, Leo und Max, nennen das die »Wer-hat-hier-gepupst-Miene«: Alle runzeln die Stirn, ziehen die Nase kraus, wechseln peinlich berührte Blicke. (Und ja, wer sich meine Brüder nun wie gehörlose Versionen von Fred und George Weasley vorstellt, liegt gar nicht so weit daneben.)

»Ob sie schon angefangen hat?«, wiederholt die Brünette und hakt ihre Daumen in die ausgefransten Taschen ihrer Hotpants. Ihre knallpinken Lippen bewegen sich seltsam träge, so als würde sie die Worte extra in die Länge ziehen. »Sperr mal die Lauscher auf, wie wär’s?« Grinsend dreht sie sich um und läuft die Treppe hinunter. Als sie die Tür öffnet und mir ein Schwall stickige Luft entgegenschlägt, wird mir klar, warum meine Frage völlig daneben gewirkt haben muss: Bestimmt ist die Musik auch von draußen unmöglich zu überhören.

Am liebsten würde ich jetzt gleich wieder kehrtmachen, aber diese Feigheit lasse ich mir selbst nicht durchgehen. Also folge ich dem Mädchen mit einigen Metern Abstand, während ich direkt spüren kann, wie meine Haare sich kräuseln. Im Partykeller muss eine ähnlich hohe Luftfeuchtigkeit herrschen wie am Amazonas. Zum Glück habe ich meine Hörgeräte im Zimmer gelassen, mal abgesehen davon, dass mir die Dinger jetzt sowieso nichts nützen würden. Auch ohne jegliche Störgeräusche kann ich Stimmen damit kaum noch wahrnehmen, und hier dröhnen mir die Bässe beinah schmerzhaft im Magen, seit ich den Raum betreten habe. Ein Blick in die Runde genügt, um zu erkennen, dass ich auf dieser Party nicht das Geringste verstehen werde; weder mit den Ohren noch mit den Augen. Es ist zu laut, zu finster, zu voll. Außerdem bewegen Schreihälse und Betrunkene ihre Münder anders als sonst, und hier ist offenbar jeder am Brüllen oder Bierschlürfen. Genauso gut könnte ich versuchen, ohne Taschenlampe unter der Bettdecke zu lesen – während ich das Buch verkehrt herum halte.

Instinktiv flüchte ich mich an die Bar, wo die Beleuchtung noch am besten ist. Für einen Euro bekomme ich einen biergefüllten Pappbecher ausgehändigt, der während der nächsten halben Stunde als mein Rettungsanker herhalten muss: Wann immer sich Leute dem Tresen nähern, tue ich so, als wäre ich voll und ganz mit Nippen beschäftigt. Dabei versuche ich immer wieder, Gesprächen zu folgen, aber es hat keinen Zweck. Die Worte fliegen wie Pingpongbälle zwischen den Personen hin und her, viel zu schnell, als dass ich sie entziffern könnte. Wenn ich endlich herausgefunden habe, wer gerade an der Reihe ist, hat er seinen Satz schon beendet, jemand anderer fügt etwas hinzu, und die Umstehenden biegen sich vor Lachen.

Vermutlich sehe ich schon aus wie ein begossener Pudel, als irgendwann meine Zimmernachbarin Kris auf mich zukommt. Obwohl wir erst seit einer Woche zusammenwohnen, strahlt sie mir entgegen, als wären wir längst allerbeste Freundinnen. Bei ihrem Anblick wird mir mal wieder bewusst, dass sie in fast jeder Hinsicht das genaue Gegenteil zu mir darstellt: Nicht nur wegen ihrer seidigen schwarzen Haare und ihrer Vorliebe für ausgeflippte Klamotten, während ich meistens in braven Baumwollblusen und Jeans herumlaufe; Kristina scheint sich hier außerdem ganz in ihrem Element zu fühlen. Allerdings studiert sie bereits seit einem Jahr an der Universität für angewandte Kunst und hat sicher schon Hunderte Partys wie diese erlebt.

»Na, machst du die Tanzfläche unsicher?«, ruft sie mir ironisch entgegen, und das Gitarre spielende Kätzchen auf ihrem T-Shirt hüpft bei jedem ihrer Schritte.

Ich merke, wie mir die Hitze in die Wangen steigt. »Die Musik ist irgendwie nicht mein Fall«, behaupte ich und kann nur hoffen, dass es einigermaßen normal wirkt, so etwas zu sagen. Kris kann schließlich nicht ahnen, was für eine gewaltige Lüge ich ihr aufgetischt habe. Es gefällt mir, wie vertraut sie mit mir umgeht, obwohl wir uns noch kaum kennen – und um das nicht aufs Spiel zu setzen, habe ich ihr meine Taubheit bisher verheimlicht.

»Musik? Was für Musik denn?«, gibt sie dennoch so treffend zurück, dass ich zusammenzucke. Es scheint fast, als hätte sie mich durchschaut, doch mit ein paar Sekunden Verspätung begreife ich, dass sie sich nur über die Qualität der Hintergrundbeschallung lustig macht. »Komm schon, wir zwei verschaffen uns jetzt trotzdem mal ein bisschen Bewegung. Oder sollen wir dir vielleicht einen netten Tanzpartner suchen?«

Tanzen. Genau. Und danach spielen wir eine Runde Stille Post.

Angestrengt versuche ich, mir meine Liste wieder vor Augen zu rufen und mich daran zu erinnern, warum ich das alles tue – doch die Entschlossenheit hat mich jetzt endgültig verlassen. »Oh nein. Ich glaub nicht, dass …«, stammle ich und erfinde dann die nächste lahme Ausrede: »Also, da ist keiner für mich dabei.«

»Wieso nicht? Die Jungs hier sind doch …«, beginnt Kris, aber dann dreht sie sich zur Tanzfläche, und ich bekomme nichts mehr mit. Gespräche sind für mich vorüber, sobald der Blickkontakt abbricht. Meine Zimmernachbarin hat jetzt sowieso etwas ganz anderes im Sinn, oder besser gesagt, jemand anderes: Ein Typ im Surferboy-Look hat ihre Aufmerksamkeit erregt, und so zielstrebig, wie Kris auf ihn zumarschiert, kann ich mir das Ende ihres Satzes schon denken.

Tief durchatmend schiebe ich mich wieder in den kleinen Lichtkreis rund um die Bar, lehne mich gegen den Tresen – und mein Blick bleibt an einem Paar Hotpants hängen.

Auch das noch. Meine Bekanntschaft aus dem Treppenhaus steht nur wenige Schritte von mir entfernt, in ein Gespräch mit einem Jungen vertieft. Obwohl sie mir den Rücken zugekehrt hat, erkenne ich an ihrer Haltung, dass sie im Moment keine spöttischen Sprüche vom Stapel lässt. Ihre rechte Hand liegt auf der Hüfte ihres Gegenübers, und mit der linken dreht sie eine Strähne ihres braunen Haars um ihren Zeigefinger. Eigentlich witzig, wie deutlich man mit den Händen sprechen kann, ohne auch nur eine einzige richtige Gebärde zu beherrschen. Der Junge scheint ihre Botschaft jedenfalls ganz genau zu verstehen, denn sein rechter Mundwinkel wandert immer weiter nach oben. Mit seinem schiefen Grinsen und den widerspenstigen schwarzen Haaren könnte er wie der typische Held eines Teenie-Films wirken, aber irgendetwas stört dieses Bild.

Vielleicht liegt es daran, wie oft und wie langsam er seine Augen schließt, so als wären seine Lider bleischwer. Als die Discobeleuchtung einmal besonders grell aufblitzt, erkenne ich auch die Schatten über seinen Wangenknochen. Das ist es: Die beiden Hälften seines Gesichts passen nicht zueinander. Oben sieht er todmüde aus, während seine Lippen allen Ernstes den Satz formen: »Ich wüsste da noch was viel Spaßigeres, als zu reden.«

Nachdem er dann auch noch eine Hand in die hintere Jeanstasche der Brünetten geschoben hat, kann ich mich einfach nicht länger beherrschen: Ich ziehe die Mundwinkel nach unten, verdrehe die Augen … und genau in diesem Moment flackert der Blick des Jungen zu mir herüber.

Für ein paar Schrecksekunden ist der abfällige Ausdruck auf meinem Gesicht festgefroren. Ich erkenne, dass die Augen des Jungen grün sind, ein richtig strahlendes Smaragdgrün, aber das Weiß rund um die Iris ist von zahlreichen Äderchen zerschossen. Sein rechtes unteres Lid zuckt, während er mich fixiert. Erst, als sich das Hotpants-Mädchen praktisch an seinen Hals wirft, wird der Bann gebrochen. Mühsam reiße ich mich von dem Anblick los und drehe den Kopf weg. Auf einmal habe ich wieder das Gefühl, in einer Art überdimensionalem Aquarium zu schwimmen, wo alle stumm die Mäuler auf- und zuklappen und sinnlos herumzappeln. Hier bin ich die Einzige, die nicht weiß, wie sie sich hier verhalten soll. Die keine Ahnung hat, ob die Musik gut oder schlecht klingt. Die … völlig verwirrt ist, als die anderen plötzlich zu tanzen aufhören.

Mehrere Sekunden verstreichen, bis mir klar wird, dass ich keine Bässe mehr spüren kann. Als bei mir endlich der Groschen gefallen ist, flammen bereits die Deckenlampen auf, und drei Gestalten werden oben an der Kellertreppe sichtbar: der Heimleiter und zwei Männer in Uniform.

»Bei uns ist eine Beschwerde wegen nächtlicher Ruhestörung eingegangen, und jetzt haben wir auch noch erfahren, dass die Nutzung des Partykellers gar nicht genehmigt wurde!«, verkündet einer der beiden Polizisten. Um mich herum werden Arme in die Luft gereckt, Köpfe geschüttelt, und viele Münder öffnen sich zu einem Protest.

Damit wäre meine Aufzählung wohl komplett: Ich bin definitiv die Einzige, die sich freut, dass diese Party gesprengt wird.

Nick

Der frühe Vogel fängt sich gleich eine.

Diese Worte schießen mir durch den Kopf, als ich von meinem Radiowecker aus dem Schlaf gerissen werde und der Moderator ein paar locker-flockige Sprichwörter vom Stapel lässt. Seine übertrieben muntere Art wirkt auf mich schon fast sadistisch. Es mag ja vielleicht Menschen geben, denen um diese Zeit die Sonne aus dem Arsch scheint, aber bei mir herrscht da momentan noch tiefste Dunkelheit.

Ächzend richte ich mich auf und bewege meine verspannten Schultern. Es kommt mir absolut unmöglich vor, heute das notwendige Pensum zu schaffen. Vielleicht hätte ich meine gestrige Abendgestaltung genauer überdenken sollen. Schließlich habe ich davon nicht mehr gewonnen als einen netten Hang-over und folgende Nachricht auf meinem Handy: SCHADE, DASS WIR SO PLÖTZLICH AUF UNSERE ZIMMER GESCHICKT WURDEN. IST JA WIE IM KLOSTER HIER! VIELLEICHT SIEHT MAN SICH BALD MAL WIEDER? :)

Dummerweise habe ich die Absenderin als Hotpants-Hottie eingespeichert, und die Erinnerung an ihren richtigen Namen scheint mit ein paar meiner Gehirnzellen abgesoffen zu sein. Ich schätze, es gibt deutlich bessere Voraussetzungen für ein zweites Date.

Nach einer kalten Dusche und einer Dose lauwarmen Energy-Drinks mache ich mich widerwillig an mein tägliches Training. Das Pochen hinter meiner Stirn ist dabei natürlich wahnsinnig hilfreich. Irgendwann zeigt das Koffein endlich seine Wirkung, aber meine Leistung bleibt trotzdem unterirdisch. Alles, was Volkov mir gestern ungerechtfertigt vor den Latz geknallt hat, trifft heute ganz genau zu. Der Gedanke daran, dass schon in wenigen Stunden die nächste Einheit mit ihm auf dem Programm steht, lässt meinen Magen schlimmer rumoren als das Red Bull zum Frühstück. In diesem Moment beginne ich, meine Teilnahme an der Party ernsthaft zu bereuen – und dann, wie auf Kommando der Karma-Polizei, hämmert es auch noch an der Tür.

»Hier ist Franz Maulbeer«, ertönt eine heisere Stimme, und ich kapiere erst nach ein paar Sekunden, wer damit gemeint ist. Schließlich wird der arbeitsscheue Heimleiter von allen nur Faulbär genannt.

»Und hier ist nichts kaputt!«, entgegne ich automatisch.

Faulbär schnaubt. »Ich bin nicht gekommen, weil ich was für dich in Ordnung bringen muss. Umgekehrt wird ein Schuh draus, kapiert? Beweg deinen Hintern in den Veranstaltungskeller, aber pronto!«

Mein Stöhnen bekommt er wohl auch durch die Tür mit, denn er lässt die Faust noch einmal gegen das Holz krachen, um seinem Befehl Nachdruck zu verleihen. Anschließend höre ich ihn brummend davonschlurfen.

Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr: Mein Besuch auf dieser Party war eine absolut hirnrissige Idee. Ich habe für so einen Mist jetzt überhaupt keine Zeit. Innerlich fluchend sperre ich meine Geige wieder in den Schrank, werfe ein paar frische Klamotten über und mache mich dann wohl oder übel auf den Weg zum Keller.

Schon auf der Treppe erinnern massenhaft Kippen und zerdrückte Becher an den vergangenen Abend, und als ich die Tür öffne, bilde ich mir ein, immer noch eine Mischung aus Qualm, Schweiß und Bier riechen zu können. Rein optisch hat sich die Location aber ganz schön verändert: Anstatt von flackernden Discolichtern wird der Raum jetzt von Neonröhren erhellt, die das kahle Gewölbe reichlich trostlos wirken lassen. An den vergipsten Wänden baumeln die Leichen zerplatzter Luftballons, der Boden ist völlig verdreckt, und die Bar entpuppt sich als ein Haufen zusammengenagelter Holzpaletten. Direkt davor stehen der Heimleiter und eine dünne Gestalt, die mir merkwürdig bekannt vorkommt. In meinem verkaterten Hirn scheinen ein paar Zahnräder zu quietschen, bis es endlich die Lösung ausspuckt: Na klar, das ist die zugeknöpfte Blondine von gestern Abend. Obwohl sie auch auf der Party war, sieht sie kein bisschen so aus, wie ich mich gerade fühle – nämlich gut durchgekaut und wieder hochgewürgt –, sondern eher wie aus dem Ei gepellt. Ihre Augen wirken hellwach, und sie trägt eine pastellgrüne, offenbar gebügelte Bluse. Nur ihre blonden Haare kringeln sich immer noch kreuz und quer um ihr Gesicht.

»Hey«, murmle ich, aber sie lässt sich nicht mal zu einem Nicken herab. Ihr Blick ist starr auf den Heimleiter gerichtet, als wäre sie ein Hund, der sich hechelnd auf das nächste Kommando freut. Statt eines Stöckchens wirft Faulbär allerdings ein Paar Gummihandschuhe in meine Richtung, sobald er mich entdeckt hat.

»Na endlich! Morgenstund’ hat Gold im Mund!«, posaunt er mir ebenso geistreich wie der Radiomoderator entgegen. Passenderweise entdecke ich in seinem Schnauzbart etwas Gelbliches – vielleicht ein Stückchen Rührei oder Käse.

Oder er hat mit den Handschuhen geknutscht.

Stirnrunzelnd halte ich die Gummidinger eine Armeslänge von mir weg. »Danke, aber die sind so gar nicht mein Stil.«

»Das wirst du dir vielleicht noch anders überlegen, sobald du hier richtig losgelegt hast«, antwortet Faulbär. »Ich gehe doch recht in der Annahme, dass ihr beide an der Verwüstung dieses Raumes beteiligt wart, oder? Also habt ihr bestimmt nichts dagegen, die Spuren dieser unerlaubten Feier zu beseitigen!«

»Wir sollen hier putzen?«, japse ich, während Lockenkopf den Heimleiter immer noch wie hypnotisiert angafft. »Aber warum denn ausgerechnet wir?!«

Inzwischen hat sich Faulbär breitbeinig vor uns aufgebaut und mustert uns so drohend, wie das für einen pummeligen Kerl im Hausmeisterkittel möglich ist. »Jaja, alles Unschuldslämmer, was?«, poltert er. »Tatsächlich habe ich extra zwei Personen ausgewählt, die erstens auf der Party waren und über die sich zweitens in den letzten Tagen jemand bei mir beschwert hat. Wollen doch mal sehen …« Er kramt einen Zettel aus seiner Kitteltasche hervor und pikt dann mit seinem Salamifinger in Richtung der Blondine. »Emilia Weber, mehrfache Lärmbelästigung durch klassische Musik! Und Nick –«

»Nächtliche Ruhestörung, schon klar«, schneide ich ihm den Satz ab. »Auch wenn ich daran nicht ganz alleine schuld bin.« Vielsagend ziehe ich einen Mundwinkel hoch und schaue wieder zu meiner Leidensgenossin hinüber. Die durchbohrt mich nun mit ihrem Blick, als hätte meine eindeutig-zweideutige Bemerkung sie persönlich beleidigt.

Kein Zweifel: Wäre Humor eine olympische Disziplin, würde Emilia Weber an der Startlinie versauern.

Faulbär räuspert sich übertrieben. »Wie dem auch sei, ich habe jedenfalls sicher nicht die Falschen für diesen Job ausgesucht«, sagt er und wendet sich ab, um hinter den Bartresen zu marschieren. »Nehmt euch jetzt ein Hilfsmittel eurer Wahl, und wenn ich wiederkomme, will ich hier vom Boden essen können, alles klar?«

Sobald er einen voll beladenen Putzwagen hinter dem Tresen hervorgezaubert hat, hellt sich Emilias Gesicht schlagartig auf. Eifrig nickend schnappt sie sich einen Eimer samt Lappen, und es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn sie gleich salutieren würde.

Mit diesem Mädel läuft definitiv was verkehrt.

Deutlich weniger begeistert greife ich mir einen Müllbeutel, und Faulbär verlässt händereibend den Keller. Wahrscheinlich macht er es sich jetzt in seinem Büro gemütlich, um seinen Schnauzbart auch noch mit ein paar Kuchenkrümeln zu verzieren. Der Gedanke an sein zufriedenes Grinsen treibt meine Laune immer weiter in Richtung Tiefpunkt.

»Schöne Scheiße, hm?«, sage ich irgendwann, als ich den gefühlt tausendsten Pappbecher eingesammelt habe und vor Langeweile gleich krepiere.

Keine Reaktion. Ich wende mich um und sehe, dass Emilia immer noch den Tresen mit einem Lappen bearbeitet. Ihr angestrengtes Schnaufen ist quer durch den ganzen Raum zu hören.

»Hätte nicht erwartet, dass der Typ so hart durchgreift«, fahre ich etwas lauter fort und schlendere auf den Tresen zu.

Emilia schweigt und putzt.

»Ich bin nämlich erst seit Anfang der Ferien im Wohnheim.«

Emilia putzt und schweigt.

»Und wie lange wohnst du schon hier?«

Emilia antwortet … nicht, und allmählich geht sie mir ganz heftig auf den Zeiger. Ich will ja nicht prahlen oder so, aber dass mich ein Mädchen komplett ignoriert, ist bisher echt noch nie vorgekommen. Dabei hätte die eine oder andere vielleicht sogar einen Grund dazu gehabt. Emilia dagegen scheint mich entweder schon bei unserem ersten Zusammentreffen in die »Arschloch«-Schublade gesteckt zu haben, oder sie ist rekordverdächtig schüchtern.

»Gibt’s irgendein Problem?«, frage ich in beiläufigem Tonfall und lehne mich auf der anderen Seite gegen den Tresen. Ohne auch nur ihren Blick zu heben, trägt Emilia den Eimer an mir vorbei zum Waschbecken. Schwungvoll kippt sie das schmutzige Wasser in den Ausguss, ehe sie den Hahn aufdreht.

Was zur Hölle soll das? Wieso behandelt sie mich die ganze Zeit, als wäre ich die allerdünnste Gebirgsluft? Plötzlich habe ich die Schnauze voll, und bevor ich mich zusammenreißen kann, baue ich mich hinter ihr auf. »Aber sicher doch, Nick, danke der Nachfrage«, sage ich mit verstellter Stimme.

Emilia starrt mich im kleinen Spiegel über dem Waschbecken an, als wäre ich total durchgeknallt.

»Hi, ich bin Emilia, so gesprächig wie ein Wischmopp«, mache ich weiter, obwohl mir klar ist, dass ich mich reichlich bescheuert aufführe.

Dann passiert etwas Bahnbrechendes: Die Eiskönigin öffnet tatsächlich den Mund. »Und ich bin Nick, so tiefgründig wie ein Eimer«, gibt sie zurück. Die Antwort kommt so schnell, so unerwartet, dass ich einen Moment lang nur dämlich in den Spiegel glotze. Emilia erwidert meinen Blick, eine Augenbraue ganz leicht erhoben. Ihre Stimme hallt in meinem Gedächtnis nach. Sie hat leise gesprochen, als wäre sie ein bisschen heiser, und mit einem undefinierbaren Akzent. Schwedisch vielleicht oder Niederländisch, keine Ahnung. Fest steht, dass sie nicht etwa verklemmt oder sonst irgendwie auf den Mund gefallen ist – nein, das Mädel scheißt ganz einfach auf mich.

Jetzt widmet sie ihre Konzentration demonstrativ wieder dem Putzeimer, in den noch immer das Wasser strömt. Sie benimmt sich, als dürfte sie dieses Ding keine Sekunde aus den Augen lassen, damit es nur ja nicht überläuft.

»Sag mal, hab ich dir was getan?«, frage ich und wundere mich kaum noch darüber, dass sie nicht antwortet. Trotzdem scheint in der folgenden Stille eine Sicherung bei mir durchzubrennen. Vielleicht liegt es daran, dass ich verdammt müde bin, an dieser Drecksarbeit oder am bevorstehenden Massaker bei Volkov … vielleicht auch an allem zusammen. Jedenfalls schießen meine Hände wie von selbst nach vorne, und ich schwöre, dass ich eigentlich nur den Hahn zudrehen will, um diese dämliche Show zu beenden.

Stattdessen greife ich mir den Eimer und schütte eine Ladung Wasser gegen Emilias Kopf.

Es ist einer von diesen Momenten, in denen man sich selbst von außen betrachtet und dabei denkt: Fuck, du warst auch schon mal cooler. Aber jetzt ist es passiert, und zumindest habe ich die Eiskönigin damit aus der Reserve gelockt. Keuchend springt sie nach hinten, stößt gegen meine Brust und taumelt an mir vorbei. So lässig wie möglich stelle ich den Eimer wieder im Becken ab und drehe den Wasserhahn zu, während ich mich auf eine hysterische Schimpftirade gefasst mache. Das wäre wenigstens mal eine normale Reaktion. Als es dann aber wieder ganz still wird, schaue ich mich verwirrt um – und schon im nächsten Augenblick fallen mir die Reste meines spöttischen Grinsens aus dem Gesicht.

Emilia macht gar keinen wütenden Eindruck, sondern wirkt völlig entsetzt. Beim Kontakt mit dem kalten Wasser muss sie sich instinktiv zur Seite gedreht haben, denn vor allem links sind ihre Locken und ihre Bluse klatschnass. Durch den hellen Stoff lässt sich sogar ein rotes BHKörbchen erkennen, aber das ist es nicht, woran mein Blick hängen bleibt. Stattdessen schaue ich ein paar Zentimeter weiter nach unten, auf Emilias Handfläche, die sie zitternd vor sich ausgestreckt hat. Zwischen mehreren Wassertropfen liegt dort ein gebogenes graues Ding mit einem dünnen Kabel oder Schlauch. Verwirrt mache ich einen Schritt nach vorne, kneife die Augen zusammen – und dann erkenne ich endlich, was sie in der Hand hält.

Es ist ein verdammtes Hörgerät.

Emilia

Nicks Gesichtsausdruck ist unbezahlbar. Der Anblick seiner weit aufgerissenen Augen und seines o-förmigen Munds tröstet mich fast über die Tatsache hinweg, dass mein linkes Hörgerät vielleicht komplett ruiniert ist. Zum ersten Mal heute Morgen wirkt dieser Kerl nicht betont lässig oder genervt, sondern einfach nur völlig verdattert.

»Du … du bist doch nicht etwa …«, beginnt er und fährt sich durch die schwarzen Haare, sodass sie ihm noch widerspenstiger vom Kopf abstehen als sonst. »Ich meine, bitte sag mir, dass du dieses Ding nicht brauchst, um mich zu verstehen.« Ungewohnt linkisch deutet er zuerst auf mein nasses Hörgerät, dann auf sein rechtes Ohr.

Ich lasse ihn absichtlich einen Moment lang zappeln, ehe ich den Kopf schüttle. Vor Erleichterung sackt er ein bisschen in sich zusammen, aber seine fassungslose Miene ist gleich wieder da, als ich antworte: »Ich kann mit meinen Hörgeräten nur sehr laute Geräusche wahrnehmen. Gespräche verstehe ich so oder so nicht.«

Nick hat die Augenbrauen eng zusammengeschoben, und es ist nicht zu übersehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitet. »Du bist taub? Aber – du kannst doch reden!«

»Redest du vielleicht mit den Ohren?«

»Häh?«, macht er, und bei aller Sorge und Wut fühle ich doch ein klein wenig Genugtuung darüber, dass zur Abwechslung mal er derjenige ist, der auf dem Schlauch steht.

»Mein Gehör funktioniert nicht, aber meinen Stimmbändern ist das zum Glück egal«, antworte ich übertrieben deutlich. Jetzt nur keinen Fehler machen, sage ich mir. Nur kein R oder CH verschlucken, sonst weiß er gleich, dass es so einfach dann doch nicht ist. »Ich hatte bloß mehr Arbeit beim Sprechenlernen als andere Kinder.«

In meinem Kopf blitzen Erinnerungen an endlose Sprachtherapie-Stunden auf, an elende Plackerei – aber auch an Nanas geduldige Lippen. Und an meine Kinderhand auf ihrem vibrierenden Hals …

Mühsam richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Nick, der sich zum zweiten Mal durch die strubbeligen Haare fährt. »Sorry, aber ich kapier es einfach nicht«, sagt er dann langsam. »Du trägst Hörgeräte, obwohl es nichts nützt. Und du kannst nichts hören, antwortest mir aber trotzdem, wenn …« Sein Mund erstarrt, während ihm anscheinend ein Licht aufgeht. »Oh.«

»Ich antworte, wenn ich deine Lippen sehen kann«, ergänze ich und bin mir jetzt hundertprozentig sicher, dass ich in der letzten halben Stunde jede Menge verpasst habe. Nicht nur, dass ich den Heimleiter wegen seines Schnurrbarts kaum verstehen konnte – anscheinend hat mich Nick auch noch während des Putzens mit irgendwelchen Kommentaren bombardiert, die mir allesamt entgangen sind.

Schlagartig gewinnen Hilflosigkeit und Zorn in mir wieder die Oberhand. »Und die Hörgeräte nützen mir sehr wohl etwas«, fahre ich heftiger fort. »Findest du es etwa nicht praktisch, wenn man mitbekommt, dass jemand schreit oder ein Auto hupt oder, keine Ahnung, vielleicht ein Feueralarm losgeht?! Aber fürs Erste hat sich das jetzt wahrscheinlich erledigt. Vielen Dank auch!«

Kaum habe ich zu Ende gesprochen, spüre ich entsetzt, dass mir Tränen in die Augen steigen. Es ist, als wäre die Sache mit dem Hörgerät der letzte Tropfen, der ein randvolles Fass zum Überlaufen bringt. Der Klavierunterricht war ein totaler Reinfall, ebenso wie die Party, und jetzt wurde auch noch einer der beiden Fäden gekappt, die mich wenigstens ein kleines bisschen mit der Welt der Hörenden verbunden haben.

Trotzdem werde ich jetzt ganz bestimmt nicht damit anfangen, wie ein Kleinkind zu heulen. Vor allem nicht in Gegenwart von jemandem, der mich ohnehin schon anstarrt wie ein Kalb mit zwei Köpfen.

Nick hat die Stirn in Falten gelegt und reibt sich den Nacken, während er offensichtlich nach den passenden Worten sucht. Egal, welche lahme Entschuldigung jetzt aus seinem Mund kommt, ich will sie auf keinen Fall sehen.

Abrupt wirble ich herum und renne die Treppe zum Erdgeschoss hinauf, stürme den Flur entlang, erreiche keuchend die Tür zu meinem Apartment. Erst in letzter Sekunde fällt mir ein, dass ich lieber versuchen sollte, Kris nicht zu wecken. Morgens leise zu sein – auch das musste mir meine Großmutter erst beibringen, wenn ich bei ihr übernachtet habe. Schließlich hat es bei meinen gehörlosen Eltern und Brüdern nie eine Rolle gespielt, wie laut ich war. »Tu einfach so, als wäre alles aus Glas«, sehe ich die Bewegung von Nanas Lippen in meinem Gedächtnis. Mit gezwungener Langsamkeit schließe ich deshalb auf und betrete das Apartment so vorsichtig, als würde ich über rohe Eier laufen. Die Eingangstür lasse ich wie immer einen Spaltbreit offen, genau wie die Tür zu meinem Schlafzimmer. Auf diese Weise kann ich von meinem Schreibtisch aus sehen, wenn Kris in den kleinen Vorraum vor unseren Zimmern kommt. Nicht gerade hilfreich, um sich geborgen zu fühlen, aber mir bleibt keine andere Wahl. Sehnsüchtig denke ich an die Signalanlage zu Hause … und spüre gleich darauf tief in mir drin einen Stich.

Als ob die Türklingel mit Blinkfunktion das Einzige wäre, was ich vermisse.

Krampfhaft versuche ich, diesen Gedanken zu verdrängen, während ich eine frische Bluse anziehe und meine Haare mit Handtuch und Bürste bearbeite. Die beiden Hörgeräte lege ich zum Trocknen in ihre Box, sodass meine Welt – ohnehin immer sehr leise – jetzt vollkommen still wird. Dafür taucht gleich wieder dieses Paar Hände vor meinem geistigen Auge auf, diese verflixten störrischen Finger, die mir praktisch zuschreien: Sieh das alles nicht als Rückschritt, sondern als Startschuss! Mach es jetzt! Trau dich endlich!

Ich kneife die Lider zusammen, bis violette Funken in der Dunkelheit zu tanzen beginnen, aber das hat überhaupt keinen Zweck. So einfach lassen sich meine Gedankenhände nicht vertreiben. Nachdem ich die Augen wieder geöffnet habe, klappe ich mechanisch meinen Laptop auf und will gerade mein Mailprogramm starten – da erreicht mich ein Anruf über Skype.

Mein Herz springt mir fast bis in die Kehle. Wäre ich auf frischer Tat bei einem Einbruch ertappt worden, mein Puls würde wohl kaum noch schneller rasen. Hektisch klicke ich auf den grünen Button, und es erscheint ein doppeltes Grinsen im Video-Fenster. Nicht nur Leo, sondern auch Max schaut mir von meinem Bildschirm entgegen. Ich kenne meine beiden Brüder so gut, dass ich sie problemlos unterscheiden kann, aber in einem Punkt gleichen sie einander wie ein Ei dem anderen: Beide ziehen mich für ihr Leben gerne auf.

»Was treibst du so?«, geht es auch schon los, sobald die Verbindung steht.

»Wie sind die Wiener Männer?«

»Wer versteckt sich da in deinem Schrank?«

Der Tanz ihrer Finger wird von der Kamera ein bisschen verzerrt, aber ich habe trotzdem keine Schwierigkeiten, ihnen zu folgen. Es fühlt sich eher so an, als würde mir eine Last von den Schultern genommen. Jetzt brauche ich nicht krampfhaft auf Lippen und Zungenspitzen zu starren, nicht um Worte zu ringen oder zu befürchten, dass meine Stimme versagt. Ich muss nur aufpassen, dass mir die beiden nichts von meiner Aufregung anmerken. Ohne zu zögern, huscht meine rechte Hand zu meiner Stirn und vollführt eine schnelle Geste.

»Blödiane. Ich bin nicht wegen der Männer hier, sondern zum Studieren, das wisst ihr genau.«

Meine Brüder wechseln einen Blick, und nach dem ersten Fragen-Feuerwerk kommt mir diese Gesprächspause quälend lang vor. Während ihre Hände stumm auf der Tischplatte ruhen, gebärden sie in meiner Vorstellung bereits weiter: Warum kannst du das nicht in München machen, nur eine kurze Bahnfahrt entfernt? Wolltest du einfach nur weit von uns weg?

Ich weiß, dass ich ihre Gedanken erraten habe, aber ich werde nicht darauf eingehen. Wie könnte ich ihnen jemals meinen Wunsch erklären, in der »Stadt der Musik« zu wohnen, von der Nana mir so oft vorgeschwärmt hat – oder mein Gefühl, erst die eine Welt verlassen zu müssen, um die andere zu betreten? Zu Hause hätte ich niemals die Freiheit gehabt, die ich brauche, um eine Antwort auf meine Frage zu finden.

Das heißt aber noch lange nicht, dass ich immun gegen Heimweh bin.

Obwohl ich mich dagegen zu wehren versuche, machen sich meine Hände selbstständig: »Erzählt mal, wie geht es Mama und Papa?«

Wieder zögern meine Brüder mit ihrer Antwort – gerade lang genug für einen Gewissensbiss. »Ganz gut«, meint Leo schließlich. »Sie sind sehr aktiv, so wie immer.«

»Momentan machen sie sich für Video-Sprechanlagen bei Nachtapotheken stark«, fügt Max hinzu. »Wir finden, dass sie sich lieber dem Drive-in von McDonald’s widmen sollten.«

Der Schmerz in meinem Inneren ist noch nicht abgeklungen, aber ich muss trotzdem lächeln. Seit ich denken kann, entwerfen meine Eltern Petitionen, gehen demonstrieren und schreiben Briefe an Politiker. Den Gehörlosen-Verein in unserer kleinen Heimatstadt haben sie gegründet, als meine Brüder gerade in die Schule kamen, und es sieht nicht so aus, als wollten sie jemals aufhören, für unsere Rechte zu kämpfen.

»Richtet ihnen liebe Grüße von mir aus und … dass ich mich bald melde«, gebärde ich ausweichend.

»Klar, wenn du mal nicht damit beschäftigt bist, die Wiener Jungs zu studieren.«

Frustriert werfe ich beide Hände in die Luft. »Herrgott, würdet ihr bitte damit aufhören? Nur zu eurer Information: Bis jetzt habe ich hier noch überhaupt keine Gehörlosen kennengelernt. Und der einzige Junge, mit dem ich näher zu tun hatte, war total von sich selbst eingenommen.«

»Tja, was erwartest du denn von einem Hearie?«