Umschlag

Nicola Förg, Jahrgang 1962, gehört zu Deutschlands erfolgreichsten Krimiautorinnen. Zudem arbeitet sie als freie Reisejournalistin für namhafte Tageszeitungen, Publikumsmagazine und Fachmagazine – vor allem für solche, die Bergtourismus, Ski-Spaß und Reiterreisen zum Thema haben – und hat ein Dutzend Reiseführer und Bildbände verfasst. Sie lebt in Prem im Allgäu. Im Emons Verlag veröffentlichte sie zahlreiche Kriminalromane, die mehrere Auflagen erzielten, sowie ihren Band mit Katzengeschichten.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Andreas Strauß/Lookphotos
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Dr. Marion Heister
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-238-0
Originalausgabe

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Für Heiko,
der im Himmel hoffentlich guten Lugana bekommt

Die Krähen schrein

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:

Bald wird es schnein. 

Weh dem, der keine Heimat hat.

Friedrich Nietzsche

Prolog

Es lag nicht an den Stiefeln, die ihr zu klein waren. Sie hatte ihre eigenen noch mitnehmen wollen, aber diese fremden Menschen mit der fremden, schnellen, lauten Sprache hatten sie nicht mehr ins Haus gelassen. Sie hatte Blasen, überall, aber es waren nicht diese Schmerzen, wegen derer sie nicht mehr gehen konnte. Sie war ja lange auf dem Wagen gesessen, bis das Pferd im Geschirr strauchelte, trudelte, versuchte, sich aufzurappeln, und doch zusammenbrach. Hinz löste es aus dem Geschirr und sagte, dass sein Bein gebrochen sei. Mama gab den Befehl, es zu erschießen. Sie ließen den alten Hans, das treuste Pferd der Welt, einfach liegen.

Eine Weile zogen Hinz und Ingolf, der Nachbar aus dem Haus am Ende der Allee, den Wagen noch mühsam, aber er war einfach zu schwer. Sie luden einige Dinge um, sie ließen vieles zurück. Vom Bild wollte Mama auf keinen Fall lassen. Dabei war es groß und sperrig. Aber das Bild musste mit. Nun waren sie gezwungen, alles zu Fuß zu gehen, und es waren nicht die Stiefel. In ihrer Brust wurde es immer enger, der Husten war so schlimm. Wurde immer schlimmer. Und dann kam ein Tag, als ein großer Schmerz in ihr explodierte. Und dann war da nichts mehr.

EINS

Jede künstlerische Leistung ist ein Sieg über die menschliche Trägheit.

Herbert von Karajan

»Wie kann man nur solche Salatberge vernichten?«, fragte Gerhard Weinzirl und schnitt beherzt in ein Schnitzel, das die Größe eines Klodeckels hatte.

Jo Kennerknecht schüttelte den Kopf. »Wer solche Lappen frisst, mokiere sich bitte nicht über Grünzeug. Außerdem ist da Mozzarella drauf und Bergkäse und …«

»… und es sei dir vergönnt, wenn auch ganze Rudel von Kaninchen nun verhungern müssen«, grinste Gerhard.

»Kaninchen sind keine Rudeltiere«, warf Evi Straßgütl ein, die auch an einem Salat kaute, der aber eine Nummer kleiner war als der von Jo.

»Ich glaube mich zu erinnern, dass unsere geschätzte Tierschutz-Jo mich einmal belehrt hat, dass Karnickel überaus gesellig sind und nicht allein gehalten werden dürfen, weil sie sonst ganz depressive Hoppler werden.«

»Rudel heißt das aber trotzdem nicht«, maulte Evi, deren Handy läutete.

Gerhard sah sie missbilligend an, da saß er endlich mal zu einer zivilen Mittagszeit im Garibaldi in Schongau, aß – wiewohl beim Sizilianer – das, was ein ganzer Kerl brauchte, und dann wagte es Evi, diese Kontemplation zu stören. Es war ja eh schon schwierig, etwas zu finden, was der vegetarischen Evi gefiel, was die Fast-Vegetarierin Jo mit ihrer Käsesucht kombinieren konnte und wo auch er satt wurde. Das Garibaldi war allemal ein hervorragender Kompromiss, auch wegen der Grappas, die die antialkoholische Evi zwar ablehnte, die aber gar nicht antialkoholische Jo gerne annahm.

Evi war von der Terrasse aufgestanden und hinaus in die Gasse gegangen.

Gerhard folgte ihr mit seinen Blicken, sie telefonierte kurz, es wehten ein paar Wortfetzen herüber.

»Welche Schleife? Am Kies, verstehe ich das richtig? Ja, sicher.« Und was Gerhard ganz genau verstand, war dieses »Wir kommen«.

Das verhieß nichts Gutes, gar nichts Gutes!

Als Evi wieder am Tisch stand, war ihr hübsches Gesicht angespannt, und auch eine Evi bekam ein paar Falten, was bei ihrem Mineralwasserkonsum eigentlich gar nicht hätte sein dürfen.

»Weinzirl, wir müssen. Eine Tote!«

»Aber doch nicht mittags!«

»Wie lange sie da schon verweilt, weiß ich nicht. Eventuell hätte sie ihr Ableben für dich besser terminieren können.«

»Wieso rufen die dich an?«

»Weinzirl, was für eine Frage! Weil du dein Handy nie an hast! Und weil ich dieses Diensthandy mitführe, weil mein Kollege ja anscheinend extreme Angst vor Handys hat!«

Evi machte eine Schnute und warf einen schnellen Seitenblick auf Jo. Diese verstand, was der Blick besagte. Sie kannten sich alle so lange, dass man ohne Worte auskam. Oder ausgekommen wäre, denn die Frauen laberten ja doch ständig, wie Gerhard fand, und er wunderte sich einmal mehr, dass er den Löwenanteil seiner Zeit mit nervigen, neugierigen und emotionalen Frauen zubrachte. Die Kollegin – eine Frau. Die beste Freundin – eine Frau. Ihm mangelte es an kernigen Männern im Umfeld.

Jo verzog das Gesicht. »Ja, ihr dürft noch nichts sagen. Ihr könnt euch dann im Auto austauschen. Alles klar. Haut ab. Ich zahle. Ich wollte euch eh einladen.« Sie stutzte. »Wenn ich allerdings geahnt hätte, was der Weinzirl alles frisst …«

Gerhard war aufgestanden. Er sandte dem Rest des Schnitzels einen sehnsüchtigen Blick und nickte Evi zu.

»Pack mers.«

Mit so einem »pack mers« hatten schon viele Fälle begonnen, schwarze Tragödien, tiefe Abgründe und bizarre Abstrusitäten. Nun war es lange still gewesen im Pfaffenwinkel, erste Blätter fielen auf den noch sommerwarmen Boden. Kein schöner Land in dieser Zeit  Die Gewitterfronten waren abgezogen, die Morgen gaben sich kühl, die Nachmittage warm und trocken, und wenn die Sonne, die schon eine flache Bahn zog, versank, kroch die Feuchtigkeit rasch aus den Wiesen.

Weinzirl sah auf die Uhr. Es war halb zwei, irgendwo schlug eine Glocke, es hallte in den Altstadtgassen. Neuerdings saßen sie öfter in Schongau, was dem Umstand zuzuschreiben war, dass die immer unstete, laute und schier grenzenlos energiegeladene Jo mal wieder dem Berufsleben ein Schnippchen geschlagen hatte. Sie hatte sich selbstständig gemacht, ihren Touristiker-Job an den Nagel gehängt und eine PR-Agentur eröffnet. Dass Jo erst siebenundvierzig hatte werden müssen, um festzustellen, dass sie in Hierarchien schlecht funktionierte, war ein Treppenwitz.

Jo war zeitlebens eine Anarchistin gewesen, der Schrecken jedes Chefs, ein Nachtmahr jedes Teams, und von Altersmilde war bei der Frau keine Spur. Dass diese Agentur aber auch noch eine Frau Kompagnon hatte, machte das ganze Unternehmen für Gerhard noch bedrohlicher. Kassandra war mit im Boot: Kassandra, ehemalige Seherin, einst esoterische Lebensberaterin, längst ohne Kristallkugel und mit einer seriösen Ausbildung zum Coach. »Zu zweit sind wir unerträglich«, hätte die Agentur heißen müssen, sie hieß aber »WFB – Wo der Fluss die Berge küsst«. Auch schön!

Die Agentur hatte bereits Kunden, anscheinend konnten die beiden Mädels was. Und Jo war halb am Weg an den Gardasee in irgendein Luxusresort, das sie fürderhin auf dem deutschsprachigen Markt zu betreuen gedachte. Ob Jo da die Richtige war? Offen bis weit über die Unhöflichkeit hinaus. Unbeeindruckt von Glanz, Gloria und Labels. Optisch immer eher freaky bis nachlässig gekleidet. Ob die am Lago sich klar waren, was sie sich da ins Boot geholt hatten?

Gerhard grinste kurz in sich hinein und straffte die Schultern. Er wandte sich Evi zu.

»Also dann!«

Sie waren ins Auto eingestiegen, und Gerhard sah Evi erwartungsvoll an. »Nun, worum geht es? Wer? Wo? Wann? Ich hab nur Wortfetzen gehört. Schleife und Kies.«

»Übst du dich in W-Fragen? Wenn ich das richtig verstanden habe und das richtig verorte, dann liegt auf der Kiesbank der Litzauer Schleife eine Tote. Gefunden von zwei Kanuten, die die Polizei verständigt haben. Die Kollegen sind vor Ort, es scheint nur etwas schwierig zu sein, da hinzukommen. Aber du bist doch der Held aller Mountainbikes und warst da sicher schon biken!«

Was er nicht war. Er lebte noch immer im Salzgraben bei Weilheim, und er hatte sich längst die Attitüde dieses Landkreises Weilheim-Schongau angewöhnt: Jenseits des Hohen Peißenberg war Terra incognita. Dabei kam er aus dem Allgäu, dorther, wo die wilden Alemannen hausten, und dann hatten sie es die letzten Jahre oft mit Fällen in Peiting oder am Fuße des Auerbergs zu tun gehabt. Und dennoch war sein Freizeitverhalten typisch weilheimerisch. Er radelte im Nahraum, nach Wessobrunn oder Pähl, er radelte auch nach Weilheim zum Dachs oder nach Stillern. Er joggte mit Seppi im Wald, oder er fuhr gleich in die Berge, bikte aufs Hörnle und den Herzogstand, auf den Buchenberg oder in Österreich im Lechtal. Vilser Alm, Musauer Alm – das waren seine Bergkumpane.

»Ich weiß wohl, dass die Litzauer Schleife bei Burggen liegt und da irgendwelche geschützten Pflanzen und Viecher wohnen, das war es dann aber auch.«

Also hielten sie auf Burggen zu, fragten sich im Rotherhaus durch und landeten nach ein paar schepprigen Feldwegen schließlich an einer großen Tafel. Sie stiegen aus. Eine gewellte Hinfläzbank blickte südwärts, zwei ältere Wandersleutchen blickten auf. Hinein in die Berge, die da in gebührendem Abstand dräuten, hinunter in den Lech, der in der Tat eine gewaltige Schleife zog. Sie sahen diese besagte Kiesbank, auf der ameisenkleine Menschlein standen. Gerhard schaute sich um. Einer der Wanderer hatte ein Fernglas dabei.

»Darf ich?«, fragte Gerhard, entwand dem etwas überraschten Männlein das Okular, und dann sah er, dass es sich um fünf Ameisen handelte. Zwei Kollegen in Uniform, zwei weitere Männer und eine Ameise, die lag. Zwei Kajaks – oder waren das nun Kanus? Wasser war nie Gerhards Element gewesen – lagen auch da, halb aus dem Wasser gezogen.

»Gib mir mal das Handy«, sagte er zu Evi und wählte die Nummer, die Evi angerufen hatte.

In einer artistischen Supertalent-Leistung, Handy und Fernglas gleichzeitig zu bedienen, sah Gerhard auch, dass der Kollege dranging. Dessen Auskunft war klar und dürftig zugleich. Die Frau war tot. Sie sehe nicht so aus, als sei sie angeschwemmt worden, sagte er. Sie habe keine Schussverletzung. »Sie schaugt eigentlich ganz guat aus«, schloss der Kollege.

Der Kollege gab sich dann auch alle Mühe, Gerhard zu erklären, dass sie auf der falschen Flussseite standen, und beschrieb einen Weg, der so klang, als müsse man den Orbit verlassen oder zumindest zweimal den Erdball umrunden.

Die beiden älteren Herren hatten fasziniert zugehört, kombiniert, und der des Fernglases so rüde Beraubte fragte gestreng: »Eine Tote, und Sie sind von der Kripo?«

»So ist es«, sagte Gerhard und gab ihm das Glas zurück.

»Kennen S’ den Baier?«

»Meinen Vorgänger? Den Hauptkommissar a. D.?«, fragte Gerhard zurück.

»Ja, oider Spezl von mir.« Er sah durch das Glas. »Ja, schaugt dod aus.«

»Schön, dass Sie diese Einschätzung teilen. Da Sie ja ortskundig sind: Wie kommen wir da jetzt am schnellsten hin?«

»Den Hang runter und schwimmen?« Der alte Herr lachte. »Naa, über de Riesen! Es hoaßt de Riesen, ned das oder der Riesen.« Er zog eine Karte aus dem Rucksack und erklärte den Wegverlauf. Seine Augen leuchteten, das Ganze machte ihm sichtlich Spaß. Er begann, die Vorzüge diverser Karten zu erläutern, merkte, dass er etwas abdriftete, und schloss: »Ich bin Kartograph. Ich liebe Karten. Das ist doch nix, so eine Karte am Smartphone. Des san ungute Zeiten, so immer online. Karten gehören auf Papier. A Karte im Internet is doch ned am Leben!«

Karte und Frau nicht mehr am Leben, darum ging es. Gerhard und Evi hätten ja gerne noch weiter in Mercator-Projektionen geschwelgt, aber da wartete eine tote Frau, die angeblich noch ganz gut aussah.

»Und grüßen S’ den Baier, den oiden Schwerenöter!«, rief der Mann ihnen noch hinterher.

»Hast du das jetzt verstanden, wo wir hinsollen?«, fragte Evi.

»Logisch, Mauserl!«, rief Gerhard, betonte das so richtig boarisch und schoss über Feldwege, donnerte über Radwege, passierte den Lech und hatte alsbald immerhin wieder eine Teerstraße unter den Reifen. Sie durchfuhren einen Weiler.

»Kreuth, du weißt es noch«, sagte Gerhard. »Auch ein Kumpel von Baier, dieser Archehof, wo die Thüringer Waldziege meckert und das Augsburger Huhn scharrt.«

Evi tippte sich vielsagend an die Stirn. Gerhard fuhr hurtig durch eine stille Landschaft, Wiesen und Waldstücke wechselten sich ab, Weiler hießen nicht umsonst hier »Oed«. Oder »Riesen«. Diese Riesen hatten dann auch eine »riesige« Straßenkreuzung, wo Gerhard anhielt. Ein Bauer, der versuchte, ein Kaltblut samt aufmüpfigem Fohlen auf eine andere Koppel zu bugsieren, musste befragt werden. Evi verstand von dem zahnlos vorgetragenen Dialektschwall nichts, Gerhard hingegen wendete, fuhr ein Stück zurück und bog dann nach links ab. Der Weg wurde schlechter, enger, und irgendwann einmal trafen sie auf den Streifenwagen.

Sie eilten durch ein Dickicht und kamen ans Lechufer. Wo die Ameisen nun zu echten Menschen herangewachsen waren. Gerhard nickte den Kollegen zu und trat langsam näher. Die tote Frau war zierlich, nicht groß. Sie trug einen Fleecepullover, eine Outdoorhose und brandneue Bergstiefel, die etwas überdimensioniert waren für den Lech. Steigeisenfeste Bergschuhe brauchte man hier sicher nicht. Das gesamte Outfit stammte von namhaften und ganz schön teuren Ausstattern. Keine Discounter-Produkte. Die Frau lag leicht seitlich, fast friedlich sah sie im ersten Moment aus. Man konnte ihr Gesicht nicht ganz sehen, aber was man sehen konnte, waren geronnener Speichel im Mundwinkel und eine ins Lila gehende Gesichtsfarbe. Eine Färbung, die sich ungut ausnahm zu den blonden Haaren mit kupfernen Strähnchen. Die Frau war wohl alles zwischen vierzig und fünfzig Jahren. Gerhard hatte die Stirn gerunzelt. Wie kam man auf die Idee, an so einem entlegenen Ort zu sterben? Eine Wasserleiche war sie definitiv nicht. Diese Frau hatte sicher nicht im Wasser gelegen.

»Ruft die KTU an und erklärt denen, wie sie herfinden«, sagte Gerhard zu den Kollegen und betrachtete die Frau weiter. Er zog Handschuhe über und griff in die Jackentaschen. Es gab kein Handy, keine Geldbörse, keinen Rucksack, es schien so, als hätte jemand alles entfernt. Gerhard zögerte kurz. Dann fingerte er aber doch in die Gesäßtasche ihrer Jeans und wurde fündig. Da steckten vier etwas verbeulte Visitenkarten. Die Schrift war geschwungen, sie war erhaben, die Karten sahen edel aus, und es waren wohl ihre.

 

Margot von Eugenius

Niemannsweg 127

24 105 Kiel

www.farbe-macht-froh.eu

»Eine Frau aus Kiel am Lechstrand? Tot dazu«, sagte Evi mehr zu sich selbst.

»Sie mag anscheinend die Waterkant«, meinte Gerhard und fand sich selbst nicht witzig.

»Eine Touristin wahrscheinlich.«

»Ja, aber die hatte mit Sicherheit irgendwas dabei – Rucksack, Wasserflasche, ein Handy. Das ist hier der totale Arsch der Welt, wer verirrt sich denn hierher? So ohne alles. Es sei denn, vom Wasser aus, aber das würde ich ausschließen.«

»Hmm.« Evi nickte und stieß dann ein »Shit!« aus.

»Evi!«

»Fast kein Netz. Das lädt nicht hoch. Ich wollte sie googeln oder mir diese Homepage mal ansehen.«

»Siehst du, und das ist der Grund, weswegen ich nicht bei WhatsAff bin und keinen Gesichtsbuch-Account habe! Im entscheidenden Moment nutzt dir dieses Deppenboxen nämlich rein gar nix. Von wegen smart!«

Evi ignorierte das. »Margot von Eugenius? Heißt man so?«

»Künstlername?«, mutmaßte Gerhard. »Eine Malerin. Wegen ›Farbe macht froh‹. Oder eine Schriftstellerin?«

»Na ja, wir werden es erfahren. Wenn wir mal wieder in der Zivilisation anlanden«, sagte Evi, die generell wenig von Natur hielt, missmutig.

»Ja, lass uns noch auf die KTU warten«, sagte Gerhard und wandte sich den beiden Kanuten zu. Diese wirkten sehr gebeutelt. Gut, man traf ja nicht so häufig auf tote Frauen. Das konnte einem schon zusetzen.

Sie stammten nach eigenen Aussagen aus Aichach und hatten vorgehabt, vom Schongauer Lechsee nach Dessau zu schiffen. Da sollten die beiden Freundinnen dann warten und die Männer abholen. Sie waren beide vorbildliche Kameraden, weil sie sehr wohl wussten, dass es von März bis September ein Betretungsverbot für die Uferbereiche gab. Nun, Ende September, befanden sie ihr Eindringen als akzeptabel.

»Es macht ja einen Unterschied, ob einer mal bis an die Büsche läuft oder ob zwanzig Leute campieren und Party machen«, sagte der eine.

Die Büsche waren auch sein Ziel gewesen, er hatte mal austreten wollen und dann die tote Frau entdeckt. Den Kollegen alarmiert, dann die Polizei. Mit sehr schwachem Netz hatten sie die Leitstelle erreicht, und alles war seinen Gang gegangen. Die beiden waren wirklich nette Jungs, beide Lehramtsstudenten, die unter anderem Biologie zu lehren gedachten.

»Die Kinder sind so weit weg von der Natur. Sie müssen Grenzen respektieren lernen. Gebote sind Höflichkeit gegenüber der Natur«, sagte der andere.

Unhöflicherweise hatte diese Dame Eugenius allerdings die Tour der beiden durchkreuzt. Gerhard ließ sich die Adressen geben und entließ sie zu ihren schnittigen roten Flussfahrzeugen. Bei denen war nichts zu holen. Außer der Erkenntnis, dass die Jugend besser war, als man immer annahm. Und er hoffte für die Jungs, dass sie in Bayern nach dem Studium einen Job ergattern würden. Denn Bayern bildete ja seine jungen Leute aus, die mit fabelhaften Schnitten dennoch keine Stellen bekamen. Und dann in andere Bundesländer zogen, wo man sich über die bayerischen Junglehrer freute. Die Tochter einer Bekannten war nun nach Mecklenburg gegangen, weil sie dort die Seenlandschaft ganz erträglich fand. Berlin hatte sie verworfen wegen der Größe, Sachsen hatte sie auch ausgeschlossen – allein wegen der Sprache!

Mit dem Eintreffen der KTU und des Arztes war rege Geschäftigkeit ausgebrochen. Das Überraschende trat zutage, als man die Frau bewegte. Auf der Kopfseite, auf der sie gelegen hatte, war eine klaffende Wunde. Gerhard bezweifelte schon beim ersten Ansehen, dass sie einfach nur ungut gestürzt war. Jemand hatte sie mit hoher Wahrscheinlichkeit erschlagen. Und das wohl mit einem großen Stein. Davon gab es hier genug. Gerhard blickte auf den Lech. Der Mörder hatte es leicht gehabt. Er hatte das Mordwerkzeug einfach wegwerfen können, sie würden es nie finden. Wahrscheinlich war sie gestern getötet worden.

Gerhard wollte nun vor allem wissen: Wer war diese Margot? Was hatte sie getan, um in einer solch schönen Landschaft zu enden? An so einem perfekten Herbsttag auf eine Kiesbank gebettet, wo man fast hätte annehmen mögen, sie hätte sich gesonnt. Für den Moment war hier nichts zu tun, die Kollegen suchten die Umgebung nach einem eventuellen Rucksack ab, aber wenn – durch wen auch immer, der diese Frau aus dem Leben gerissen hatte – ihre Utensilien im Fluss gelandet waren, dann hatte die Strömung sie sicher mitgenommen und anderswo ausgespien.

Gerhard und Evi kamen wieder nach Riesen, hielten diesmal auf die B 17 zu und passierten den Deutensee, der da so moorig in einer bunten Herbstlandschaft lag. Auch dieser See war Gerhard bisher entgangen.

Retour im Büro konnte Evi den PC bemühen und runzelte die Stirn. Gerhard rückte einen Stuhl dazu und starrte auf den Bildschirm. Genau genommen verstand er null, was diese Dame da eigentlich machte. Evi hingegen pfiff durch die Zähne.

»Das ist ja Frau Margot!«

»Bitte? Ich kenn nur Frau Antje!«

»Bist du des Lesens nicht mächtig?«, fragte Evi. »Da steht es doch!«

»Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Ich weiß. Aber nur, wer das Gelesene auch versteht, der profitiert. Oder so ähnlich. Ich kapiere kein Wort. Who the fuck is Frau Margot?«

»Ach, Weinzirl! Du bist so monothematisch. Lass mich mal etwas ausholen.« Evi schnaubte. »Also, es gab doch die letzten Jahre diesen Häkeltrend. Diese beiden myboshi-Häkeljungs, die das erfunden haben, dass jeder Mützen gehäkelt hat.«

»Ich nicht!«

»Das ist mir klar. Aber der Amtstierarzt häkelte, die Vorstandsfrau bei einem Chemieriesen, nicht bloß Lieschen Häkelmüller. Und du hast doch auch von all den häkelnden Freunden und Freudinnen jede Menge solcher Mützen bekommen: schöne, schräge, superdoofe.«

Das stimmte: Er hatte von seiner Vermieterin eine eher superdoofe bekommen.

»Evilein, was will mir das nun sagen?«

»Ja, warte! Häkeln ist schon wieder out. Dabei kommt ja nun die stade Zeit, die Winterzeit, wo man naturgemäß mehr drinnen ist und häkeln könnte. Und da gibt es nun den neuen Trend mit den Zen&Tangle-Büchern.«

»Bitte mit wem?«

»Das sind Malbücher, Weinzirl. Man/frau malt nun aus! Malt im Zen&Tangle-Ausmalbuch Blumen und Tiere und asiatisch inspirierte Motive. ›Zen Inspirations‹, ›Relaxing with Zen‹ und so weiter heißen diese Bücher. Das ist echt sehr beliebt.«

»Evi, du willst mir sagen, dass erwachsene Menschen mit Buntmalstiften Bücher ausmalen?«

»Ja, das entspannt total! Malen, Farben auswählen, versuchen, nicht über die Kontur zu schmieren. Da ist man völlig versunken.«

»Evi, bitte! Ich kann völlig versunken ein Weißbier trinken, das ist Entspannung!«

»Warte mal, Weinzirl«, sagte Evi und verschwand.

Sie kam wenig später wieder mit einem Buch mit knallbuntem Cover. Gerhard blätterte es auf: Vorne drin stand wie in seinen alten Schneider Taschenbüchern – Schloss Schreckenstein hatte er geliebt – »Dieses Büchlein gehört …«. Und Evi hatte da reingeschrieben, in feiner Kleinmädchenschrift: »Evi Straßgütl«.

»Du hast so was? Evi, bitte! Und der international bekannte Gehirnchirurg schreibt dann in Medizinerklaue ›Professor Dr. Dr. Rübensehl‹ rein? Ist das dein Ernst?«

»Ich sag doch, das entspannt. Jeden entspannt das, täte dir auch gut! Und unsere Margot von Eugenius ist eine ganz Große der Szene. Sie hat Wahnsinnsauflagen mit diesen Büchern, und sie macht nicht nur Zen&Tangle-Grundstrukturen, sie ist eben auch Frau Margot.«

Gerhard stöhnte. Evi fuhr fort: »Sie macht auch Hand Lettering.«

»Was?«

»Hand Lettering, im Prinzip eben Schönschreiben. Das kann ja keiner mehr der Generation SMS und E-Mail. Und in Frau Margots Büchern sind dann diese mehrstreifigen Zeilen, wo man üben kann. Sie macht Kurse, sie reist durch die Welt damit!«

»Evi, wir hatten Schreiblernhefte aus einer Zeit, die mir gerade heute sehr lange her erscheint. Ich war sauschlecht in Schönschrift, aber spinn i? Die verdient Geld damit, dass sie Leuten Schönschreiben lehrt?«

»Ja, da kannst du dann deine Tassen selbst beschriften oder Einladungen per Hand schreiben. Oder was auf die Wand schreiben. Das ist individuell, das ist schön.«

Gerhard atmete tief durch. »Ich will keine Tassen beschriften! Auch keine Weißbiergläser. Aber gut, ich fasse zusammen: Margot von Eugenius malt Umrisse, die irgendwelche Deppen dann ausfüllen?«

Evi nickte zögerlich. »So klingt es natürlich banal.«

»Es ist Schwachsinn. Pure Idiotie! Und diese Bücher haben echt hohe Auflagen?«

»Ja, sehr hohe, und es gibt jede Menge Verlage, die davon leben.«

Gerhard schüttelte den Kopf. Das war wirklich nicht zu fassen. Warum wurde die Menschheit eigentlich sekündlich blöder?

»Und zudem gibt sie Schönschreibkurse und verdient damit auch noch Geld?«, fragte er nochmals nach.

»Ja, ich habe in einer Zeitschrift mal ein Porträt über sie gelesen, und da stand, dass sie bei einem vierstündigen Seminar rund tausend Euro bekommt.«

Netter Stundensatz, dachte Gerhard. Irgendwas machte er falsch. Er schüttelte den Kopf. Überlegte.

»Und diese internationale Mal-Liesl liegt also am Lech? Bei uns?«

»Ja!« Evi klang ganz unglücklich.

»Evilein, wenn sie in München ermordet worden wäre oder am Piccadilly Circus oder am Eiffelturm oder sonst wo, das würde mir ja einleuchten, aber an einem völlig isolierten Platz? Was wollte sie da? Das hat doch einen Grund!«

Evi sagte nichts.

»Wir müssen abwarten, ob der Fundort auch der Tatort ist. Ob sie transportiert wurde. Aber selbst dann: Muss uns der Ort was sagen? Und was ist mit einem Auto? Wie ist die dahingekommen?«, dachte Gerhard laut nach.

»Ich weiß es nicht!« Das kam kläglich.

Evi schien der Tod dieser Frau wirklich nahezugehen. Dabei hatte sie diese nicht gekannt, und ein Promi im Sinne von einem Popstar war sie ja nun nicht gerade. Auch keine Schauspielerin, deren Name einem etwas sagte. Popstars, Stars und andere Wichtigkeiten gingen Gerhard sowieso am Allerwerstesten vorbei. Der Einzige, dessen Tod ihn vor Kurzem wirklich berührt hatte, war Bowie. Danach hatte er »Heroes« mehrmals im Bus gehört, geschwelgt in seinen Jugenderinnerungen aus dem Kempten der achtziger Jahre – und war fast etwas melancholisch geworden. Was bei ihm ja echt was hieß!

Aber er hatte nun mit dieser Frau zu tun, deren Tun ihm völlig spanisch vorkam. Womit man heute Geld verdienen konnte, es war kaum zu fassen! Allerdings hatte das tödlich geendet. In Gerhard stiegen Bilder auf von irgendeinem Stalker, einem narrischen Fan, und genau das waren Szenarien, die ihm gar nicht gefielen. Dann schon besser ein Familiendrama, ein eifersüchtiger Ehemann – was auch immer. Er würde wohl ein wenig im Leben dieser Dame stochern müssen.

Er gab den Kollegen Melanie Kienberger und Felix Steigenberger den Auftrag, mal nach einem Auto zu forschen, überhaupt so viel wie möglich über die Dame zusammenzutragen. Evi, die immer schneller, effizienter, schlanker und schöner war als er – die beiden letzteren Dinge waren ja klar –, war auch schon aktiv geworden.

»Ich weiß jetzt, warum sie hier war. Sie hatte zwei Seminare hier in der Region. An der VHS.« Da Gerhard nichts beitrug, machte Evi weiter. »Nächste Woche wäre ein Seminar in Bregenz bei einer Kulturinstitution gewesen, dann eines in Peißenberg und eines in Murnau. Die Woche drauf in München im Gasteig. Unsere Seminare hier, also die in der Umgebung, sind jeweils von der örtlichen VHS organisiert. Die Veranstaltungen waren nicht im Gesamtprogramm angekündigt, sie scheinen relativ spontan geplant worden zu sein.«

»Na, stell dir vor, du hättest es erst erfahren, als sie schon wieder weg gewesen wäre. Evi, das wäre ja eine Tragödie für dich gewesen. Das hätte dich doch sehr gewurmt!«

»Weinzirl, du bist ein Arsch! Soll ich mich jetzt freuen, dass sie tot ist?«

Ja nun, innerlich gab Gerhard zu, dass sein Humor sich nicht jedem erschloss. Er musste sich bessern. Äußerlich blieb er emotionslos und sagte: »Dann lass uns mal nach Peißenberg zur VHS fahren. Die haben die Dame ja wohl gebucht. Vielleicht wissen die auch, wo sie hier wohnte und so weiter.«

In Peißenberg hatte sie wohl nicht residiert, weder die Post noch einige Pensionen würden einer solchen Dame genügt haben, nahm Gerhard einfach mal an. Generell war die Spitzenhotellerie im Pfaffenwinkel recht dünn gesät, hierher kamen Wanderer, Radfahrer oder Vertreter und Handwerker. Die kamen mit den Gasthöfen und Pensionen gut klar. Aber so eine? Die brauchte doch sicher Champagner und ein Spa. Und Nouvelle Cuisine. Dass er aber auch früher oder später immer aufs Kulinarische kam! Sein jäh unterbrochenes Mittagessen lag ja nun schon lange zurück. Er würde endlich mal wieder zu Toni gehen und einen richtig großen Aristoteles-Teller essen. Wenn sie schon in Peißenberg waren.

Die smarte Evi hatte die Leiterin der VHS angerufen, sie eierten aus dem ewig verstauten Weilheim heraus, an Oderding vorbei und hinein nach Peißenberg, das immer neue Kreisel und Abbiegespuren bekam. Vielleicht Fürze des Verkehrsministers, der ja aus dem Bergbaustädtchen stammte.

Die VHS-Dame erwartete sie schon.

Gerhard hatte schon öfter das Vergnügen mit Marianne Mai gehabt, die Frau war klein und zierlich, und er war immer mal wieder fasziniert gewesen von ihrer Farbwahl. Heute trug sie diverse Lilatöne zu Senf – man sah sie sofort, trotz ihrer kleinen Statur. Ja, die Peißenberger VHS hatte Margot von Eugenius gewinnen können, weil Marianne Mai bei einem Treffen aller bayerischen VHS-Leiter und -Leiterinnen mehr zufällig erfahren hatte, dass die Dame in Süddeutschland weilte, und mal angefragt hatte, ob sie bei ihrer Tournee zwischen Bregenz und München nicht noch zwei Stopps einlegen könnte. Was von Eugenius zugesagt hatte.

Tournee. Wie das klang!

»Ihre Gage ist aber nicht so ganz auf VHS-Level?«, fragte Gerhard.

»Nein, aber wir kooperieren mit der VHS in Weilheim und Schongau, und dann waren die Anmeldungen ja gewaltig. Per heute«, sie tippte auf ihrer Computertastatur herum, »schon zweihundertfünfzig.« Sie stutzte. »Warum wollen Sie das eigentlich wissen?«

Ja, das war die Kernfrage, und Gerhards Vorsätze zur Besserung von gerade eben waren verflogen.

»Da werden Sie wohl den Interessenten absagen müssen, Frau Mai.«

Evi trat ihm auf den Fuß.

Gerhard informierte die verdutzte Frau Mai vom Ableben der Dame, leierte seinen Sermon herunter, dass er noch nichts wisse, faselte von ermittlungstechnischen Vorgaben und schloss: »Wissen Sie denn, wo Frau von Eugenius gewohnt hat?«

»Ich wusste gar nicht, dass sie schon hier ist«, flüsterte die VHS-Leiterin.

»Sie haben ihr also kein Zimmer gebucht oder so?«, fragte Evi.

»Nein, in unserem Gespräch hat sie nur gesagt, dass die zwei Termine gut passen würden, weil sie sowieso in der Nähe zu tun habe.«

»Und wo?«

»Das hat sie nicht gesagt. Sie hat lediglich versichert, eine Stunde vor der Veranstaltung da zu sein. Für die Aufbauten, für den Soundcheck. Und so weiter.«

Das war schlecht, sauschlecht sogar! Was hieß schon »in der Nähe zu tun«? Das konnte ja auch privater Natur sein, das würde mühsam werden.

Evi und Gerhard verabschiedeten sich, nachdem sie im Prinzip nichts erfahren hatten. Frau Mai hatte einmal mit von Eugenius’ Agentin telefoniert, alles andere hatten sie per E-Mail gemacht. Ja, warum auch nicht, auch wenn diese Dame ein Promi der Hand-Lettering-Szene gewesen war, dieser VHS-Kurs war nur einer von vielen gewesen – irgendwo zwischen Pilates, Cupcakes leicht gemacht, Yoga 1, Word für Senioren und einer Veranstaltung mit dem schönen Titel »An apple a day keeps the doctor away«.

Was Gerhard nun endgültig daran gemahnte, dass er essen musste. Weshalb er Evi zu Toni mitschleppte. Wo der seinerseits seine kleine Tochter umhertrug, was Evi natürlich in wüstes Entzücken versetzte. Sehr späte Väter wie Toni waren ja außerordentlich stolz, die Kleine war auch wirklich besonders goldig.

»Gut, dass sie das Aussehen der schönen Mama geerbt hat«, witzelte Gerhard und bekam trotzdem einen Ouzo, Tonis Medizin für alle Lebenslagen.

Schließlich setzte er Evi ab und fuhr nach Hause. Seppi lag auf der Terrasse und hob den Kopf. Er stand auf, streckte sich, was bei einem Hund seiner Größe aussah, als verwinde sich ein übergroßes Insekt. Er kam näher und schob seine lange Schnauze in Gerhards Hand. Seppi war kein überbordender Wedler. Auch kein Beller. Seppi war pure Contenance und Understatement. Seppi war großartig, und manchmal schoss Gerhard ein Feuerpfeil in die Magengrube.

Seppi würde irgendwann sterben, er war sechs Jahre alt. Die Lebenserwartung von Irish Wolfhounds war nicht hoch. Aber Seppi durfte nicht sterben, weil mit ihm die wichtigste Konstante aus Gerhards Leben weichen würde. Er hatte seine Freunde, aber sein wirklich tiefstes emotionales Band wäre durchtrennt. Zwei Enden, die dann im Wind flattern oder im Matsch zertreten würden. Wahrscheinlich eher Letzteres, rund ums Haus seiner Vermieter war es gerne mal batzig – so viel hätte Hajo noch machen wollen.

Wieder ein Feuerpfeil. Hajo war verstorben, was Gerhard immer noch nicht akzeptieren konnte. Solche Menschen konnten doch gar nicht sterben, durften es nicht, denn mit ihnen verschwand wieder ein Stück Weitsicht von dieser immer engstirniger werdenden Welt. Menschen wie Hajo waren letzte Bastionen einer intelligenten Schrulligkeit gewesen, eines augenzwinkernden Lebenszynismus – Gerhard und Hajo waren da Brüder im Geiste gewesen, wobei Gerhard immer gewusst hatte, dass er Hajo und dessen Universalbildung nie das Wasser hätte reichen können.

Sarah, die Tochter, die Gerhard ja insgeheim bis heute verehrte, die aber längst einen anderen geheiratet und Kinder bekommen hatte, hatte einst gesagt: »Ich habe nie ein Lexikon gebraucht, nie etwas gegoogelt. Ich hab immer meinen Vater gefragt.«

Gerhard schluckte schwer.

ZWEI

Die Vergangenheit hat ihn angefeindet bis zum Versuch der Demütigung, die Gegenwart gibt ihm recht, die Zukunft wird ihn ehren.

gesagt über Otto Kraus

Da Evi Mittwochfrüh einen Zahnarzttermin hatte – natürlich nur zur Zahnreinigung, die allseits perfekte Evi hatte nie Löcher in den Zähnen oder Parodontose –, war es an Gerhard, das Ergebnis der Obduktion zu erfragen.

»Tja nun, Herr Weinzirl, da legen Sie sich nieder!«, tönte der Mediziner am Telefon, der aus dem Oberpfälzischen stammte und diesen Dialekt wirklich zur Perfektion gebracht hatte.

»Eher hat sich die Dame niedergelegt«, sagte Gerhard. Ihm lag der Abend noch im Magen. Hajos Tod setzte ihm zu.

»Ja, das musste sie auch, bei all den Substanzen, die ich in der Dame gefunden habe.«

»Gift?«

»So kann man sagen, ein interessanter Cocktail aus Colchicin, Demecolcin, Colchicosid, Inulin und Asparagin und eine hohe Dosis an Rizin.«

»Bin ich Chemiker?«, fragte Gerhard.

»Besser, Sie wären Botaniker.«

»Bitte?«

»Schaugn Sie, Herr Weinzirl. Es ist Herbst, die Zeit des Vergehens, die Zeit, wo noch ganz spezielle Pflanzen blühen. Die Herbstzeitlose gehört dazu.«

»Leider kann ich Ihnen nicht folgen.«

»Nun denn, Herr Weinzirl: Die Herbstzeitlose ist eine Pflanzenart, die zur Familie der Zeitlosengewächse gehört. Hübsch anzusehen, am Blütenstand auch leicht zu erkennen, aber die Blätter kennt man schon weniger. Alle Teile der Herbstzeitlose enthalten das giftige Alkaloid Colchicin und noch etwa zwanzig weitere Alkaloide. Als tödliche Dosis gelten bei Erwachsenen etwa null Komma acht Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht.«

»Keiner frisst …«, Gerhard rechnete, »… fünfzig Gramm Blätter.«

»Es sei denn, er ist ein Pferd, Rind, Schaf oder eine Ziege. Auch Hunde, Katzen, Kaninchen, Hasen und Meerschweinchen gehen ein.«

»Na gut, aber wie kam das in die Frau?«, fragte Gerhard.

»Das kann ich Ihnen sagen, wobei ich zuerst noch ausführen möchte, dass wir hier noch ein weiteres herbstzeitliches Gewächs hätten, der schöne Wunderbaum aus der Familie der Wolfsmilchgewächse. Die Samen des Wunderbaums sind sehr giftig, da sie das toxische Eiweiß Rizin enthalten, wenige Samen sind tödlich. Der Tod tritt üblicherweise durch Kreislaufversagen etwa zwei Tage nach der Vergiftung ein. Ein agglutinierendes Protein führt zum Verklumpen der roten Blutkörperchen.«

»Bis dahin wäre sie doch längst zu einem Arzt gegangen?«

»Ja, sie hatte auch nicht so viel im Körper. Was zu Ihrer Frage führt. Die Dame hat einen Salat gegessen, da kann man wunderbar ein paar weitere Pflanzenteile unterbringen. Und zudem hatte sie diverse Appetitzügler und Abnehmpräparate im Körper. Ihre Leber war angegriffen; ich glaube nicht, dass sie Alkoholikerin war, aber dass sie seit Jahren zu viele Tabletten aller Art konsumiert hat. Ein sehr modernes, schnelles Leben eben: ›Hallo Wach‹ am Morgen, Schlaftabletten am Abend und alles, was dünn macht.«

»Dennoch ist sie davon nicht sofort tot umgefallen, oder?«

»Nein, aber es muss ihr in jedem Fall hundeübel geworden sein.« Er schien kurz zu überlegen. »Sie wurde am Lech gefunden?«

»Ja, ziemlich ADW

»Sie wird versucht haben, Hilfe zu holen, versucht haben, zu telefonieren«, sagte der Arzt.

»Und kein Netz gehabt haben«, meinte Gerhard gedehnt.

»Sehr gut möglich bei Ihnen da draußen! Sie wird sich übergeben haben, ihr war sicher wirklich sterbenselend. Ich sage Ihnen, Herr Weinzirl, lassen Sie sich immer in der Nähe von Universitätskliniken oder dem Tropeninstitut vergiften! Der gute alte Landarzt tut’s da auch nicht!«

»Und dann schlägt ihr jemand auch noch den Schädel ein?«

»Ja nun, sie wurde wohl zuerst etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, und dann hat einer nachgelegt. Das war dann todsicher. Ich habe Kalk gefunden. Es war Gestein aus dem Lech, keine Frage.«