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Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane – unter anderem den Fischland-Roman »Die verborgene Kammer« (2009) sowie die Küsten Krimis »Fischland-Mord« (2012), »Fischland-Rache« (2013), »Fischland-Feuer« (2015) und »Fischland-Verrat« (2016).

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. In diesem Roman tauchen viele Namen auf, die so oder ähnlich auf dem Fischland gebräuchlich sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Corinna Kastner

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-247-2

Küsten Krimi

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die AVA international GmbH, Autoren- und Verlagsagentur, www.ava-international.de.

Für meine Eltern in Liebe – danke für alles

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So fühlt es sich also an, wenn man stirbt. Ein stechender Schmerz, ein Knacken, die Schädeldecke bricht. Schwärze. Danach bleibt der Schmerz fort, doch da ist harte Erde unter dem Rücken, Gras unter den Fingern, in der Ferne das Rauschen des Schilfes, das Wellenplätschern des Boddens.

Die Augen. Öffnen. Ein letztes Mal. Nachtblauer Himmel, schwarzes Geäst. Der Birnbaum. Es hängen Früchte daran, in der Dunkelheit unsichtbar. Ein Schleier legt sich über die Augen. Es spielt keine Rolle mehr. Das Leben läuft aus dem Körper. Nicht das Blut, das Leben selbst. Langsam und sachte. Es tut nicht weh. Es ist nur traurig. Schuld. Fehler. Dummheit. Falsch. Alles falsch gemacht. Etwas bleibt noch zu tun. Es kostet Kraft, so viel Kraft, aber es muss sein. Bevor es vorbei ist – das, was so verlockend begann. Und das Leben. Alles. Vorbei.

EINS

Serenas volle Lippen zitterten. »Ist das wahr? Du liebst mich?« Ihr Herz flatterte, in ihrem Magen schlugen die Schmetterlinge Purzelbäume, als er sie aus seinen strahlend blauen Augen liebevoll und warmherzig anschaute.

»Aber natürlich, mein Kleines! Wie konntest du je daran zweifeln?« Er umschlang sie mit seinen muskulösen Armen, als wolle er sie niemals wieder loslassen.

Ihr Kopf ruhte an seiner breiten Schulter, sie wusste, sie war angekommen. Ihre Augen füllten sich mit Trä…

Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinem Schreibfluss – zum dritten Mal im herzergreifenden letzten Kapitel meines literaturnobelpreisverdächtigen Werks »Die Nacht, in der die Sterne weinten«. Bisher hatte ich meiner ängstlichen Nachbarin versichert, dass meine Waschmaschine nur laut schleuderte, aber nicht durch ihre Decke brechen würde, und meinem Mobilfunkanbieter gesagt, er möge seinen neuen Tarif seiner Großmutter andrehen. Etwas diplomatischer formuliert, aber er hatte mich wohl verstanden. Ein Blick auf das Display meines Telefons riet mir, beim aktuellen Störenfried ausgesprochen freundlich zu sein.

»Greta Sievers«, meldete ich mich. »Tag, Herr Schönfeld. Es wird Sie freuen zu hören, dass ich praktisch fertig bin und Ihnen das Manuskript heute noch schicken kann.«

»Wunderbar«, antwortete Siegfried Schönfeld, aber ich hörte ihm an, dass er sich keineswegs wunderbar fühlte. Schönfeld war Redakteur der Heftromanserie, für die ich schrieb, wenn es im Taschenbuchbereich für mich weniger gut lief – was in den letzten zwei Jahren leider durchgehend der Fall gewesen war. Jetzt räusperte er sich. »Frau Sievers, ich fürchte, das wird Ihr letzter Roman für unsere Serie gewesen sein, der Verlag hat beschlossen, ›Rote Herzen‹ einzustellen. Sie wissen ja, wie es im Heftsegment aussieht.«

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Die Honorare für die Hefte waren kaum üppig zu nennen, aber da ich zwei Romane pro Monat verfasste, konnte ich wenigstens meine Miete und meine Brötchen bezahlen. Ich bemühte mich, nicht so deprimiert zu klingen, wie ich mich fühlte. »Das ist schade, ich hatte noch ein paar richtig gute Ideen.«

»Die könnten Sie trotzdem verwenden, wenn Sie sie ein bisschen umgestalten. Versuchen Sie es bei ›Rotlicht im Wilden Westen‹, die geht im Gegensatz zu den meisten anderen Serien wie geschnitten Brot.«

Beinah hätte ich trotz der traurigen Situation gelacht. So tief, Sex-Western-Heftchen zu schreiben, würde ich nicht sinken. Niemals. Oder doch? Der Gedanke an die Miete ernüchterte mich wieder. Also bedankte ich mich für das Angebot und versprach, darüber nachzudenken.

Als bei Serena nun endlich die Tränen der Rührung fließen durften, weinte ich auch ein paar – des Abschieds von meinem Traum vom nächsten Urlaub. Der hätte mich zwar nur wenige Kilometer weiter die Küste entlanggeführt, aber selbst das konnte ich mir nun abschminken. Adieu, Fischland. Willkommen, Stralsunder Nordstadt. Immerhin hatte ich auch hier die Ostsee – fast – vor der Nase. Und immerhin war die Ostsee einer von zwei Gründen gewesen, weshalb ich vor vier Jahren von Hameln hergezogen war. Der andere Grund hatte sich mittlerweile erledigt.

Ein paar Stunden später hatte ich das Manuskript überarbeitet und an Schönfeld abgeschickt, da bekam ich erneut einen Anruf, diesmal von Sebastian Bertold. Sebastian und ich waren seit Jahren befreundet, und wenn je jemand behauptete, dass eine Freundschaft zwischen Mann und Frau nicht funktioniere, waren wir beide der lebende Beweis für das Gegenteil. Sebastian hatte einen stressigen Tag gehabt und Lust auf einen entspannten Abend im »Ben Gunn«, einer irischen Kellerkneipe in der Fährstraße in Stralsunds Altstadt. Eigentlich konnte ich mir solche Extravaganzen jetzt nicht mehr leisten, aber mir war selbst entschieden nach Ablenkung.

»Ben Gunns« Gewölbekeller aus rauem rotem Backstein war laut von Stimmengewirr und Musik. Wir suchten uns eine kleine Ecke, in der man sich dennoch unterhalten konnte, und hatten bald jeder ein Kilkenny vor uns stehen. Ohne es vorgehabt zu haben, klagte ich Sebastian mein Leid.

»Was hast du gegen Sex-Western?«, fragte er lachend und wich aus, als ich ihn in die Seite knuffen wollte. »Arbeit ist Arbeit, oder?«

Da hatte er recht. Trotzdem war ich noch nicht so ganz bereit, von der hehren, großen Liebe auf die schnöden Reiter umzusatteln. »Du hast nicht zufällig was Passendes für mich?«, fragte ich, halb im Scherz.

Sebastian war Inhaber einer Zeitarbeitsfirma und vermittelte vorzugsweise Büro- und Servicekräfte. Keine Traumjobs für mich, die ich schon immer Schwierigkeiten gehabt hatte mit der Vorstellung von regelmäßigen Arbeitszeiten und Vorgesetzten, die einem sagten, was man wann und wie zu tun und zu lassen hatte. Zu meiner Überraschung musterte mich Sebastian und fuhr sich dabei mit der Hand durch seine braunen Locken, als dächte er ernsthaft darüber nach. Er nahm einen Schluck von dem würzigen, leicht bitteren Kilkenny, drehte dabei den Bierdeckel auf dem Tisch hin und her und sah mich hinter zusammengekniffenen Lidern an.

»Hm«, machte er und setzte das Glas wieder ab. »Vielleicht hätte ich da wirklich was. Hab die Anfrage heute erst reingekriegt.«

Neugierig geworden, hakte ich nach. »Worum geht’s?«

»Ich weiß nicht, wie der Typ ausgerechnet auf mich gekommen ist, vermutlich hat er es noch bei zig anderen Agenturen versucht. Ist sicher schwierig, jemanden zu finden, der bereit ist, so was Spezielles zu machen.«

Ich hasste es, wenn er das tat. Und er liebte es, mich auf die Folter zu spannen. »Was denn nun?«

Sebastian machte noch eine Kunstpause, bis er endlich damit herausrückte. »Er will, dass jemand aus den Unterlagen seines Großvaters dessen Biografie schreibt.«

Im ersten Moment dachte ich: Großartig! Im zweiten sagte ich: »Gott, nein. Kein SS-Obersturmbannführer mit traumatischen Weltkriegserlebnissen, bitte.«

»Geringfügig anders.« Sebastian grinste. »Carl Röwer gehörte zu den Malern der Künstlerkolonie auf dem Fischland und dem Darß, zweite Generation. Meist Landschaften, auch Porträts, Letztere ziemlich einprägsam. Ich würde mir das zwar nicht in die Wohnung hängen, aber im Museum fraglos davor stehen bleiben.«

Ein Maler. Das klang interessant. Allerdings … »Ich verstehe überhaupt nichts von Kunst«, wandte ich ein.

»Hättest du von der SS mehr Ahnung gehabt? Du sollst ja keine kunsthistorische Abhandlung schreiben, sondern eine Biografie. Wie ich den Enkel verstanden habe, müsstest du in Dokumenten wühlen, in Archive gehen, mit Leuten reden und seine eigenen Angaben und Erinnerungen an den Großvater verarbeiten. Du weißt doch, wie so was geht, die Recherchen für deine historischen Romane, die du vor ein paar Jahren geschrieben hast, dürften ähnlich abgelaufen sein.«

Das stimmte, aber es machte einen gewaltigen Unterschied, ob ich in weiten Teilen meine Phantasie spielen lassen konnte oder mich strikt an Tatsachen halten musste. Dennoch. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr reizte mich die Angelegenheit. Hinzu kam, dass Sebastian das Fischland erwähnt hatte. Mit ein bisschen Glück würden mich meine Recherchen auch dahin führen. So kurios es war: Ich lebte nur sechzig Kilometer entfernt und war noch nie dort gewesen. Dabei hatte ich kürzlich einen Fischland-Roman gelesen, der mich in seiner Poesie so berührt hatte wie kaum je etwas anderes. Metaphorisch gesprochen war ich vor Ehrfurcht in die Knie gesunken. Ich würde nie so schreiben können wie Alexander Hardenberg, von dem ich mittlerweile zwei weitere Romane verschlungen hatte – aber ich wollte wenigstens das Fischland mal mit eigenen Augen sehen.

Sebastian räusperte sich. »Da wäre allerdings ein Haken.«

»Aha.« Hätte ich mir ja denken können. »Wie niedrig ist das Honorar? Vier Euro fünfzig die Stunde?«

»Nein, nein, das Honorar ist mehr als großzügig, du bekämst einen festen Monatslohn.«

»Von dem du natürlich deine Vermittlungsgebühr abziehst«, sagte ich süffisant.

Sebastian seufzte übertrieben auf. »Ich muss von was leben, mein Kind. Aber keine Angst, es bleibt noch genug übrig.« Dann nannte er eine Summe, bei der mein Herzschlag aussetzte, ganz so wie bei Serena, als ihr muskelbepackter Beau sie in seine braun gebrannten Arme geschlossen hatte.

»Wann fang ich an?«, fragte ich.

»Du hast den Haken noch nicht gehört«, bremste Sebastian meinen Enthusiasmus. »Herr Röwer rechnet damit, dass der Biograf etwa drei Monate für die Sichtung des Materials, für Recherchen und die gemeinsame Aufarbeitung benötigt und anschließend drei Monate fürs Schreiben.«

»Das wäre ein halbes Jahr, in dem ich mehr verdienen würde als mit den Heften in der fünffachen Zeit.«

»Ja.« Sebastian zögerte, bevor er die Bombe platzen ließ. »Du müsstest allerdings bei ihm wohnen. Er will eine Vierundzwanzigstundenkraft, die ständig zur Verfügung steht, ein freier Tag pro Woche, keine Ausnahmen.«

Sprachlos starrte ich Sebastian an. »Der hat noch nicht mitgekriegt, dass die Sklaverei abgeschafft wurde, oder?«

»Wie du schon sagtest: Dafür verdienst du das Fünffache von dem, was du mit deinen Nackenbeißern auf dein Konto gekriegt hast. Und du hast freie Kost und Logis – falls man das heutzutage noch so nennt. In einer nicht zu verachtenden Location, nebenbei gesagt.«

»Wieso? Wo lebt der Mann?«

»In Barnstorf.«

»Barnstorf auf dem Fischland?«, vergewisserte ich mich. Natürlich, das lag nahe, falls der Enkel Wert auf Familientradition legte, aber ich konnte das kaum fassen.

Sebastian nickte. »Sehr idyllisch. Und sehr einsam, wenn ich das auf der Karte richtig gesehen habe.«

Alexander Hardenberg hatte Barnstorf beschrieben als Dorf außerhalb eines Dorfes – vier alte Gehöfte zwischen silbrigem Bodden und dahingleitenden Zeesbooten auf der einen und weiten Feldern auf der anderen Seite. Eine Welt für sich, eine Welt, die aus der Zeit gefallen war.

»Bis zur Ostsee und dem prallen Urlauberleben ist’s nicht weit«, riss mich Sebastian aus meinen literarischen Betrachtungen. »Falls Röwer dir mal eine Mittagspause gönnt.«

In meinem Nacken kribbelte es. Für den Job sprachen das Honorar, die reizvolle, neue Herausforderung und das Fischland. Dagegen sprachen die vorsintflutlichen Arbeitsbedingungen. Das waren drei Punkte auf der Haben- und einer auf der Soll-Seite. Möglich, dass die drei Punkte den einen nicht aufwiegen konnten. Aber das fand ich nur heraus, wenn ich es ausprobierte.

»Welche Unterlagen brauchst du für meine Bewerbung?«

Schriftsteller gaben üblicherweise Exposés und Schreibproben ab. Ich wusste nicht, wie man eine richtige Bewerbung schrieb, und die Musterlebensläufe, die ich online fand, passten nicht zu mir – ich hatte keine zehn verschiedenen Stellen in dreißig erstklassigen Unternehmen vorzuweisen, von relevanten Arbeitszeugnissen ganz zu schweigen.

So saß ich die halbe Nacht an einem Anschreiben, in dem ich versuchte darzulegen, warum gerade ich die ideale Biografin von Carl Röwer war. Außerdem erstellte ich eine Publikationsliste, unterschlug allerdings sicherheitshalber sämtliche Romane aus der »Rote Herzen«-Serie. Stattdessen verwandelte ich das Manuskript eines Romans, der Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts spielte, in ein PDF-Dokument, um es ebenfalls beizufügen. Röwer sollte sehen, dass ich mich in der Zeit seines Großvaters auskannte. Um halb vier morgens schickte ich alles an Sebastian und legte mich endlich ins Bett.

Als ich aus dem Schlaf hochschreckte, fegte ich meinen Wecker zu Boden, dabei war der gänzlich unschuldig. Aus meinem Handy dudelte stattdessen überlaut die Titelmusik der alten Fernsehserie »Das unsichtbare Visier«, mit der mich mein unrühmlicher Ex bekannt gemacht hatte und die ich trotzdem immer noch so mochte, dass sie mir als Klingelton diente. Sebastians Konterfei griente mich vom Display an.

»Was willst du?«, fragte ich ungnädig.

»Ich gar nichts. Aber Herr Röwer will dich sehen.«

Auf einen Schlag war ich hellwach. »Was? Das ist unmöglich!«

Sebastian lachte. »Ganz und gar nicht. Ich habe ihm heute Morgen gleich als Erstes deine Unterlagen weitergeleitet, vor zehn Minuten hat er sich gemeldet und gesagt, dass er interessiert ist. Wenn du meine ganz persönliche Meinung hören willst: Er klang zwar nicht so, trotzdem glaube ich, dass meine bescheidene Agentur seine letzte Hoffnung war. Also mach was draus. Du sollst um zwölf da sein, das heißt, du hast noch knapp zwei Stunden.«

In der vergangenen Nacht hatte ich mich für das Bewerbungsschreiben notdürftig über Carl Röwer informiert, über seinen Enkel wusste ich dagegen gar nichts, und jetzt war es zu spät, das nachzuholen. In Rekordzeit duschte ich, zog mich an, saß im Wagen und fuhr aus Stralsund heraus. Vor einer Ampel schaltete ich das Navi ein und versuchte es zum ersten Mal mit einer Spracheingabe. Ostseebad Wustrow, Barnstorf. Es klappte sogar, aber dann fragte mich das Navi nach der Hausnummer, und die hatte ich vergessen. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken an Hardenbergs Schilderung der vier Gehöfte. Allzu viel Auswahl konnte es nicht geben, ich würde das schon finden.

Das Navi lotste mich wegen einer Baustelle von der B 105 herunter in Richtung Barth, wo einst die geheimnisumwitterte Stadt Vineta bei einer Sturmflut untergegangen sein sollte, weil ihre Bewohner so überaus gierig und böse gewesen waren. Angeblich konnte man in Sturmnächten das Läuten der Kirchenglocke noch immer aus der Tiefe der See heraus hören. Hinter Barth staute es sich. Wenden konnte ich nicht, der hinter mir stehende Wagen war zu dicht aufgefahren, ich kam unmöglich aus der Lücke. Endlose zehn Minuten später entnahm ich dem Verkehrsfunk, dass ich wegen der Drehbrücke im Stau stand. Offenbar war sie geöffnet worden, weil ein außerplanmäßiges, aber zweifellos wichtiges Schiff vom Barther Bodden in den Bodstedter Bodden wollte. Dabei wünschte ich inständig, ich wäre schon beim Saaler Bodden angelangt – Schlusslicht der Kette flacher Binnengewässer diesseits der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst – und damit bei Matthias Röwer.

Um mich abzulenken, versuchte ich mir vorzustellen, wie er aussah. Ich erinnerte mich an die alten Fotos seines Großvaters, ein mittelgroßer Mann mit hellem Haarschopf und Brille, hinter der ein paar freundliche, humorvolle Augen hervorblinzelten, und hoffte, dass Matthias Ähnlichkeit mit dem sympathisch wirkenden Carl hatte. Irgendwie hatte ich meine Zweifel.

Endlich kam Bewegung in die Autoschlange. Der Aufenthalt an der Meiningenbrücke hatte mich eine Menge Zeit gekostet, aber auch jetzt ging es bis zum Darßwald, durch den ich weit schneller als erlaubt heizte, nur langsam voran.

Die Uhr meines Armaturenbretts zeigte Punkt zwölf, als ich das Ortseingangsschild von Wustrow passierte. Unwillkürlich drosselte ich das Tempo – nicht in erster Linie wegen der Geschwindigkeitsbegrenzung, sondern weil ich mich umsehen wollte. Dies war das Dorf aus Alexander Hardenbergs Roman. Ich sah eine Mühle ohne Flügel, die verwunschen durch ein paar Bäume blitzte, Kapitänshäuser mit ihren typischen Giebeln, eine rote Scheune mit einem großen grünen Tor, ein herrschaftliches Gebäude, in dem sicher mal was anderes als die Sparkasse untergebracht gewesen war, rechts die zur See führende Strandstraße mit beeindruckenden, mächtigen Linden, kurz darauf ein hübsches Gehöft mit einer weiten Rasenfläche davor, schräg gegenüber ein Gebäude aus rotem Backstein mit Balkon und Türmchen, an dem in großen Lettern »Kaiserliches Postamt« stand. Und schließlich geradeaus auf einem Hügel die Kirche, die alles zu überblicken schien. Wustrow wirkte auf mich wie ein wahr gewordener Traum.

Das Navi katapultierte mich in die Realität zurück, weil es mich an der Kirche nach links in die Hafenstraße lotste. Am Ende der Hafenstraße irritierte mich kurz ein verwildertes Grundstück mit ein paar Mauerresten, doch dann lagen zwischen mir und dem ersten Barnstorfer Gehöft nur noch ein weites Feld auf der linken und der Bodden auf der anderen Seite. Das Schilf am Ufer war so hoch, dass ich vom lautlos vorbeifahrenden Zeesboot, einem der traditionsreichen Fischländer Fischerboote, bloß das obere Drittel der rotbraunen Segel sah, was ein bisschen magisch wirkte.

Leider war mir mittlerweile nicht mehr magisch zumute. Ich war jetzt acht Minuten zu spät und wusste immer noch nicht, wo genau Matthias Röwer wohnte. Kurz entschlossen hielt ich am Straßenrand vor dem ersten Gehöft und stieg aus. Die backsteinroten, rohrgedeckten Häuser sahen einladend aus, ebenso die rohrgedeckte Fachwerkscheune mit offenem Tor, an dem der Schriftzug »Kunstscheune« prangte. Im malerischen Garten standen einige moderne Skulpturen, eine Frau in Jeans, roter Bluse und einer randlosen Brille saß auf einem Stuhl in der Sonne, die Augen geschlossen.

»Entschuldigung?«, sprach ich sie vorsichtig an.

Sie blinzelte und lächelte dann. »Hallo! Möchten Sie sich die Ausstellung ansehen?«

»Später vielleicht. Im Augenblick suche ich das Haus von Herrn Röwer, können Sie mir sagen …« Unwillkürlich stockte ich, als ich den Gesichtsausdruck der Frau sah, die sich bei der Erwähnung des Namens erhoben hatte und mich anstarrte.

»Sie wollen zu Matthias Röwer?«

Weshalb war ich so wenig überrascht von ihrem ungläubigen Tonfall? »Ist das ein Problem?«, fragte ich trotzdem.

»Also … nein, sicher nicht. Es ist nur … wenn Sie keinen Termin haben …« Sie betonte es so, als halte sie für selbstverständlich, dass dem so war.

»Tatsächlich habe ich einen«, sagte ich um Höflichkeit bemüht. Die Zeit brannte mir unter den Nägeln.

»Oh.« Sie schob ihre Brille hoch, wohl weil sie von ihrer Verblüffung ablenken wollte, und brauchte noch eine halbe Sekunde, um sich zu fangen. Dann deutete sie zum Nachbargrundstück. »Gleich nebenan, Hufe III.«

Aus dem Hardenberg-Roman wusste ich, dass »Hufe« der Begriff für das von einer Familie bewirtschaftete Stück Land war. Es erleichterte mich enorm, dass ich mich nicht noch viel mehr verspäten würde. Ich bedankte mich, fuhr ein paar Meter weiter und sah hinter einem üppigen Garten mit Blumen und Obstbäumen am Bodden-Ufer ein großes Gebäude stehen. Es wirkte trotz seiner Größe seltsam geduckt. Der Eindruck mochte dadurch entstehen, dass es sich so weit weg von mir und der Straße befand, aber sicher auch durch das hohe, mit keinerlei Fenstern versehene, tief hängende Rohrdach, das über dem weiß verputzten niedrigen Steinhaus thronte. Da waren eine kleine dunkelgrün gestrichene Tür und ebenso kleine Fenster – alles in allem ein uriges Haus.

Dann nahm mich das zweite Gebäude gefangen, das ein kleines Stück den Weg hinauf weiter vorn am niedrigen Zaun stand. Das Rohrdach wurde von einem Schornstein in der Mitte, vor allem aber von geschwungenen Gauben dominiert, das alte unebene Gebälk des Fachwerks darunter und die Fenster waren aus hellem Holz und die Gefache beige verputzt. An den Mauern wuchsen Stockrosen empor, davor standen Sonnenblumen und ein Apfelbaum. An der linken Seite des Hauses befand sich eine ebenfalls in hellem Holz gehaltene große Eingangstür, bis zu der die Auffahrt aus naturbelassenen Steinen hinaufführte. Ein Traum. Noch einer in so kurzer Zeit.

Das sportliche silberne BMW-Cabrio in der Einfahrt wirkte viel zu prosaisch in dieser Umgebung, und mein kleiner, nicht sonderlich sauberer Fiat passte erst recht nicht dazu. Ich beschloss, lieber am Straßenrand zu parken.

Während ich die Auffahrt hochging, fragte ich mich, wo ich klingeln musste – bei dem urigen Haus weiter hinten, an dessen schmaler, rot verputzter Seite sich eine zweite Tür befand, oder bei dem Fachwerkhaus. Ich tippte darauf, dass ich Matthias Röwer eher vorn finden würde. Ohne die Reaktion der Dame von der »Kunstscheune« hätte ich vermutet, dass er das andere Haus an Urlauber vermietete. So blieb mir dessen Nutzung ein Rätsel.

Mein Instinkt trog mich nicht. Auf dem schlichten Messingschild neben der Holztür stand Matthias Röwers Name. Gerade als ich auf den Klingelknopf drücken wollte, öffnete sich die Tür. Vor mir stand ein Bild von einem Mann, zu dem ich, obwohl ich nicht besonders klein bin, aufsehen musste. Er steckte in einem hellgrauen Sommeranzug, der zwar leger, aber ganz gewiss nicht von der Stange war. Den obersten Knopf des weißen Hemdes darunter hatte er offen gelassen und auf eine Krawatte verzichtet. Alles in allem bot er einen mehr als erfreulichen Anblick und hätte, abgesehen davon, dass er die vierzig bereits um einige Jahre überschritten hatte, direkt einem »Rote Herzen«-Roman entsprungen sein können. Er war groß, hatte dichte blonde Haare, und aus seinem markant geschnittenen Gesicht funkelten mich faszinierend hellgraue Augen an.

»Sie müssen Greta Sievers sein.« Er streckte mir die Hand hin. Sein Griff war angenehm fest.

Ich nickte. »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Herr Röwer.« Das war nicht übertrieben. Es hätte schlimmer kommen können, als ein halbes Jahr lang mit diesem Mann zusammenzuarbeiten.

Lachend deutete er mit dem Daumen über seine Schulter. »Immer geradeaus, Sie finden ihn schon. Oh, und Sie sind«, er schaute kurz auf seine Armbanduhr, »elf Minuten zu spät. Ich hoffe, Sie haben dafür eine überzeugende Entschuldigung. Falls nicht, sollten Sie sich schleunigst eine einfallen lassen. Viel Glück!«

Er hielt mir so lange die Tür auf, wie ich brauchte, um einzutreten, zwinkerte mir noch mal zu und marschierte dann auf den BMW zu, dessen Türen piepten, als er seinen Autoschlüssel aus der Tasche zog.

Da hatte ich mich ja großartig blamiert. Als ich mich umdrehte, sah ich mich mit einem weitläufigen Wohnbereich konfrontiert, der ein paar Meter links von mir an einer vom Boden bis zur Decke reichenden Glasfront endete. Dahinter lag ein kleiner Garten, der in eine Rasenfläche mündete, rechts konnte man auf einen Teil des zweiten Hauses und eine beeindruckende Esche sehen, linker Hand, näher am Wasser, standen ein paar Weiden. Drinnen bestach der Raum durch die Kombination aus einem mächtigen Bauernschrank und hellen schlichten Möbeln auf dunklem Parkett – und durch ein großes Bild an der Wand. Es zeigte einen schmalen grünblauen Bachlauf, der zwischen hohem Schilf in den Bodden floss. Durch die Wolkenformation am Himmel darüber wechselte die Farbe des Wassers zum Horizont hin ganz langsam in ein flirrendes Graublau. War das ein Gemälde von Carl Röwer? Auf die Entfernung konnte ich die Signatur nicht entziffern, zu seinem Stil passte es jedenfalls. Zu gern hätte ich es näher in Augenschein genommen, aber vermutlich waren inzwischen aus den elf Minuten zwölf geworden, und ich wollte Matthias Röwers Geduld lieber nicht noch länger strapazieren.

Weiter hinten rechts erkannte ich durch Fachwerkgebälk eine Küche. Links davon stand eine Tür halb offen. Ich klopfte an den Rahmen und lugte vorsichtig ins Zimmer, bei dem es sich um ein Büro handelte, nüchtern eingerichtet mit einem Schreibtisch, Laptop und Telefon und an der längeren Wand einem geschlossenen Rollregal. Niemand war hier. Direkt hinter dem Schreibtisch jedoch war die Terrassentür nur angelehnt. Dies war die schmale Seite des Hauses, die hinüber zum Grundstück der »Kunstscheune« schaute. Als ich mich der Tür näherte, bemerkte ich draußen einen Mann, der halb mit dem Rücken zu mir reglos dastand, den Blick an dem anderen Haus vorbei in die Ferne gerichtet, über den Rasen hinweg, der sich bis zu einem kleinen Boddenstrand hin erstreckte. Von hier erst sah ich die Wellen, die sich auf der Wasseroberfläche kräuselten. Die Sonne warf ihre Strahlen darauf und ließ den Bodden glitzern, als hätte ein Diamantschleifer Tausende von Steinchen auf dunkelgrünem Samt ausgeschüttet.

Der Mann auf der Terrasse hatte sich nicht gerührt.

Ich trat ins Freie. »Herr Röwer?«

Er drehte sich um. Er war nicht ganz so groß wie der blonde BMW-Fahrer, aber auch er trug einen Anzug, anthrazitfarben, fast schwarz. Das passte zu seiner ganzen Erscheinung, für die kein Wort zutreffender gewesen wäre als »dunkel«. Die zwar verblasste, aber dennoch unübersehbare Narbe, die schräg über die Stirn vom Haaransatz beinah bis zur Nasenwurzel reichte, tat ein Übriges, um diesen Eindruck zu verstärken. Seine dunkelbraunen Haare waren von ein paar silbernen Fäden durchzogen, seine Augen lagen verborgen hinter einer Sonnenbrille, die auf einer leicht gebogenen Nase saß. Er lächelte nicht, und auch sonst zeichnete sich keinerlei Regung auf seinem Gesicht ab.

»Frau Sievers, nehme ich an. Ich hatte Sie eher erwartet.«

Das hätte ungehalten klingen können. Oder ironisch. Tatsächlich aber klang es gar nicht. Ich konnte mich nicht erinnern, je eine Stimme so bar jeder Emotion gehört zu haben.

»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Hinter Barth war die Brücke offen, es gab einen Stau und …«

Mit einer Handbewegung schnitt er mir das Wort ab und deutete auf einen der Teakholzstühle auf der Terrasse. Er setzte sich mir gegenüber und wartete, bis ich ebenfalls saß. »Lassen Sie uns eins klarstellen, bevor wir weiterreden. Ich schätze Gründlichkeit, Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit – das sind die Grundpfeiler einer Zusammenarbeit mit mir.«

Das fing nicht gut an. Was erwartete er? Dass ich mich in den Staub schmiss und noch mal um Entschuldigung bat? Er selbst nahm ja nicht mal seine Sonnenbrille ab, während er mit mir sprach. Während ich noch überlegte, wie ich reagieren sollte, flog weit hinter ihm ein Schwan mit langem Hals majestätisch über das Wasser, und ein weißes Segelboot glitt vorbei. Es war ein zauberhaftes Bild.

»Wirklich, es ist nicht meine Schuld«, hörte ich mich sagen. »Die Brücke …«

»Verzeihung, wenn ich Sie unterbreche. Ich hatte wohl vergessen zu erwähnen, dass ich außerdem Ehrlichkeit über alle Maßen schätze. Die Meiningenbrücke ist um diese Zeit nicht offen.«

Das kam fast genauso neutral wie alles andere vorher, aber die Atmosphäre auf der Terrasse hatte sich verändert. Ich fröstelte plötzlich.

Trotzdem spürte ich, wie nun doch Ärger in mir hochkroch. »Ich für meinen Teil schätze es nicht, wenn man mich der Lüge beschuldigt. Die Brücke war offen. Sie können das gern überprüfen, Herr Röwer.«

Er runzelte leicht die Stirn, dabei neigte er den Kopf, als hätte er etwas gehört, das mir entgangen war. Einen Sekundenbruchteil später ertönte eine leise Melodie von einem kleinen Beistelltisch neben ihm. Ohne hinzusehen, griff er nach dem Handy. Er schaute auch nicht aufs Display, dennoch schien er zu wissen, wer anrief, weil er sofort sprach, nachdem er das Gespräch angenommen hatte.

»Danke für den Rückruf. Gehen Sie bis höchstens fünfunddreißigtausend.« Kleine Pause. »In Ordnung. Wiedersehen.« Er behielt das Handy in der Hand, als er sich erhob und eine Handbewegung zur Terrassentür hin machte. »Setzen wir unser Gespräch drinnen fort, Frau Sievers.«

Im Büro kam es mir düster vor, obwohl es vorhin noch hell gewirkt hatte, aber die Sonne hatte meine Augen geblendet. Ich warf erneut einen Blick auf den Schreibtisch, hinter dem er sich niederließ. Meine Unterlagen waren darauf nicht zu sehen, anscheinend hatte er sie nicht ausgedruckt. Überhaupt lag kaum etwas da. Matthias Röwer wäre wahrscheinlich entsetzt zusammengezuckt, wenn er meinen Schreibtisch gesehen hätte, auf dem oft genug Chaos herrschte. Andererseits konnte ich mir vorstellen, dass ihn Ordnung oder Unordnung anderer Leute völlig kaltließ.

»Dank Ihrer Schreibprobe konnte ich mich von Ihren schriftstellerischen Fähigkeiten überzeugen«, begann er, als hätte unsere Diskussion über die Meiningenbrücke überhaupt nicht stattgefunden. »Mir gefällt Ihre Ausdrucksweise. Ich möchte die Biografie von Carl Röwer nicht trocken und wissenschaftlich, sondern farbig und lebendig abgefasst haben – wie er gemalt und als Künstler gelebt hat.«

Dann muss Carl aber das komplette Gegenteil von Matthias gewesen sein, dachte ich, nickte jedoch nur. Das war immerhin das erste Positive, was er sagte.

»Dennoch sollten zumindest Grundkenntnisse von Kunstgeschichte und Malerei vorhanden sein«, fuhr er fort. »Darüber stand in Ihren Unterlagen allerdings nichts.«

»Wenn Grundkenntnisse ausreichend sind, ist das kein Problem. Sicher kennen Sie meine Publikationsliste?« Ich wartete auf sein Nicken. »Dann wissen Sie, dass ich schon über verschiedenste Epochen und Themen geschrieben habe. Ich mag es, mich in Unbekanntes einzuarbeiten, es ist Teil der Faszination meines Berufes – immer wieder Neues zu entdecken. Das ist es unter anderem, was mich an der Aufgabe reizt, die Biografie Ihres Großvaters zu schreiben.«

Letzteres entsprach durchaus der Wahrheit, aber es war nur ein Teil davon. Der andere Teil überwog: Ich wollte diesen Job – nicht mehr so sehr wegen des Geldes. Das wenige, das ich bisher vom Fischland gesehen hatte, weckte in mir das Gefühl, hierherzugehören, so verrückt das sein mochte. Außerdem war die Hufe III ein grandioses Stück Land mit einem grandiosen Blick auf den Bodden. Eigentlich war alles hier grandios. Abgesehen von Matthias Röwer, der es mir nach wie vor unmöglich machte, etwas in seinem Gesicht zu lesen, weil er selbst im Haus seine Sonnenbrille nicht absetzte.

»Herr Bertold hat Ihnen gesagt, was ich erwarte?«, fragte er nach einer Pause.

»Das sind etwas ungewöhnliche Bedingungen. Trotzdem sehe ich einen großen Vorteil darin, mich so authentisch in die Welt hier einfühlen und darin leben zu können, selbst wenn es nicht mehr die Ihres Großvaters ist. Im Übrigen tendiere ich dazu, mich beim Schreiben abzukapseln. Zu viele Ablenkungen und Einflüsse von außen stören nur.« Das stimmte, obwohl ich kaum sieben Tage die Woche wie eine Einsiedlerin lebte. Aber wenn ich schrieb, schrieb ich und reagierte unwirsch auf Unterbrechungen und Störungen. In dieser Umgebung würde es nur wenige davon geben.

Was Röwer von meinen Ausführungen hielt, blieb mir verborgen. Nach einer neuerlichen kleinen Pause erhob er sich wieder. »Kommen Sie mit.«

Keine Bitte, ein Befehl. Diesmal ging er voraus und führte mich nahe der Bürotür zu einer Wendeltreppe, die ich vorhin, gefangen genommen von der Aussicht, gar nicht beachtet hatte. Die Treppe führte in den niedrigen Flur des Obergeschosses, von dem mehrere Türen abgingen. Hinter einer davon befand sich ein recht kleines Zimmer, unverkennbar ein Büro. Der antiquierte Schreibtisch aus dunklem Holz hatte kunstvoll gedrechselte Knöpfe an den Schubfächern und ebenso kunstvoll gedrechselte Beine. Das ultramoderne Telefon und das Laptop auf der abgenutzten Schreibplatte wirkten wie ein Anachronismus. An einer Wand stand ein Stahlschrank mit vielen schmalen Laden, die gegenüberliegende Seite des Raumes wurde von einem Regal dominiert, ebenso antiquiert wie der Schreibtisch. Es war gefüllt mit Aktenordnern, die aussahen, als seien sie bereits Jahrzehnte alt. Die Rücken waren per Hand mit einer altmodisch anmutenden Schrift versehen, die bereits verblasste. Darüber hing das gerahmte Porträt einer schönen dunkelhaarigen Frau in einer türkisgrünen hochgeschlossenen Bluse, die dem Betrachter ihr Halbprofil zuwandte. Ich wusste weder, wer das Bild gemalt hatte, noch, wen es darstellte – aber es war selbst für mich Laien unübersehbar, dass die Frau dem Künstler etwas bedeutet hatte. Ich erinnerte mich, dass Sebastian von Carl Röwers Porträts beeindruckt gewesen war.

»Ist das von Ihrem Großvater?«, fragte ich.

»Ja.«

Das war alles, keine Erklärung, wen das Bild zeigte – nur »ja«.

»Es ist großartig.«

»Das wäre Ihr Arbeitsplatz«, sagte Röwer. Vermutlich legte er keinen Wert auf das Lob von jemandem ohne die geringste Expertise. »In dem Schrank und den Akten finden Sie Unterlagen und Dokumente, inklusive einer Reihe Mikrofiches alter Zeitungsartikel, die noch digitalisiert werden müssen, und Ausstellungsplakate. Auf der Festplatte des Laptops sind Bilddateien der Gemälde von Carl Röwer sowie die jeweils zugehörigen Textdateien abgespeichert. Die Originale lagern, sofern sie in Familienbesitz sind, in eigens dafür eingerichteten Räumlichkeiten oder werden im Wechsel in meinen beiden Galerien, in Museen und Kunsthandlungen für die Öffentlichkeit ausgestellt.«

Bisher hatte ich keine Vorstellung davon gehabt, was Matthias Röwer beruflich tat. Was mich betraf, hätte er alles Mögliche sein können, nur nichts Handwerkliches, nichts, womit man sich die Hände schmutzig machte. Dazu wirkte er viel zu sehr wie aus dem Ei gepellt. Dass er Galerien besaß, passte im Nachhinein zu dem kurzen Telefonat, bei dem er sicher jemanden mit dem Kauf eines Kunstwerks beauftragt hatte.

Inzwischen war er zurück auf den Flur getreten, um dort die Tür zu einem weiteren Raum zu öffnen.

»Ihr Zimmer«, sagte er.

Durch das halbrund geschwungene Fenster, das in die Gaube des Rohrdachs eingelassen war, sah man rechts auf das große Haus auf dem hinteren Grundstück, geradeaus aber vor allem auf den Bodden und das weit in der Ferne schimmernde Ufer gegenüber. Wenn ich abends im Bett liegen würde, hätte ich den direkten Blick in ein paar Baumwipfel und den Sternenhimmel. Die Vorstellung war so traumhaft, dass ich dem Rest des Zimmers keine Aufmerksamkeit mehr widmete. Röwer ließ mir auch wenig Zeit dazu, er stieg schon wieder die Wendeltreppe hinunter. Auf der Treppe wurde mir klar, dass die Aussicht aus dem Büro neben dem Schlafzimmer dieselbe gewesen sein musste, nur hatte ich sie wegen seiner Erklärungen und wegen des faszinierenden Porträts gar nicht wahrgenommen.

Ich wagte nicht zu fragen, ob die Hausführung bedeutete, dass ich mich als engagiert betrachten konnte, sondern hoffte, er würde zuerst das Wort ergreifen. Unten im Wohnbereich blieb er jedoch zunächst vor dem überdimensionalen Fenster stehen. Der Blick über den Rasen und die Bäume war kein bisschen weniger schön als vorhin. Ein paar Vögel, die in den Zweigen der Esche gesessen hatten, waren gerade von etwas aufgescheucht worden und flogen unter lautem Zwitschern davon.

»Wann können Sie anfangen?«

Ich war von dem kleinen Schwarm abgelenkt gewesen und registrierte erst jetzt, dass Matthias Röwer die Sonnenbrille abgenommen hatte. Dennoch schaute er mir nicht direkt in die Augen. Ich versuchte, seinen Blick aufzufangen, doch es gelang mir nicht. Stattdessen bemerkte ich nun auch um seine braunen Augen herum Narben, kleiner und feiner als die auf der Stirn. Und endlich verstand ich.

»Sie sind blind«, rutschte es mir heraus.

Seine Antwort ließ nicht erkennen, was er über meine Taktlosigkeit dachte. »Bei guten Lichtverhältnissen kann ich hell und dunkel unterscheiden.«

Die Narben schienen darauf hinzuweisen, dass er nicht von Geburt an sehbehindert gewesen war, und als hätte ich nicht eben schon genug ins Fettnäpfchen getreten, fragte ich unwillkürlich: »Was ist passiert?«

Diesmal ließ er sich mehr Zeit.

»Entschuldigung«, beeilte ich mich zu sagen, »das geht mich nichts an. Und falls Sie noch Wert auf die Antwort auf Ihre Frage legen: Ich kann jederzeit anfangen.«

Matthias Röwer nickte langsam. »Helles Licht tut gelegentlich meinen Augen weh, auch im Haus.« Er setzte die Brille wieder auf. »Sie gewöhnen sich dran.« Dann fuhr er wie nebenbei fort: »Alles andere wird Ihnen zweifellos früher oder später irgendwer erzählen.«

ZWEI

Matthias Röwer hatte mein »jederzeit« wörtlich genommen und mir drei Tage gegeben, die Dinge zu Hause zu regeln und aufs Fischland zu ziehen. Am ersten Tag fand ich schon einen Zwischenmieter, sodass die Wohnung nicht leer stehen und ich nicht umsonst Miete zahlen musste. Noch am selben Nachmittag packte ich zwei Koffer, eine Tasche und mein Laptop zusammen. Trotz der Hektik an diesem Tag hätte ich sicher Zeit gefunden, nun endlich mein Versäumnis nachzuholen und mich über Matthias Röwer zu informieren, besonders eingedenk der Tatsache, dass ich die nächsten sechs Monate nicht nur für ihn arbeiten, sondern sogar mit ihm unter seinem Dach leben würde. Ich tat es nicht. Ich lag nachts wach im Bett und überlegte, wieder aufzustehen und es doch zu tun. Ich tat es nicht. Ich wusste nicht, wieso, aber ich hatte ernsthafte Befürchtungen, dass mich etwas von dem, was ich erfuhr, zu einem Rückzieher bewegen könnte. Ich wollte aber keinen Rückzieher machen. Ich wollte aufs Fischland. Und ich brauchte das Geld. In dieser Reihenfolge.

Am nächsten Morgen stapelte ich mein Gepäck mühevoll in meinen Fiat und fuhr los. Ironischerweise blieb diesmal die Brücke dort, wo sie zu sein hatte, sodass die Fahrt bis Ahrenshoop entspannt blieb. Hierher waren die Maler Ende des 19. Jahrhunderts zuerst gekommen – Anna Gerresheim, dann Paul Müller-Kaempff, der sogar eine Malschule eröffnete. Später lockte es besonders viele Frauen auf die Halbinsel – unter ihnen Elisabeth von Eicken, Dora Koch-Stetter, Elisabeth Büchsel. Sie alle hatten sich vom Fischland inspirieren lassen und waren heute aus den vielen Galerien, Museen und von den Kunstauktionen nicht mehr wegzudenken. Damals jedoch wurden sie wenig schmeichelhaft als »Malweiber« tituliert.

Nicht dass ich das alles schon immer gewusst hätte. Ich hatte es gelesen, als ich mich über Carl Röwer schlaumachte. Schon aus dem, was ich dem Netz entnommen hatte, konnte man schließen, dass Matthias Röwers Großvater ein interessanter Mann gewesen sein musste, dessen Leidenschaft nicht nur dem Malen gegolten hatte. Wahrscheinlich hatte er, der echte Fischländer, die fremden Malweiber durchaus begrüßt. Wie auch generell die Tatsache, dass durch die Künstlerkolonie etwas aufs Fischland und den Darß kam, das weniger bodenständig, sondern feinsinnig und gänzlich neu war.

Matthias Röwers kurze, aber sehr prägnante Umschreibung seines Großvaters – bunt und lebendig – traf den Nagel auf den Kopf. Carl Röwer war im Dezember 1898 in eine Bauernfamilie hineingeboren worden. Seit Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Röwers das Land der Hufe III bestellt – und dann kam Carl und verspürte überhaupt keine Lust auf Landwirtschaft, sondern wollte malen. Es gab kein Geld für Unterricht oder gar ein Studium, aber es konnte immerhin ein bisschen was abgezweigt werden für Pinsel, Farbe und Leinwand, und wann immer er Zeit fand zwischen Acker, Kühen, Pferden und Schweinen malte er oder schlich sich zu den echten Künstlern, um ihnen über die Schulter zu sehen. Schließlich …

Hinter mir hupte jemand, und ich merkte, dass ich bereits in Gedanken mit dem Schreiben von Carls Biografie begonnen hatte, ohne einen einzigen Blick in Matthias Röwers Unterlagen geworfen zu haben. Was ich da eben vor mich hin schwadroniert hatte mit den Pferden und Kühen und Pinseln, war einzig meiner Phantasie entsprungen. Aber der Anfang stimmte – genauso wie das bunte Leben. Carl Röwer hatte neben seiner Kunst die Zeit gefunden, zweimal zu heiraten und dazwischen eine Affäre mit einer DEFA-Schauspielerin zu haben, seine Gemälde zeichneten sich oft durch kräftige, fröhliche Farben aus.

Ich ließ den eiligen Autofahrer überholen und erkannte den silbernen BMW wieder, der vor Matthias Röwers Haus geparkt hatte. Der attraktive Blonde winkte mir im Vorbeifahren zu. Offenbar hatte er mich ebenfalls wiedererkannt – oder wenigstens meine bescheidene Kutsche.

Ahrenshoop jedenfalls hatte sich seit den Zeiten von Paul Müller-Kaempff und seiner Malschule doch ziemlich verändert, aber sicher hätte ihm das neue Kunstmuseum gefallen – ein in der Sonne golden glänzender Bau, der mit seinen Holzstreben geschickt in einer Mischung aus Tradition und Moderne errichtet worden war.

Bei dem Gedanken an das Museum ging mir wiederholt die Frage durch den Kopf, wie ein nahezu blinder Mann eine Galerie führen konnte. Dunkel und hell auseinanderhalten zu können war besser, als vollkommen blind zu sein, aber im Alltag sicher beinah ebenso hinderlich. Ich hatte das Laptop auf seinem Schreibtisch stehen sehen – wie arbeitete er damit? Wie hatte er meine Unterlagen lesen können? Hatte sie ihm jemand vorgelesen? Der BMW-Fahrer möglicherweise?

Ich hatte nie zuvor Umgang mit sehbehinderten Menschen gehabt – ich wusste nur, dass Matthias Röwer eines ganz bestimmt nicht wollte: Mitleid oder Hilfsangebote. Dabei war er ebenso bestimmt auf Hilfe angewiesen. Jemand musste seine Augen ersetzen, wenn es darum ging, seine Galerien zu bestücken, sich um Ausstellungen zu kümmern und was immer sonst noch dafür notwendig war. Es zeugte von großer Willenskraft – vielleicht sogar Besessenheit? –, wenn er trotz allem weitermachte.

Wustrow empfing mich genauso sonnig, wie ich es verlassen hatte. Ich wollte mich nur kurz in meinem Zimmer einrichten und den Rest des heutigen Tages ebenso wie morgen dazu nutzen, das Dorf zu erkunden und am Strand entlangzuwandern. Ich freute mich aufs Fischland und auf die Arbeit über Carl Röwer, den ich jetzt schon mochte. Das war eine gute Voraussetzung, weil ich meine Figuren, mit denen ich mich im besten Fall beim Schreiben über Monate hinaus beschäftigte, mit ihnen lebte, liebte, hasste, weinte und lachte, mögen musste. Selbst die bösen. Sonst klappte das nicht mit der Verständigung zwischen uns. Bei Carl Röwer hatte ich keine Bedenken. Bei Matthias Röwer war ich mir weit weniger sicher. Aber über den musste ich ja nicht schreiben. Er musste nur mit mir zufrieden sein.

Diesmal öffnete er mir selbst die Tür, und einen Moment lang hatte ich das Gefühl, in einer Zeitschleife zu stecken. Wie zwei Tage zuvor trug er einen dunklen Anzug und eine Sonnenbrille, und Lächeln – und sei es auch nur ein kurzes Willkommenslächeln – war ihm noch immer fremd.

»Schön, dass Sie es so bald einrichten konnten«, sagte er zur Begrüßung. Immerhin. »Bringen Sie Ihre Sachen auf Ihr Zimmer, dann zeige ich Ihnen den Rest des Hauses.«

Hoffentlich gelang es mir, mich an diesen Befehlston zu gewöhnen, ohne mal eine ironische Bemerkung zu machen. Mein Zimmer entschädigte mich, und ich ahnte, dass es mich im Laufe der nächsten Monate noch für viel entschädigen musste. Und würde. Denn der Blick aus dem Fenster hinüber zum Bodden war unvergleichlich. Inzwischen hatte sich eine Wolkenfront gebildet, doch die Sonne schien noch, was einen beeindruckenden Kontrast von beinah schwarzem Himmel und glitzerndem, funkelndem Wasser ergab. Ich hätte ewig dastehen und schauen können. Nur mit Mühe wandte ich mich ab. Die Koffer würden warten – Matthias Röwer nicht. Ich stieg die steile Wendeltreppe wieder hinunter und dachte dabei daran, wie sicher er die Stufen hinauf- und hinuntergelaufen war, ohne dass ich die geringsten Anzeichen seiner Behinderung erkannt hatte.

Aus seinem Arbeitszimmer drang eine fremde monotone Stimme. Ich wollte nicht stören, sondern lieber warten, bis der Besucher ging. Immerhin bescherte mir das Zeit, endlich das Bild vom Bodden näher zu betrachten, das auch heute wieder meinen Blick auf sich zog. Wie ich mir gedacht hatte, trug es die Signatur CRöwer, wobei das C und das R übereinanderlagen. Es war wunderschön, dennoch würde ich mir jegliche Bemerkung dazu verkneifen. Zu deutlich erinnerte ich mich an Röwers sparsame und dadurch umso abweisender wirkende Reaktion auf meine Bewunderung für das Porträt der brünetten Frau im Obergeschoss.

Röwers Besucher hielt einen längeren Monolog, also beschloss ich, doch wenigstens den Kopf in sein Büro zu stecken, damit er sah, dass ich da war. Dann begriff ich, dass das nicht reichte – er würde mich nicht wahrnehmen können. Noch etwas, auf das ich mich einstellen musste.

Matthias Röwer saß allein in seinem Büro, die Sonnenbrille hatte er abgesetzt, sie lag neben seiner rechten Hand auf dem Schreibtisch. Die monotone Stimme kam aus seinem Laptop, und mir wurde klar, dass er mit einem Programm arbeitete, das ihm die Texte auf dem Bildschirm vorlas. Ohne dass ich etwas gesagt hatte, tippte Röwer auf das Touchpad und sah mich über das Display hinweg an, oder besser: ein Stück an mir vorbei. Er hatte wohl meine Schritte auf dem Parkett gehört.

»Mein Büro kennen Sie bereits.« Er deutete an die Wand gegenüber dem Rollregal. »Dort wird bis übermorgen ein Schreibtisch stehen, sodass wir gemeinsam arbeiten können, wann immer das nötig ist.« Ohne hinzusehen klappte er mit einer lässigen Handbewegung das Laptop zu und erhob sich. »Kommen Sie mit.«

Er trat in den Wohnbereich und wandte sich nach links zu dem Durchbruch, der in die Küche führte. Ein aufpolierter alter Holztisch mit sechs ebenso alten Stühlen stand da, ansonsten war die Küche in modernem Landhausstil eingerichtet, gemütlich, warm und hell. Draußen dagegen wurde es langsam dunkler. Durch das Fenster sah ich, wie die letzten Sonnenstrahlen blass wurden, dann ganz hinter der Wolkendecke verschwanden und das weite Feld jenseits des Weges düster zurückließen. Auch drinnen wirkte es mit einem Mal kühler. Matthias Röwer war stehen geblieben, es schien, als mustere er mich, aber natürlich war das nur meine Einbildung. Er schaute nicht mal in meine Richtung.

»Die Küche steht Ihnen jederzeit zur Verfügung mit allem, was drin ist – Kühlschrank, Speisekammer –, bedienen Sie sich. Wenn Sie etwas brauchen, schreiben Sie es auf.« Neben dem Kühlschrank hing ein altmodischer Einkaufsblock auf einer Rolle, ein Bleistift war an einem Bindfaden daran befestigt. »Magda Fehning wird es besorgen. Frau Fehning ist meine Haushälterin, sie kocht auch für mich. Für Sie ebenfalls, wenn Sie das möchten. Wenn Sie selbst kochen wollen, fragen Sie sie nach den Finessen des Herdes. Wie ich sie einschätze, wird sie Sie umbringen, wenn Sie was daran verstellen.«

Ich lächelte unwillkürlich, bis ich merkte, dass Matthias Röwer das ohne jegliche Ironie gesagt und vermutlich sogar so gemeint hatte. Ach du liebes bisschen. Wenn Magda Fehning genauso humorlos war wie er, war das hier ja ein ungeheuer heiteres Haus.

Röwer trat auf die Terrasse, zu der es hier ebenfalls einen Zugang gab, und führte mich weiter zum rückseitigen Garten. Inzwischen war nicht nur die Sonne weg, es wehte auch ein kräftiger Wind, und ich begann erstmals zu ahnen, dass der Bodden nicht immer so friedlich dalag, sondern wild sein konnte mit aufgewühlten Wellen. Der Segler auf dem Boot, das nah am Ufer vorbeizog, wirkte angespannt.

Röwer hob sein Gesicht Wind und Himmel entgegen. »Das wird ungemütlich«, murmelte er, als hätte er für einen Augenblick vergessen, dass ich da war. Er setzte sich wieder in Bewegung, sein Ziel war offensichtlich eine hölzerne Außentreppe, die über Eck zu einem kleinen Vorbau ins Obergeschoss führte. Oben wartete er vor einer schmalen Tür auf mich. Wir waren kaum drei Minuten draußen gewesen, aber ich freute mich schon auf drinnen. Der Wind wehte meine schulterlangen Haare wild durcheinander und vor meine Augen, sodass ich Mühe hatte, etwas zu sehen.

Matthias Röwer zog einen Schlüsselbund hervor und öffnete die Tür. »Nach Ihnen.«

Ich war ausgesprochen dankbar, gleich darauf in dem schmalen Vorbau und dann auf dem Flur des Obergeschosses zu stehen. Röwer trat hinter mir ein. Er hatte die Klinke noch in der Hand, da wurde die Tür von einer Böe erfasst, die Klinke aus seiner Hand gerissen, und die Tür knallte zu. Wahrscheinlich hatte er Vergleichbares schon unzählige Male erlebt, jedenfalls schloss er unbeeindruckt wieder ab.